Politik

Londoner Gericht: Parlament muss über Brexit abstimmen

Ein Gericht hat entschieden, dass das Parlament über den Austritt Großbritanniens aus der EU abstimmen muss. Die Regierung kündigte inzwischen an, das Urteil anzufechten.
03.11.2016 11:25
Lesezeit: 3 min

Die britische Regierung kann nach einem Gerichtsurteil den EU-Austritt nicht im Alleingang ohne Zustimmung des Parlaments auslösen. Der Londoner High Court gab am Donnerstag einer Klage in diesem hoch brisanten Verfassungsstreit statt, der den Brexit-Zeitplan und eventuell den Austritt an sich in Frage stellen könnte. Premierministerin Theresa May lehnt es ab, die Parlamentarier über einen Ausstieg aus der EU abstimmen zu lassen. Das Gericht erklärte, es akzeptiere die von der Regierung vorgebrachten Argumente nicht. May ließ umgehend ankündigen, in der Sache nun den Obersten Gerichtshof einzuschalten. Laut einem Anwalt der Regierung ist dort für eine Anhörung bereits ein Zeitfenster Anfang Dezember reserviert.

Die Briten votierten im Juni in einem Referendum für den Brexit. May will den Antrag bei der EU bis Ende März 2017 stellen. Danach beginnt der zweijährige Austrittsprozess. Der Zeitplan könnte nun durcheinandergeraten. Eine Mehrheit im Parlament für den Brexit gilt nicht als sicher. Die Hoffnung auf einen Aufschub beim geplanten EU-Austritt trieb das Pfund Sterling erstmals seit drei Wochen wieder über 1,24 Dollar. Die britische Währung kletterte um bis zu 1,2 Prozent auf 1,2448 Dollar.

May hatte den Beschwerdeführern um die Fondsmanagerin Gina Miller vorgeworfen, den im EU-Austrittsreferendum geäußerten Volkswillen unterlaufen zu wollen. Handelsminister Liam Fox äußerte sich enttäuscht über die Entscheidung der Londoner Richter: „Die Regierung ist entschlossen, den Ausgang des Referendums zu respektieren.“ Sie werde ihr weiteres Vorgehen in dieser schwierigen Rechtsmaterie nun sorgsam abwägen.

Die Einbeziehung des britischen Parlaments in den Brexit-Prozess wird nach Ansicht des SPD-Politiker Axel Schäfer den Austritt des Landes nicht verhindern. „Ich erwarte nicht, dass das Unterhaus den Brexit-Prozess aufhalten wird, für den es eine Mehrheit im Referendum und in der jetzigen Regierung gibt“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion der Nachrichtenagentur Reuters am Donnerstag. „Jetzt muss eine verantwortungslose Regierung zeigen, dass sie Verantwortung übernimmt“, fügte er hinzu. Es sei Aufgabe der Premierministerin Theresa May, eine Mehrheit im Unterhaus für ihren Kurs zu organisieren. „Ich rate der Labour-Partei, klar mit Nein zu einem Brexit-Kurs zu stimmen“, forderte Schäfer zugleich.

Auch der Vorsitzende des Europa-Ausschusses, Gunther Krichbaum, erwartet keine Kursänderung. „Wir müssen zunächst das Urteil des Supreme Courts abwarten“, sagte der CDU-Politiker zu Reuters. Er persönlich glaube nicht, dass der Supreme Court den Klägern recht geben werde. Zudem würden sich die Parlamentarier wahrscheinlich nicht gegen das Ergebnis des Brexit-Referendums stellen wollen.

Schäfer warnte vor weiteren Verzögerungen im Austrittsprozess: „Was auf keinen Fall passieren darf: Dass die Regierung die neue Situation nun als weiteren Vorwand nimmt, um den Artikel-50-Antrag zu verzögern. Wir müssen bis Ende März Klarheit haben.“ Dem schloss sich sein CDU-Kollege Krichbaum an: „Es ist absolut wünschenswert, dass wir bis März Klarheit haben, was Großbritannien nun will.“ Ansonsten drohe das vom früheren britischen Premierminister David Cameron angerichtete Chaos sich auch noch auf die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2019 auszuwirken. Laut EU-Vertrag muss ein Austrittsabkommen innerhalb von zwei Jahren abgeschlossen sein.

Die Auswirkungen der Entscheidung werden von Beobachtern folgendermaßen eingeschätzt: „Es könnte sein, dass es nun zu Verzögerungen kommt und der März-Termin für den Antrag auf den EU-Austritt nicht zu halten sein wird. Auch Neuwahlen sind denkbar, verfügt Premierministerin May doch nur über eine knappe Parlamentsmehrheit. In den Umfragen liegt sie dagegen deutlich vorn. Wirtschaftlich könnte der Brexit etwas softer ausfallen, weil May den EU-Anhängern entgegenkommen muss. Denen spielt das Urteil in die Karten. Letztere muss May nun öffnen, da sie diese bislang bedeckt gehalten hat. Die Volatilität an den Märkten wird weiter bleiben, denn die Dauer der Unsicherheit wird verlängert“, sagte Florian Hense von der Berenberg Bank.

„Das ist ein überraschendes Ergebnis. Da allerdings viele pro-europäische Abgeordnete angekündigt haben, Volkes Wille zu akzeptieren, rechnen wir weiterhin damit, dass Großbritannien im nächsten Jahr Artikel 50 ziehen wird. Es könnte allerdings dazu kommen, dass die ursprünglich vorgesehene März-Frist nicht gehalten werden kann“, sagte James Knightley von ING.

„Die Tür zum Verbleib in der Europäischen Union hat sich damit ein stückweit geöffnet. Eine Mehrheit der Abgeordneten im britischen Parlament ist bekanntlich gegen den Brexit. Bei einem entsprechenden Votum könnte das Ergebnis der Volksabstimmung ausgehebelt werden. Die Unsicherheit an den Märkten und in der Wirtschaft bleibt natürlich - aber mit einer etwas angenehmeren Färbung. Es ist ohnehin erstaunlich, wie gut die Wirtschaft in Großbritannien die Brexit-Gefahr bislang weggesteckt hat. Wenn jetzt die Aussicht besteht, dass ein Brexit-Verzicht möglich ist, könnte sich die Schwäche des Pfunds relativieren. Der Druck auf Konjunktur und Inflation könnte abnehmen“, wird Jens Kramer von der NORDLB zitiert.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Geldanlage: Mit einem Fondsdepot mehr aus dem eigenen Geld machen

Wer vor zehn Jahren 50.000 Euro in den Weltaktienindex investiert hat, kann sich heute über mehr als 250.000 Euro freuen! Mit der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Deutsche Firmen verstärken Investitionen in Mittel- und Osteuropa
05.02.2025

Eine aktuelle Umfrage zeigt, dass immer mehr deutsche Unternehmen überlegen, ihre Produktion nach Mittel- und Osteuropa zu verlagern....

DWN
Politik
Politik Heizungsgesetz: CDU will es abschaffen – was wären die Folgen?
05.02.2025

Heizungsgesetz CDU? Was viele nicht wissen: Das heiß diskutierte und viel gehasste „Heizungsgesetz“ stammt ursprünglich von der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft China kündigt Gegenmaßnahmen auf US-Zölle an - so könnte die EU reagieren
04.02.2025

Während Mexiko und Kanada mit US-Präsident Donald Trump eine Vereinbarung zur vorübergehenden Aussetzung von Zöllen erzielten, kam es...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Spotify: Musikstreaming-Anbieter legt starke Zahlen vor - Aktie im Aufwind
04.02.2025

Spotify hat für das vierte Quartal im letzten Jahr starke Zahlen vorgelegt und kann immer mehr Nutzer von seinem Angebot überzeugen -...

DWN
Immobilien
Immobilien Anmeldung einer Wohnung: Die Krux des Meldewesens und wie Vermieter am Immobilienmarkt herumtricksen
04.02.2025

Es gibt eine neue Initiative namens „Anmeldung für alle“, die das polizeiliche Meldewesen als letzte Hürde des ungebremsten Zuzugs,...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Rheinmetall-Aktie nach Großauftrag mit Auf und Ab an der Börse
04.02.2025

Die Bundeswehr beschert dem Rüstungskonzern Rheinmetall einen Großauftrag in Milliardenhöhe. An der Börse ist mächtig Bewegung drin....

DWN
Politik
Politik Erste Wahlumfragen nach Migrationsdebatte: So schneidet die CDU/CSU ab
04.02.2025

Die CDU/CSU ist mit der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD im Bundestag hohes Risiko gefahren. Doch wie macht sich das in der Wählergunst...

DWN
Finanzen
Finanzen Wall-Street-Analyse: Börsenprofis ziehen Parallelen zum Platzen der Dotcom-Blase
04.02.2025

Das effizientere KI-Modell des chinesischen Start-ups DeepSeek hat vergangene Woche hoch bewertete KI- und Technologieaktien erschüttert....