Die Effekte des Brexit auf die britische Wirtschaft beginnen sich abzuzeichnen. Der Brexit hat im Vereinigten Königreich nicht nur eine Umwälzung an der Führungsspitze von Regierung und Regierungspartei gebracht. In der Wirtschaft hat die fundamentale Unsicherheit über die Zukunft aller Evidenz nach dazu geführt, dass reihenweise neue Projekte – Investitionsprojekte von Unternehmen, Wohnungs- oder Autokäufe durch private Haushalte – oder Neueinstellungen aufgeschoben oder sogar gestrichen wurden. Die Wirtschaft dürfte damit eine rasche Vollbremsung vollziehen.
In der britischen Wirtschaftspolitik dagegen breitet sich präventiver Aktionismus aus. Theresa May, die neue Premierministerin der Konservativen befürwortet die Begrenzung der Immigration, d.h. den Verzicht auf die Personenfreizügigkeit. Sie hat sich den Austritt ohne Wenn und Aber in der innerparteilichen Kandidatenkür auf ihre Fahnen geschrieben. Der bisherige Schatzkanzler will die Körperschaftssteuer von 20 Prozent auf 15 Prozent senken, und damit das Vereinigte Königreich zu einem riesigen Fiskalparadies vor den Toren Kontinentaleuropas machen. Gleichzeitig soll Großbritannien weiterhin vom vollen Marktzutritt zur EU profitieren, und das Pfund noch massiv an Wert gegenüber dem Euro verlieren.
Vermutlich werden diese Verhandlungen mit der EU nicht einfach werden, wenn auf der einen Verhandlungsseite derartig naive Vorstellungen propagiert werden. Auch viele jetzt noch unerkannte Themen werden schwierige Verhandlungsgegenstände bilden. Die Unsicherheit dürfte somit lange anhalten und von Hin und Her, Fortschritten und scheinbar unüberbrückbaren Hindernissen begleitet sein.
Die neue Premierministerin hat darüber hinaus eine drastische Kehrtwende in der Innenpolitik angekündigt. Sie will einen fürsorglichen Konservativismus (‚compassionate conservatism’), stellt sich gegen alle Züge von Vetternwirtschaft (‚crony capitalism’) und will Chancengleichheit für alle schaffen. Bei der Ankündigung ihres Programmes drückte sich die neue Premierministerin in einer Weise zur englischen Klassengesellschaft aus, die noch vor Wochen, ja vor Tagen undenkbar gewesen wären für eine konservative Politikerin. Sie hätten gut in das Vokabular und die Analyse eines kritischen Soziologieprofessors gepasst. Mindestens dem Tonfall nach scheint der Brexit auch in der Innenpolitik zu einem Umbruch in der erstarrten britischen Oberschicht und generell in der politischen Elite zu führen. Ob das leere Worte sind, oder ob dem konkrete, tiefgreifende Maßnahmen folgen, bleibt abzuwarten.
Klar ist aufgrund der Aussagen der neuen Premierministerin die Abkehr von der Austeritätspolitik des bisherigen Schatzkanzlers Osborne. Infrastruktur-Investitionen sollen durch vom Finanzministerium gestützte Anleihen finanziert werden. Die Industrie soll durch aktive Industriepolitik unterstützt werden, was die Konservativen bisher immer abgelehnt hatten. In der Wirtschaft sollen einige Elemente der Mitbestimmung nach deutschem Vorbild eingeführt werden. Den fetten Katzen in Vorständen und Aufsichtsräten werden durch bindende Abstimmungen der Aktionärsvertreter die Pfründen besser kontrolliert. Damit soll top down eine Orientierung auf Leistung hin erfolgen. Das Ganze soll dazu dienen, das chronisch schwache Produktivitätswachstum Großbritanniens anzupacken und damit den Lebensstandard und die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu verbessern.
Insgesamt bildet der Brexit den Anlass für einen präzedenzlosen Umbruch im Vereinigten Königreich. Der Brexit ist ein Schlag für die Wirtschaft, ihre Struktur und Funktionsweise, wie sie bis zum 23. Juni galt. Von daher gibt es einen gewaltigen Anpassungsbedarf, um diese dauerhafte Schwächung zu kompensieren. Ein neues Wachstumsmodell muss her. Der Brexit eröffnet umgekehrt sowohl innen- wie außenpolitisch gewaltige Baustellen und gibt der neuen konservativen Regierung wohl mehr Gestaltungsmacht als irgendeiner Regierung seit mindestens den frühen 1980er Jahren. Ob sie diese Macht erfolgreich ausfüllt, ist eine Frage, welche nur die Zeit beantworten kann. Die Exekutive ist durch die Verhandlungen mit der EU gegenüber dem Parlament in einer enorm starken Position. Sie kann in sehr vielen Bereichen komplett neue Regeln definieren oder aushandeln, die auf Jahrzehnte gültig sein werden. Sie kann dadurch viele Änderungen in der Innenpolitik als folgerichtig oder sogar als unausweichlich präsentieren und so besser durchsetzen.
Doch das Unterfangen ist nicht nur ambitiös, sondern auch äußerst komplex. Denn allein schon in den Verhandlungen mit der EU steckt der Teufel oft im Detail, und dies in sehr vielen Gebieten. Viele Fragestellungen in der Innen- und Außenpolitik setzen eine Expertise im Detail voraus, was gerade unter hohem Zeitdruck den Einfluss von Experten und Vertretern etablierter Interessengruppen begünstigt. Eine kohärente, die Wechselwirkungen berücksichtigende Gesamtpolitik zu entwickeln, ist deshalb sehr schwierig. Es ist eine Sache, im gesicherten Rahmen fest etablierter Regeln, Gesetze, Verordnungen und traditioneller Verhaltensweisen zu operieren. Das ist die Aufgabe einer Regierung im Normalzustand, die üblicherweise nur in bestimmten Schwerpunktgebieten Anpassungen vornehmen wird. Es erfordert ganz andere Qualität, in sehr vielen Bereichen gleichzeitig neue Regeln, Gesetze und Verordnungen neu festzulegen und ihre Interaktion und Wechselwirkung nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die längerfristige Zukunft zu verstehen und korrekt zu antizipieren. Dies kann selbst Brüche in bestimmten bisher klaglos funktionierenden Bereichen voraussetzen, und wird deshalb auf energischen Widerstand stoßen. Selbst bei viel gutem Willen und ehrlich gemeinter Absicht dürfte die Aufgabe, den ‚crony capitalism’ zu überwinden, gerade nicht einfach sein. Es dürfte dies die Berufung spezieller Berater und neuer Organisationsformen in der Regierung unvermeidlich und wünschbar machen. Ganz abgesehen müsste auch die Regierung nach anderen Kriterien – Fachkompetenz statt allein politischer Vernetzung – als bisher zusammengesetzt sein.
Die fundamentale Unsicherheit über die zukünftige interne und externe Politik wird jedenfalls Unternehmen und Haushalte zunächst und für einige Zeit zur Zurückhaltung und zum Abwarten bei Investitionen, Anstellungen und dauerhaftem Konsum veranlassen. Allein aufgrund von Ankündigungen und Absichtserklärungen werden wenige Akteure sich bei großen Entscheidungen irreversibel festlegen wollen.
Für das Vereinigte Königreich ist der konjunkturelle Ausblick negativ, eine Rezession dürfte im Anzug sein. Doch was bedeutet der Austritt für den Rest der Welt? Für diesen Rest ist der Einfluss Großbritanniens zunächst einmal gering, wenn isoliert auf die Indikatoren wie BIP, Importe und Exporte und andere Makrovariablen geachtet wird. Großbritannien ist nicht mehr so bedeutend wie in der Vergangenheit, repräsentiert noch rund 2.5 Prozent des Welt BIP. Von daher dürfte die Wirkung sehr klein sein. Also alles halb so schlimm?
Einen signifikanten ökonomischen Einfluss gibt es nur wegen dreier Faktoren, die sich kombinieren können und deswegen durchaus mehr Sprengkraft besitzen:
Während Großbritannien für die Weltwirtschaft nicht mehr so bedeutend ist wie in der Vergangenheit, ist das Land doch bedeutsam für die kontinentaleuropäischen Handelspartner. Für Kontinentaleuropa ist Großbritannien der zweit- oder drittwichtigste Exportmarkt mit einem Anteil von rund 17 Prozent. Direkt wird der Brexit die Exporte und vor allem die Exporterlöse der kontinentaleuropäischen Länder reduzieren. Der Konjunkturrückschlag in Großbritannien und die Aufwertung des Euro gegenüber dem Pfund werden sich dabei kombinieren. Deutsche Auto- und Maschinenbauer, europäische Tourismusländer wie Spanien, Frankreich, Portugal, Griechenland und andere Unternehmen breit verteilt über verschiedene Branchen dürften Einbußen erleiden. Die deutschen Hersteller von Premium-Automobilen dürften auch die erstarkende Konkurrenz von Jaguar/Land Rover auf dem europäischen Binnenmarkt und Drittmärkten zu spüren bekommen – zunächst vor allem in Form eines erhöhten Margendrucks, um Marktanteile zu behalten. Analog wird es anderen Branchen ergehen, in denen das Vereinigte Königreich über eine intakte Wettbewerbsfähigkeit verfügt. Das ist ein in der Öffentlichkeit diskutierter Effekt, der nicht zu unterschätzen ist. Nichtsdestoweniger ist es der schwächste direkte Effekt des Brexit.
Viel wichtiger sind die beiden anderen Wirkungen, vor allem weil sie sich hochsteigern und verstärken können: Politisch akzentuiert und akzeleriert der Brexit die Krise der EU und vor allem der Eurozone und gefährdet das gesamte Euro-Projekt. In zahlreichen anderen älteren Mitgliedsländern, auch den großen wie Italien, Frankreich, Spanien, gibt es bedeutende Fliehkräfte weg vom Euro und von Europa. Und es gibt, anders als im Vereinigten Königreich in Bezug auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, gute Gründe dafür. Die Eurozone als Währungsunion ist bisher für zahlreiche Gründungsländer ein wirtschaftliches, soziales und gesellschaftspolitisches Desaster. Dies gilt nicht nur im Süden und in der Peripherie der Eurozone, sondern auch für Frankreich, Finnland, und bald sichtbar auch für Deutschland. Der Euro, seine Architektur und die gesamte damit zusammenhängende Makropolitik in der Eurozone sind der Kern des Problems. Das ist der zweitwichtigste Effekt.
Die Reaktion der Finanzmärkte vertieft die schwelende Krise des Banken- und Finanzsystems in der Eurozone. Es gibt sehr bedeutende Währungsverschiebungen, und damit zusammenhängend einen Zinsfall über die ganze Kurve in allen wichtigen Währungen inklusive dem Euro. Um es ganz klar zu machen: Der Brexit ist nicht die Ursache der sich anbahnenden Banken- und Finanzkrise in der Eurozone, ganz im Gegenteil. Aber er wirkt aus verschiedenen Gründen wie ein Akzelerator. Das ist der wichtigste Effekt.
Dieser Beschleunigungseffekt läuft vor allem über drei Kanäle:
a) Der Brexit hat mit der Bank of England eine weitere große Zentralbank der Welt in Richtung Nullzinsen – und auf längere Sicht vielleicht sogar in Richtung Negativzinsen geschickt. Notenbankchef Carney hat jedenfalls als Reaktion auf den Brexit eine Zinssenkung in Aussicht gestellt. Bisher lag der Basissatz der Bank of England bei 0.5 Prozent. Der Zinsschritt könnte schon am Donnerstag dieser Woche oder im August erfolgen. Offen ist, ob die Bank of England den Satz um einen Viertel oder um gleich um einen halben Prozentpunkt senkt. Für die längere Frist ist bedeutsam, dass der Chefökonom der Bank, Andrew Haldane, schon in der Vergangenheit mehrfach für Negativzinsen plädiert hat. Kein Wunder, sind die Renditen am Gilt-Markt seit dem Referendum eingebrochen. Sie sind für zehnjährige Gilts von 1.50 Prozent, ohnehin einem historischen Tiefstand, auf noch die Hälfte, rund 0.75 Prozent zurückgegangen. Die Renditen 30-jähriger Gilts sind ungefähr parallel auf rund 1.60 Prozent gefallen.
Der Zusammenbruch der Renditen im Vereinigten Königreich ist sehr bedeutsam. Das Land hat einen riesigen Pensionskassen- und einen riesigen Lebensversicherungs-Sektor. Auf dem Kontinent haben nur kleinere Länder wie die Niederlande oder die Schweiz ein Pensionskassen- und Lebensversicherungssystem, welches im Verhältnis zur Bevölkerung oder zum Bruttoinlandprodukt annähernd gleiche Proportionen erreicht. Die folgenden Grafiken illustrieren die überragende Größe und Bedeutung der Vorsorgewerke Großbritanniens im internationalen Vergleich. Die einzelnen Haushalte haben ein Finanzvermögen relativ zum verfügbaren Einkommen, das beinahe so groß wie in den USA ist. Das Finanzvermögen ist im internationalen Vergleich einzigartig, zu 60 Prozent, auf Pensionsansprüche und (Lebens-)Versicherungen konzentriert. Im Ergebnis sind die Haushalte unvergleichlich mit Ansprüchen an Pensionen und Lebensversicherungen versorgt, beinahe drei Mal so hoch wie in der Eurozone.
Die Konzentration des Finanzvermögens auf Vorsorgewerke ist deshalb so bedeutsam, weil diese speziell reguliert sind. Ohne auf Details einzugehen: Der Zinsfall setzt diese Institutionen von der Passivseite her unter Druck. Der Zinsfall am langen Ende der Kurve vergrößert die Verbindlichkeiten. Gleichzeitig werden auf der Aktivseite die zukünftigen Anlageerträge beschnitten. So werden zusätzlich riesige Kapitalmassen in einen Anlagenotstand gebracht. Die Vorsorgewerke haben feste Verpflichtungen und können diese auf der Anlageseite nicht mehr abdecken beziehungsweise replizieren. Deshalb jetzt die Jagd nach Renditen – und zwar global.
b) Die Aufregung um den Brexit hat zudem China geholfen, nach dem 23. Juni ohne großes Aufsehen eine weitere deutliche Abwertung seiner Währung vorzunehmen. Der von der chinesischen Zentralbank anvisierte handelsgewichtete Wechselkursindex hat seit dem Datum seiner Veröffentlichung Anfang Dezember 2015 rund 8 Prozent verloren – der Yuan gegenüber dem US-Dollar rund 5 Prozent. Der volle Umfang der Yuan-Abwertung kommt dabei noch nicht einmal zur Geltung, weil die Währungen wichtiger Handelspartner Chinas wie Korea oder Taiwan im Index gar nicht enthalten sind. Diese Abwertung hat sich seit dem 23. Juni stark beschleunigt. Die Währungsabwertung kontrastiert grell mit den wiederholten Aussagen und Zusagen der chinesischen Zentralbank und des Premiers Li Keqiang zu Jahresbeginn, dass China gemessen am handelsgewichteten Wechselkurs Stabilität in einer Bandbreite anvisiere. China hat ein Regime mit weitgehenden Kapitalkontrollen, es kann den Wechselkurs essentiell selber dirigieren.
China leitet seine Überkapazitäten auf den Weltmarkt um. Die chinesische Regierung gibt Exportsubventionen, Steuervergünstigungen und billige Staatskredite für Exportfirmen. Chinesische Firmen können dadurch ihre Produkte zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt werfen. China exportiert so seine interne Deflation, verursacht durch gigantische Überkapazitäten in zahlreichen Schlüsselindustrien. Dies bei rekordhohen und steil anwachsenden Handelsbilanzüberschüssen. Zusätzlich auferlegt China, noch verstärkt durch eine bewusst und absichtlich herbeigeführte Währungsabwertung, dem Rest der Welt einen immensen Deflationsschock.
Besonders unmittelbar und hart betroffen ist Japan. Der Yen hat ja schon gegenüber dem Dollar besonders stark aufgewertet. Seit letztem Sommer hat der Yen dadurch gegenüber dem Yuan um einen Drittel aufgewertet. Japans Wirtschaft steht vor einem heftigen Einbruch, der das Scheitern von ‚Abenomics’ verdeutlichen wird. Abenomics ist eine Mischung von Nullzinsen und extremem Umfang von Käufen von Staatsanleihen, kombiniert mit Ausgabenprogrammen und einem Kurs zur Fiskalkonsolidierung über geplante Mehrwertsteuer-Erhöhungen. Das ist - bis auf die Ausgabenprogramme – ein ähnliches Rezept wie die Eurozone operiert hat, mit drastisch erhöhten Mehrwert- und anderen indirekten Steuern einerseits sowie Draghis immer wilder um sich feuernder Anleihen-Bazooka andererseits.
Abenomics sollte nach über zwei Jahrzehnten den latent deflationären Tendenzen in Japan ein Ende bereiten. Nun steht Japan vermutlich vor dem größten Deflationsschub seiner jüngeren Geschichte. Angereichert ist die Deflation durch Jahrzehnte der Deregulierung des Arbeitsmarktes mit Zeit- und Leiharbeit, existentieller Unsicherheit der rasch anwachsenden Zahl derjenigen, die keinen festen Job haben, und einem entsprechenden Lohndruck. Das Realeinkommen und erst recht de rreale Konsum sind seit Jahren deutlich rückläufig. Trotz einer Erholung der Erdölpreise in den letzten Monaten fallen die Importpreise um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Sie werden nach und nach in die Inlandpreise übergreifen. Die Renditen von Staatsanleihen in Japan sind bis ans ganz lange Ende negativ geworden – dies bei hohen laufenden Budgetdefiziten und einer Staatsverschuldung, die außer Kontrolle ist. Eine rasch alternde Bevölkerung mit einem dramatischen Beschäftigungsrückgang in den nächsten Jahrzehnten vervollständigt das wenig erbauliche Bild. Ein Vorbild oder eine Blaupause für die Eurozone? Auch Japan hat ein bedeutendes Pensionskassen- und vor allem ein sehr großes Lebensversicherungssystem. Der Fall der Zinsen stellt diese vor Anlageprobleme. Auch von dort dürfte eine erhöhte Nachfrage nach Renditen in Fremdwährungen resultieren.
c) Die globale Umschichtung finanziert eine Blase im amerikanischen Obligationenmarkt. Aufgrund der Pfund- und Yuan-Schwäche und der damit verbundenen Dollarstärke sowie aufgrund des globalen Falls der Renditen in den Hauptwährungen sind auch die US-Zinsen am langen Ende auf langjährige Tiefstände gefallen. Die Renditen 10-jähriger Treasury Notes rentieren jetzt weniger als 1.35 Prozent, diejenigen 30-jähriger Treasury Bonds noch 2.10 Prozent. Das ist für die 10-jährigen Renditen ein Allzeit-Tief. Die 30-jährigen Renditen sind nicht mehr weit vom Allzeit-Tief von 1946 von 2.03 Prozent entfernt. Der massive Renditerückgang ist einerseits einem scharfen Rückgang der Inflationserwartungen und der Erwartungen über die zukünftige Geldpolitik zuzuschreiben. Die Märkte antizipieren, dass angesichts des sich anbahnenden globalen Deflationsschocks die Fed und die anderen großen Notenbanken der Welt – EZB, BoE, BoJ – zeitlich viel länger an der Null- bzw. Negativzinspolitik festhalten werden. Hinzu kommt andererseits, dass der amerikanische Obligationenmarkt der einzige verbliebene Markt mit einigermaßen attraktiven Renditen und einer Markttiefe ist. Institutionelle Anleger mit Referenzwährungen wie dem Euro, dem Pfund, dem Yen und erst recht dem Schweizer Franken haben gar keine andere Wahl, als in den Dollar zu investieren. In der heimischen Währung werden sie noch dafür bestraft, dass sie Geld anlegen. Dabei haben sie Verpflichtungen und teilweise eine Bilanzierung, welche ihre Verbindlichkeiten mit den Renditen am langen Ende der Kurve ihrer Währung bewertet. Im Dollar haben sie einen hochliquiden und breiten Obligationenmarkt, nicht nur für Staatsanleihen wie in Europa, sondern auch für Unternehmensanleihen.
Der beschleunigte Fall der US-Renditen ist dabei von großer Bedeutung, weil der US-Obligationenmarkt weltweit der Referenzmarkt ist. Es ist praktisch der letzte verbliebene, mit vertretbaren Risiken investierbare Markt. Von daher dürfte eine Dollarstärke unter den Währungen, gekoppelt mit sinkenden Renditen, Kurven- und Risiko-Spreads als Ausblick für den Dollar gelten. Das Gleiche dürfte auch im Euro stattfinden. Jedenfalls sind auch die Renditen im Euro weiter getaucht und dürften weiter fallen. Bundesanleihen Deutschlands mit 30-jähriger Laufzeit rentieren noch ganze 0.35 Prozent. Anlagen in amerikanischen Anleihen dürften für ausländische Investoren von Gewinnen auf dem Dollar begleitet sein. Selbst bei einem Absichern des Dollarrisikos auf Quartale oder sogar Jahre hinaus resultiert noch ein zusätzlicher Zinsdifferenzgewinn.
Die Flucht in den Dollar, die eine institutionelle Investorenflucht in den letzten verbliebenen attraktiven Obligationenmarkt darstellt, wird sich unweigerlich in fallenden Rohwarenpreisen niederschlagen. Die Rohwarenpreise verzeichneten nach dem Tief von Januar/Februar 2016 zunächst eine scharfe Erholung. Dahinter steckten verschiedene Faktoren wie Dollarschwäche, Hoffnungen auf eine verbesserte Relation zwischen Angebot und Nachfrage sowie kreditfinanzierte Spekulationen in China. Die Preise vieler Rohstoffe sind wieder rasch zurückgefallen, weil die Überkapazitäten weiterhin auf die Preise drücken. Einige wie der Weizen haben sogar neue Tiefstände erreicht. Ausnahmen bildeten Energie und Edelmetalle.
Die Erdölpreise haben viel länger gehalten, als dies nach dem Scheitern der Produktionsbegrenzung der OPEC erwartet werden konnte. Dafür sind teilweise Spezialfaktoren verantwortlich: Produktionsausfälle in Nigeria und Kanada sowie ein viel weitergehender Aufbau strategischer Lager in China. Das Überschießen der Preise hat nun Folgen: In den USA wurden neue Bohrlöcher wieder verstärkt eröffnet und bestehende, aber nicht mehr ausgebeutete, wieder in Betrieb genommen. Die Wiederaufnahme der Produktion in den USA, in Libyen und Nigeria und die Wachstumsverlangsamung der Weltwirtschaft, vor allem in den Schwellenländern, verlängern das Ungleichgewicht. Der Dollaranstieg und die saisonal schwächere Nachfrage durch das nahende Ende der „driving season“ in den USA drücken jetzt wieder auf die Preise und könnten einen heftigen Rückgang begünstigen.
Die Schwellenländer als Anlagemärkte sind demnach von gegensätzlichen Faktoren getrieben: Tiefere Dollarzinsen begünstigen sie, ein stärkerer Dollar und Rohwarenpreise unter Druck lasten auf ihnen. Deshalb dürfte die Selektion sehr wichtig sein.
Zurück zu China: Es ist durchaus möglich, dass die chinesische Währungspolitik eine Gewichtsverschiebung in der Führung Chinas widerspiegelt, etwa einen Machtverlust von Premier Li. Von außen ist dies kaum zu beurteilen. Wie ernst es der chinesischen Führung um Präsident Xi Jinping ist, verdeutlichen zwei weitere Fakten:
Apple, das höchstkapitalisierte Unternehmen der Welt, stößt in China, seinem inzwischen wichtigsten Markt, zusehends auf Schwierigkeiten. Wiederholt ist Apple ultimativ aufgefordert worden, den Quellcode seines Betriebssystems zu Kontrollzwecken chinesischen Behörden zu übergeben. Apple produziert via Auftragsfertiger Foxconn das iPhone in China, beschäftigt dort direkt und indirekt über eine Million Personen in der Fertigung und ist einer der größten Arbeitgeber in China. Wenn eine Tech-Firma den Quellcode des Betriebssystems ausliefert, begeht sie wirtschaftlichen Selbstmord. Chinesische Techfirmen sind Spitzenklasse in der Spionage und im raschen Kopieren. China hat auf Apples mehrfache Weigerung mit Schikanen reagiert. So darf Apple bestimmte iPhone-Modelle nicht mehr in China verkaufen, angeblich weil das Design, eine Kernstärke von Apple, von einem chinesischen Produkt abgekupfert sei. Deshalb der Einbruch der Verkaufszahlen bei Apple im letzten Quartal. Dies ist nichts anderes als die versteckte Form eines Handelskriegs. Dass die Maßnahme das größte Unternehmen der Welt betrifft, das zudem in China noch einer der bedeutendsten Arbeitgeber ist, zeigt, wie weit China inzwischen zu gehen bereit ist.
Eine zweite Maßnahme betrifft die verstärkte Unterstellung staatlicher Betriebe unter die kommunistische Parteiführung. Der Fahrzeughersteller FAW, der mit VW/Audi, GM oder Toyota Joint-ventures hat, und andere wichtige staatliche Unternehmen haben ihre Statuten/Geschäftsreglemente dahingehend geändert, dass die Managements Geschäftsentscheidungen nur nach Konsultation mit den Zellen der kommunistischen Partei im Unternehmen treffen dürfen. Dies geht aus den Mitteilungen an der Börse von Shenzhen hervor. Ausländische Hersteller dürfen etwa im Autobereich nur Aktivitäten entfalten, wenn sie ein Joint Venture mit chinesischen Unternehmen eingehen. Durch die Statutenänderung sind die staatlichen Unternehmen, gerade auch in diesen Joint Ventures, noch enger unter der Führung von Parteifunktionären. Diese können und sollen sich auch in das Mikromanagement teilweise auf täglicher Basis einmischen können. Mit WTO-Bedingungen, Freihandel oder gleichen Spießen im Außenhandel hat dies alles nichts mehr zu tun, sehr wohl aber mit Protektionismus und Kontrolle der Kapitalströme. Was sich China leistet, ist ein Handelskrieg mit zunehmenden Nadelstichen, um die Antwort anderer Länder zu testen.
Die Negativzinspolitik der EZB und die Verflachung der Zinskurve im Euro und in anderen Währungen treffen alle finanziellen Institutionen der Eurozone ins Mark – Banken, Versicherungen, vor allem Lebensversicherungen, Pensionskassen. Die Verflachung der Zinskurve in allen Währungen gleichzeitig, vor allem auch im Dollar, trifft die von Ertragsschwäche, von geringer Kapitalausstattung bei hohen Risikopositionen und faulen Krediten betroffenen europäischen Großbanken – im Vereinigten Königreich wie in der Eurozone. Banken nehmen in vielen Ländern Geld am kurzen Ende auf und leihen am langen Ende. Die Verflachung der Zinskurve ist fatal für sie. Ins Kreuzfeuer sind, ausgelöst durch einen gewollt oder ungewollt bekannt gewordenen Brief der EZB, besonders die italienischen Banken geraten. Sie leiden unter einem Berg an faulen Krediten, doch das ist seit längerem bekannt. Die dramatische Zinssituation betrifft jedoch alle Banken, nicht nur diejenigen in Italien. Die italienischen Banken, bei ganz erheblichen Differenzen zwischen den einzelnen Instituten, erscheinen vielleicht aktuell als das schwächste Glied in der Kette. Doch latente Großrisiken gibt es auch andernorts bei weltweit tätigen Großbanken, etwa in Deutschland oder in der Schweiz.
Die Verflachung der Zinskurve im Dollar und im Pfund trifft die großen, in den Hauptmärkten USA, Eurozone, Großbritannien tätigen weltweiten Lebensversicherer. Sie haben im Garantiegeschäft fixe Verpflichtungen zu viel höheren Garantiesätzen ausstehend, die sie bei so niedrigen Marktsätzen nicht erreichen können. Nicht zuletzt deshalb sind die Kurse von Axa und Allianz seit dem 23. Juni so schwer eingebrochen.
Der massive Einbruch der Renditen und die Verflachung der Zinskurven auf globaler Ebene stellen so etwas wie einen Dammbruch dar. Dieser Renditerückschlag auf historisch präzedenzlosen Niveaus zwingt institutionelle Anleger in allen Ländern mit Vorsorgesystemen, die auf Kapitaldeckung beruhen, zu enormen Umschichtungen und Anpassungen der Portfolios. Das ist eine Situation, die aus mangelnder Erfahrung her gar nicht so einfach einzuschätzen ist. Dabei dürfte zwischen den angelsächsischen Ländern und Japan bzw. Kontinentaleuropa zu unterscheiden sein - sowie die Effekte auf die verschiedenen Vermögensklassen. Auch die zeitliche Dauer könnte recht verschieden sein.
Bei den Obligationen wird sich der Trend zu tieferen Renditen fortsetzen. Die Anleger werden teilweise durch die Regulation gezwungen, in längere Laufzeiten umzuschichten und erhöhte Kreditrisiken auf sich nehmen, mit dem Effekt der Kontraktion der Zinskurven- und Kreditrisikoprämien.
Die Absenkung der Zinskurven und für den britischen Markt die massive Pfundabwertung haben umgekehrt den Aktienmärkten in den USA und im Vereinigten Königreich Schwung verliehen. Allem Anschein nach sind mehrere Gründe dafür verantwortlich:
- Die großen Zentralbanken der Welt hatten sich monatelang auf den zwar unwahrscheinlichen Fall eines Brexit vorbereitet. Nach allen Informationen von Marktteilnehmern sind sie selber im großen Stil als Käufer aufgetreten und haben die explosive Aufwärtsbewegung im Aktienmarkt zumindest ausgelöst.
- Durch den scharfen Zinsfall über die ganze Kurve geraten institutionelle Anleger wie Pensionskassen in einen existentiellen Anlagenotstand. Sie investieren deshalb in alles, was noch zusätzliche Renditen abwirft, etwa in Dividendenpapiere mit als gesichert erscheinenden Dividenden. Für den S&P 500 kann eine Dividendenrendite von 2 Prozent errechnet werden, für den FTSE-100 sogar von 4 Prozent. Das sind, vor allem für den britischen Markt, happige Differenzen zu den Obligationenrenditen. Die Risiken werden aufgrund der verzweifelten Lage dieser institutionellen Anleger oft eher vernachlässigt. Meiden die Anleger die allzu zyklischen und konzentrieren sich auf die defensiveren Titelgruppen, so lassen sich höhere Anlageerträge generieren und die Ausfälle auf dem Obligationen-Teil des gesamten Anlagevermögens mindestens teilweise und kurzfristig kompensieren. Wichtig ist auch, dass die großen institutionellen Anleger in den angelsächsischen Ländern überhaupt die Fähigkeit zur verstärkten Investition in Aktien haben.
- In den USA gibt es zudem einen Automatismus, der tiefere lange Zinsen, vor allem bei den 30-jährigen, effektiv in verbesserte Konjunkturaussichten übersetzt. Fallen die langen Zinsen genügend, so können die Haushalte Hypotheken refinanzieren und ihre Zinskosten reduzieren oder Eigenkapital extrahieren. Die tiefen langen Sätze erlauben mit anderen Worten, Wohnungsbau und diskretionären Konsum zu stimulieren. Die USA dürften unter den OECD-Ländern insofern hervorstechen, als die tiefen Zinsen effektiv Wachstumswirkungen entfalten können.
- Im FTSE kommen dafür noch massive Währungseffekte hinzu. Viele der im Index schwer gewichteten Aktien haben einen großen Teil ihrer Einnahmen im Dollar, sodass sie von der Pfundabwertung direkt profitieren.
Als vorlaufender Konjunkturindikatoren sind durch solche Verzerrungen beeinflusste Gesamtmarkt-Indizes mit Vorsicht zu interpretieren. In Großbritannien wird es trotz höherer Börsenkurse und tieferer Zinsen vermutlich eine Rezession geben. Mehr Aufschluss liefern die Interna des Aktienmarktes. Die britischen Bankaktien sind schwer in die Tiefe gerauscht – nach einer Baisse von bereits 40 Prozent gegenüber den Höchstkursen von 2013 bis zum Brexit. Der Fall des Bankenindex wäre noch viel stärker, wenn der Branchenriese HSBC mit seinem gewaltigen Auslandgeschäft ausgeklammert würde. Neben den vor allem im Inlandgeschäft tätigen Großbanken sind auch Immobilien-Entwickler und Baufirmen sowie Detailhändler getaucht. Das sind frühzyklische Gruppen, eine Kombination, die zusammen mit scharf fallenden Zinsen und einer drastischen Verflachung der Zinskurve üblicherweise im Markt eine Rezession vorwegnimmt.
Eine analoge Konstellation gibt es in der Eurozone. Drastische Verluste von Bankaktien, Versicherern, und von Autoherstellern indizieren bei gleichzeitigem Fall der Zinsen und extremer Verflachung der Zinskurve unmissverständlich eine scharfe Konjunkturverlangsamung für die Zukunft. Finanzwerte und Autobauer sind typischerweise frühzyklische Sektoren. In der Eurozone sind die Bankenprobleme im Unterschied zum Vereinigten Königreich und erst recht zu den USA schon weit fortgeschritten und gut sichtbar, was typischerweise von einer Kreditverlangsamung oder, im Extremfall, von einem plötzlichen Kreditstopp gefolgt sein wird. Dazu braucht es nicht mehr viel. Die Bankenkrise in Italien oder besser ein verfehlter Lösungsansatz dafür könnten leicht den Auslöser dafür bilden. Die Ursachen sind einfach: Die Negativzinspolitik der EZB verbunden mit den Staatsanleihenkäufen stimulieren die Konjunktur nicht oder nicht genügend. Sie schwächen umgekehrt die Ertragskraft sowie die Bilanzen aller Finanzinstitutionen in drastischer Weise. Hinzu kommen die jahrelange Verschleppung in Bezug auf die Bilanzsanierung sowie eine in der Eurozone ohnehin gravierend unterdotierte Eigenkapitaldecke von Banken und von dedizierten Lebensversicherungs-Gesellschaften. Der Aktienmarkt offeriert zwar ebenfalls höhere Dividendenrenditen, aber eben nicht gesicherte. Und die zyklischen Sektoren, darunter auch Energie und Chemie haben ein hohes Gewicht im Index. Und das Wichtigste zuletzt: In Kontinentaleuropa haben die Lebensversicherer als größte institutionelle Anleger keine Fähigkeit und keinen Anreiz, verstärkt in Aktien zu investieren.
Anders ist die Ausgangslage in den Vereinigten Staaten. Dort ist das Wirtschaftswachstum auch nicht berauschend: Zwar mit versteckten Warnindikatoren wie schwacher Aktivität in der Industrie und deutlich abgeschwächtem Beschäftigungswachstum in der ersten Jahreshälfte 2016, die konkreten Anzeichen einer kommenden Rezession fehlen aber noch. Die Finanzmarktkonditionen – Zinsen, Kredit-Spreads, Aktienmarkt – haben sich wieder verbessert. Die Banken sind ohnehin ganz anders kapitalisiert als in Europa. Die Konjunkturaussichten im Wohnungsbau und für den Konsum hellen sich durch den Fall der langen Zinsen auf. Dies mag den Aufschwung nochmals verlängern. Der Aktienmarkt ist zwar heillos überbewertet mit einem trailing P/E von über 24 zu den GAAP-Gewinnen pro Aktie, die Gewinne sind zudem seit mehreren Quartalen stark rückläufig – der Markt kann aber ohne Weiteres noch länger überbewertet bleiben oder noch mehr überbewerten. Natürlich sind die Firmenkonkurse angestiegen. Solange aber der Dollaranstieg nicht explosiv wird, etwa im Fall einer eskalierenden Finanzkrise in Europa, ist auch nicht mit einem scharfen Fall zu rechnen. Sicher ist Selektivität in der Sektorenauswahl angesagt.
Der Brexit per se hat negative konjunkturelle Wirkungen auf Europa. Dazu kommt die von der Zentralbank Chinas in aller Offenheit zugelassene erhebliche Yuan-Abwertung, welche einen zunehmenden Deflationsschock auf die Weltwirtschaft impliziert. Besonders betroffen sind Japan und die Eurozone, wo schon seit längerer Zeit negative Renditen über die Kurve hinweg die Finanzinstitutionen unter Stress setzen. Weltweit verflachen die Zinskurven, auch im US-Dollar, und der Stress auf die Vorsorgeinstitutionen zwingt diese zu präzedenzlosen Portfolioumschichtungen. Ein zweiter Faktor scheint die koordinierte Intervention großer Zentralbanken in die Aktienmärkte zu sein. Beides zusammen macht die Finanzmärkte unberechenbar. In der Eurozone ist die von der Zinssituation verschärfte Banken- und Finanzkrise vordringlich zu bewältigen, aber aus einer komplexen politischen Gemengelage alles andere als gesichert.