In wenigen Tagen, am 1. Januar 2016, tritt das umstrittene Assoziations-Abkommen zwischen der EU und der Ukraine in Kraft. Die krisengeschüttelte Ukraine wird von der Vereinbarung kaum profitieren.
Die Ukraine ist nicht nur im Gasbereich von der Zusammenarbeit mit Russland abhängig, sondern im gesamten Außenhandel. Die trotz der Auseinandersetzungen immer noch bestehenden Freihandelsabkommen werden als Reaktion auf den Vertrag mit der EU am 1. Januar von Moskau ausgesetzt und somit richten sich alle Hoffnungen auf die EU.
Hartnäckig hält sich bei allen Beitrittskandidaten und somit auch in der Ukraine die Legende, dass ein Beitritt zur EU mit einem Geldsegen aus Brüssel verbunden wäre. Die Spitzen der EU verstärken diesen Glauben mit wortreichen Erklärungen über die Vorteile einer Mitgliedschaft.
Das Füllhorn ist längst leer. Jetzt ist die Union ein Klub von verzweifelt mit Budgetdefiziten kämpfenden Staaten, die erfolglos zu sparen versuchen. Der jüngste Versuch, einem Land zu helfen, wie dies bei Griechenland der Fall war, ist kläglich gescheitert.
Die Ukraine wird somit ab kommender Woche die Realität der heutigen EU zu spüren bekommen: Der Staatshaushalt muss ausgeglichen sein – eine Forderung, die für ein ruiniertes Land wenig Sinn macht. Die Gesetze müssen den EU-Grundsätzen entsprechen – eine Vorgabe, die angesichts der Aushebelung des Rechtsstaats in Polen und in Ungarn frivol klingt. Vor allem in der Ukraine, wo in der totalen Not Viele Korruption als Überlebensstrategie erleben.
Die Ukraine braucht Investitionen, Investitionen und wieder Investitionen.
Die Spar-Politik der EU, gekoppelt mit der Regulierung beinahe aller Lebensbereiche, wirkt sogar in den stabilen und reichen Ländern seit Jahren als Investitionsbremse. Die zerrüttete Ukraine kann sich einen Beitritt zur EU nicht leisten und das nun in Kraft tretende Assoziationsabkommen ist zudem als eine Art „Beitritt light“ konzipiert. Die Ukraine würde einen Marshall-Plan brauchen, den kann oder will die EU nicht finanzieren.
Die russische Flotte in einem NATO-Staat?
Die Europäische Union betreibt auf dem Rücken der Ukraine eine russlandfeindliche Politik: Das heutige Russland wird mit der früheren Sowjetunion gleichgesetzt. Man baut jetzt alte Aggressionen mit Verspätung ab.
Der willkommene Anlass ist die Annexion der Halbinsel Krim durch Moskau. Dieser Schritt wird als Beweis für die Fortsetzung der sowjetischen Politik gewertet.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Die gravierenden demokratiepolitischen Defizite des aktuellen Russland sind unerträglich. Sie sind nur für die Beurteilung der Ukraine-Krise nicht relevant.
Übersehen werden einige Zusammenhänge. Die ukrainische Führung unter Präsident Petro Poroschenko drängt in die NATO und von Seiten der NATO wird das Liebeswerden zwar bislang nicht erhört, aber wohlwollend zur Kenntnis genommen.
Nur: Die russische Schwarzmeerflotte ist aufgrund eines Langfristvertrages mit der Ukraine an der Krim stationiert. Ein Beitritt der Ukraine zur NATO hätte bedeutet, dass ein wichtiger Teil der russischen Armee plötzlich innerhalb der NATO gewesen wäre. Keine russische Regierung, welcher Prägung auch immer, könnte eine derartige Entwicklung tatenlos akzeptieren.
Die Vorstellung in Brüssel, man würde mit Wirtschaftssanktionen, die vor wenigen Tagen verlängert wurden, Russland in dieser Frage beeindrucken, zeugt von mangelnden Geschichtskenntnissen: Seit Jahrhunderten besteht ein zentrales Element der russischen Außen- und Verteidigungspolitik in der Sicherung der westlichen Grenze durch ein Glacis aus befreundeten oder unterdrückten Staaten. Das Territorium der Ukraine ragt wie ein riesiger Vorbau in das von Moskau als russischer Raum verstandene Gebiet hinein.
Das Paradoxon: Der Westen bezeichnet die Annexion der Krim als Aggression. In Moskau wird die mögliche Aufnahme der Ukraine in die NATO als Vormarsch des Westens in Richtung Moskau gesehen. Das Kokettieren der ukrainischen Politik mit der westlichen Militärallianz stellt folglich das gesamte Land in Frage und bedeutet eine enorme Gefahr für den ohnehin brüchigen Weltfrieden.
Kurzum, die Ukraine ist kein europäischer Staat wie jeder andere, auch wenn die Westukraine ein Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie war. Für die Ukraine würde sich eine Politik der politischen und militärischen Neutralität empfehlen, abgesichert durch Wirtschaftsverträge mit dem Westen und mit Russland.
Die EU ist nicht mehr „nur“ eine Wirtschaftsgemeinschaft.
Akut wurde die Krise der Ukraine als der Moskau-freundliche Vorgänger von Präsident Poroschenko, Viktor Janukowitsch, die Verhandlungen über ein Assoziationsabkommen mit der EU auf Wunsch von Moskau abrupt beendete.
In der Folge brach Im Februar 2014 eine Revolution aus, die Janukowitsch aus dem Amt jagte und einer EU-freundlichen und Russland-kritischen Führung zur Macht verhalf.
In langen Verhandlungen hat die EU-Spitze mit Schalmeienklängen Moskau zu überzeugen versucht, dass die Ukraine von dem Abkommen nur wirtschaftlich profitieren werde und selbstverständlich auch mit Russland weiterhin im besten Einvernehmen leben könne. Dass der Vertrag nicht nur ein Freihandelsabkommen, sondern auch die Anbindung an die EU-Verteidigungspolitik enthält, sollte bagatellisiert werden.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die EU-Prominenz – wie übrigens auch die breite Öffentlichkeit - den seit 2009 geltenden Lissabonner Vertrag immer noch nicht gelesen hat.
Tatsächlich ist aber die EU seit dem Vertrag von Lissabon nicht nur eine Wirtschaftsunion, sondern nunmehr auch eine klar definierte Verteidigungsunion mit Beistandspflichten der einzelnen Mitglieder. Man bekennt sich zum Aufbau einer eigenen Armee und zur Möglichkeit, militärische Aktionen außerhalb der EU zu setzen. In dem Vertrag wird ausdrücklich auf die Zugehörigkeit einiger Mitgliedstaaten zur NATO Rücksicht genommen. Der Lissabonner Vertrag sieht zudem die Möglichkeit vor, dass eine Gruppe von Mitgliedern ein Bündnis schließt und in Abstimmung mit der EU oder auch nur nach Information der EU militärisch aktiv wird.
Man mag das Muskelspiel im Text des Lissabonner Vertrags angesichts der nicht gerade kraftvoll agierenden EU belächeln. EU-Mitglieder und Staaten, die beitreten wollen, müssen diese Weltmacht-Allüren berücksichtigen.
In Moskau wurde der Lissabonner Vertrag jedenfalls mit großer Aufmerksamkeit gelesen.
Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.