Politik

Neue Russland-Sanktionen: Merkel auf Crash-Kurs mit Europa

Vier europäische Regierungschefs haben im Alleingang mit den USA entschieden, die Sanktionen gegen Russland zu verlängern. Die Aktion wird die Spaltung der EU beschleunigen, weil sich die anderen Staaten nicht mehr länger gängeln lassen. Merkel pokert hoch: Ein Veto reicht, um die Sanktionen zu Fall zu bringen. Sollte Merkel die transatlantischen Wünsche jedoch nicht mehr erfüllen können, wäre auch sie politisch am Ende.
23.11.2015 10:57
Lesezeit: 2 min

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Angela Merkel hat ein feines Gespür dafür, wie weit eine Regierung im Windschatten einer Großmacht gehen kann. Das hat sie in der DDR gelernt und steuert nun die BRD in die Richtung, in die die US-Neocons und die Nato es für richtig halten. Das war bei der ersten Russland-Sanktionen so, wo US-Vizepräsident Joe Biden ganz offen davon sprach, dass die US-Regierung die EU zwingen musste.

Zwar marschierten alle EU-Staaten mit, doch die Saat für einen Zwist war gelegt. Der Graben zwischen den EU-Staaten, die einen eigenen europäischen Kurs wollen, und jenen, die sich als transatlantischer Junior-Partner sehen, wurde in der Flüchtlingspolitik deutlich: Die Ost-Europäer hatten 40 Jahre als Vasallen der Sowjetunion überstanden und sind jetzt nicht mehr bereit, die Rechnung für die außenpolitischen Aktionen anderer zu bezahlen: Es ist allen klar, dass die Vertreibungen eine Folge der Destabilisierung im Nahen Osten sind, die maßgeblich von den USA und der Nato vorangetrieben wurde. Die Osteuropäer haben die Schotten dicht gemacht – und zwar ungewohnt konsequent: Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei verweigern Merkel den Gehorsam.

Damit ist die EU an einen möglicherweise historischen Wendepunkt gekommen: Sie könnte zerfallen, weil eine gemeinsame Politik nicht mehr möglich ist. Viele EU-Chefs und nationale Politiker haben das in den vergangenen Wochen ausdrücklich gesagt – zuletzt der slowenische Premier, der sich in der Flüchtlingspolitik überfahren und alleingelassen vorkommt. Aber auch EU-Präsident Donald Tusk fand drastische Worte.

Der angebliche „Beschluss“ der vier EU-Staaten Deutschland, Großbritannien, Italien und Frankreich, gemeinsam mit den USA die Russland-Sanktionen zu verlängern, wird in den Hauptstädten der kleineren Staaten für Aufruhr sorgen. Schon bei der ersten Sanktionswelle revoltierten viele Staaten: Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Österreich, Griechenland und Spanien sprachen sich immer wieder gegen eine Politik aus, bei der in Washington bestimmt wird und in Berlin die Befehle entgegengenommen werden, die dann in allen anderen Staaten ausgeführt werden sollen. Folker Hellmeyer von der Bremer Landesbank fragt in seinem Forex-Report vom Montag: „Haben die anderen EU-Länder kein Votum?“

Die Stimmung in der EU ist ohnehin schon zum Zerreißen gespannt: Die meisten Politiker haben das Vertrauen in Angela Merkel verloren. Hinter vorgehaltener Hand greift man sich an den Kopf, was Flüchtlingspolitik und Russland-Politik anlangt. Auch in Brüssel selbst ist die EU-Kommission ratlos: Sie ist in der Flüchtlingsfrage von Merkel kalt erwischt worden. Man ist empört, dass Merkel die Grenzen geöffnet hat, um dann die Arbeit der EU zuzuschieben – als könnte Brüssel in dieser Frage in den Nationalstaaten irgendetwas durchsetzen. Für die Russland-Frage gilt das gleiche: EU-Präsident Jean-Claude Juncker forderte ein engeres Heranrücken an Russland und war bei der Entscheidung von Antalya offenbar nicht dabei. Auch ob die Franzosen mitziehen, ist noch nicht klar: Frankreich kämpft an der Seite Russlands gegen den IS und hat seit jeher gegen die Sanktionen stärker opponiert als Merkel.

Angela Merkel hat ein sehr individuelles Verhältnis zu Recht, Gesetz und Macht: Sie betrachtet Gesetze so lange als verbindlich, solange sie ihren politischen Zielen dienen. In der Macht ist Merkel kompromisslos: Sie predigt zwar ein stärkeres Europa, hat durch ihre konkrete Politik die EU-Verantwortlichen aber in die größte Bredouille gebracht. Merkel ist im Fall der Russland-Sanktionen dennoch auf Crash-Kurs: Die EU-Verträge sehen das Veto-Recht eines jeden Mitgliedsstaats vor. Noch nie war die Wahrscheinlichkeit höher, dass einer der Staaten sein Veto einlegt. Der Grund ist nicht politischer, sondern existentieller Natur.

Eine von einer ferngesteuerten Bundesregierung beherrschte EU ist für viele Mitgliedsstaaten keine Option. Mit der Flüchtlingskrise und den Russland-Sanktionen wird den Mitgliedsstaaten konkreter Schaden zugefügt. Ihn müssen die nationalen Regierungen ausbaden. Das wollen sie nicht. Angela Merkel könnte scheitern, weil sie den Machtwillen anderer unterschätzt. In Deutschland kuschen alle vor ihr – die offiziell der Nato verpflichtete Bild-Zeitung nennt sie am Montag gar eine „Königin“. Doch in den anderen EU-Staaten fehlt nur noch wenig zur offenen Revolte. Die Verlängerung der Russland-Sanktionen aus heiterem Himmel könnten der berühmte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt „We don’t believe in Outsourcing“ – Klöber zeigt, wie Produktion in Deutschland wieder gelingt
18.04.2025

Sitzen, aber richtig: Der Büromöbelhersteller aus Owingen setzt auf Inhouse-Produktion, recycelte Materialien und digitale Innovation –...

DWN
Finanzen
Finanzen S&P 500 und die Illusion von sicheren, langfristigen Renditen
18.04.2025

Der amerikanische Aktienmarkt befindet sich in turbulenten Zeiten. Angesichts der unvorhersehbaren Handelspolitik von Präsident Donald...

DWN
Finanzen
Finanzen Wertvoller Schmuck im Fokus: So sichern Sie Ihre teuren Schmuckstücke ab
18.04.2025

Die Absicherung wertvoller Schmuckstücke wird immer wichtiger – Hausrat reicht oft nicht aus. Experten raten zu gezieltem...

DWN
Immobilien
Immobilien Wohnen in Dänemark: Wie Sie mit etwas Hygge ein Haus günstig kaufen können
18.04.2025

Nachdem es 2023 und 2024 in Deutschland zum ersten Mal seit 2013 spürbare Wertverluste auf dem Immobilienmarkt gab, kündigten Experten...

DWN
Finanzen
Finanzen USA: Staatsverschuldung erreicht 36,6 Billionen Dollar – wer sind die Gläubiger?
18.04.2025

Die Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten hat mit 36,6 Billionen Dollar einen neuen Höchststand erreicht und wächst in den letzten...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Online-Handel unter Druck: Steigende Erwartungen, weniger Spielraum für Fehler
18.04.2025

Der digitale Handel erlebt 2025 einen Wendepunkt: Kunden erwarten Perfektion, während lokale Anbieter ums Überleben im globalen...

DWN
Panorama
Panorama Nach Corona: Aufwärtstrend bei Amateurmusik - Deutsche musizieren wieder
18.04.2025

Den Flohwalzer klimpern, ein Liebeslied singen, auf der Gitarre schrammeln – Hobbymusik hat viele Facetten. Doch wie viele Menschen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Blick aus China: Die USA haben an Bedeutung verloren, Zölle beeinträchtigen die Lieferketten nicht
18.04.2025

Die Bedeutung des US-Marktes für China habe in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen und mache heute nur noch 14 Prozent der...