Politik

Die USA haben zuviel Geld in Kriege gesteckt - statt in Bildung und Infrastruktur

Lesezeit: 14 min
22.11.2016 02:13
Die neue US-Regierung kann dem Land nur zu einem Aufschwung verhelfen, wenn sie in die Infrastruktur und in die Bildung investiert. Die vielen teuren Kriege sind eine gigantische Geldverschwendung.
Die USA haben zuviel Geld in Kriege gesteckt - statt in Bildung und Infrastruktur
USA: Infrastrukturausgaben in Prozent des Bruttoinlandprodukts.

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Viel zu geringe Investitionen in die Infrastruktur sind eines der Hauptprobleme der US-Wirtschaft. Die enorm starke Einwanderung und das damit verbundene Bevölkerungswachstum der letzten Jahrzehnte waren begleitet von einer schwachen Investitionstätigkeit – in Bezug auf die Infrastruktur. Diese Schwäche sticht im internationalen wie im intertemporalen Vergleich hervor. Für frühere Einwanderungsphasen waren nämlich massive Investitionsschübe in die Infrastruktur charakteristisch.

Damit verbunden gewesen waren bahnbrechende Verbesserungen der Transportwege, eine Reduktion der Transportkosten, neue komparative Vorteile von Standorten, Regionen – damit verbunden gewerblich-industrielle und Wohnbau-Investitionen. Seit der Präsidentschaft von Reagan bis heute sind die Investitionen in die Infrastruktur des Landes bewusst zurückgebunden worden. Sie sind von rund 4 Prozent auf noch 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gefallen. Ein Tribut an die Ideologie, dass der öffentliche Sektor ineffizient und verschwenderisch sei. Nicht nur sind angesichts des Bevölkerungswachstums viel zu geringe Neuinvestitionen getätigt worden. Diese sind absolut gesehen stark rückläufig seit der Jahrtausendwende. Selbst Reparatur und Erhalt der bestehenden Infrastruktur sind während Jahrzehnten vernachlässigt worden. Die Vereinigten Staaten drohen heute, in Bezug auf die Infrastruktur auf das Niveau eines Schwellenlandes zurückzufallen.

Die in der Grafik so definierten Kern-Investitionen in die Infrastruktur umfassen die Ausgaben für Transport- und Wasserwege, also für Straßen, Brücken, Flughäfen und anderes mehr. Die Ausgaben für das Erziehungs- und Gesundheitswesen berücksichtigen nur die Bauten für diese beiden Bereiche. Eine über Jahrzehnte angestaute Vernachlässigung der Infrastruktur hat einige unangenehme ökonomische Effekte. Verpasst man den Zeitpunkt von Reparatur der existierenden Infrastruktur, etwa um Sparziele zu erreichen, so wachsen die notwendigen Kosten nachher schnell und steil an. Eventuell muss eine heruntergewirtschaftete Straße, Brücke, Elektrizitäts- oder Wasserleitung oder ein Gebäude dann nicht saniert und erneuert, sondern ganz abgerissen und völlig neu gebaut werden. Staus und Umleitungen wegen baufälliger Infrastrukturen verteuern auch den Transport und verlängern die Fahrzeiten. Schließlich treffen Verschleißerscheinungen auch die Verkehrsmittel.

Fehlgeleitete Investitionen in das Bildungssystem

Noch gravierender war der Abstieg des amerikanischen Bildungssystems. Bis in die 1960/1970er Jahre hatten die USA das beste Bildungssystem der Welt – dies auf allen Stufen. Seither sind die Investitionen zurückgefahren worden. Die Bildungsausgaben pro Kopf sind immer noch die höchsten der Welt. Die privaten Schulen, Colleges und Universitäten sind immer noch Spitze, doch das breite öffentliche Bildungssystem ist sukzessive heruntergekommen. Das durchschnittliche amerikanische Bildungsniveau, einst Weltspitze, ist im internationalen Vergleich zurückgefallen. Dies drückt sich in einer wachsenden Überschichtung der amerikanischen Gesellschaft durch erfolgreichere Immigranten aus. Anders als der Tenor es besagt, sind die Immigranten in den USA nur zu einem kleineren Teil eine Unterschicht, welche schwarz arbeitet und die Löhne der einheimischen Arbeiter drückt. Das trifft teilweise auf die illegal anwesenden Ausländer in Branchen wie etwa dem Baugewerbe zu. Das dominierende Phänomen ist jedoch das viel höhere Bildungsniveau der Ausländer und der entsprechende leichtere Zugang zu gut bezahlten Stellen und Spitzenpositionen. Die folgenden Grafiken verdeutlichen diese Aussagen:

Die in den USA lebenden Ausländer haben typischerweise ein viel höheres Bildungsniveau als die amerikanischen Staatsangehörigen (‚natives‘). Der Anteil der Ausländer mit einem elementaren Studienabschluss (‚bachelor') ist viermal höher als bei den Einheimischen. Zudem besetzen die Ausländer im Durchschnitt viel besser bezahlte Berufsgruppen. So sind sie beispielsweise in den Bereichen Computing/Mathematik, also in der IT-Industrie, bei den Ärzten und Chirurgen, bei Ingenieuren und in der verarbeitenden Industrie stark übervertreten. Selbst auf Hochschulstufe ist heute die Überschichtung sichtbar. Das Gros der Patente, das heute an den amerikanischen Spitzenuniversitäten angemeldet wird, stammt von Ausländern.

Die amerikanische Gesellschaft offerierte früher eine enorme Aufwärtsmobilität. Junge Leute aus der Arbeiterschaft konnten sich mit Bildung und Fleiß nach oben arbeiten. Diese Zeiten sind vorbei. Die Kinder nicht nur der Unterschicht, sondern bis weit in die Mittelklasse haben keinen Zugang mehr zur fortgeschrittenen Ausbildung. Die Ausbildungsgebühren (‚tuiton fees‘) für College und Universität haben sich stark verteuert. Viele Haushalte können sich dies nicht mehr leisten. Die Verschuldung von Studenten ist stark angestiegen, sodass viele mit einer erheblichen Bürde ins Berufsleben starten. Die Kehrseite dieses Abstiegs ist ein Defizit an hoch qualifizierten Berufsleuten. Schätzungen gehen davon aus, dass bis zu 3 Millionen Ingenieursstellen in den Vereinigten Staaten nicht besetzt sind. Die Unternehmen müssen qualifizierte Ausländer anstellen oder ihre Aktivität ins Ausland verlagern.

Desindustrialisierung durch falsch konzipierten Freihandelsverträge

Seit 1943 bis 2001 haben immer deutlich über 20 Millionen Beschäftigte in der Industrie gearbeitet, davon rund 17-18 Millionen in der verarbeitenden Industrie. Die letztere Zahl ist seit 2001 um einen Drittel auf 12 Millionen zurückgegangen.

Die Beschäftigung in der verarbeitenden Industrie drückt die Bedeutung des Sektors nur unzureichend aus. Für 2013, wo es genaue Zahlen aus Untersuchungen gibt, kamen auf jeden Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie 1,4 Beschäftigte in vorgelagerten Branchen. Zusammen machte dies rund 30 Millionen Beschäftigte aus. Wegen dieser starken Wirkung auf vorgelagerte Branchen schmerzt der Rückgang seit 2001 so außergewöhnlich.

Dieser sehr starke Effekt auf vorgelagerte Branchen ist einer fortschreitenden Spezialisierung zuzuschreiben. Das ist ein Prozess, der sich über Jahrzehnte angebahnt hatte. Die verarbeitende Industrie hat in den USA über die Zeit hinweg indirekt über einen wachsenden Vorleistungsmultiplikator immer mehr Leute beschäftigt, auch wenn die direkte Beschäftigung seit den 1940er Jahren stagniert hat. Vor allem die Auslagerung an spezialisierte Funktionsträger im Dienstleistungssektor ist hier zu erwähnen.

Die verarbeitende Industrie hat andere Merkmale, die sie zum Motor der Wirtschaftsentwicklung machen. Sie ist im Branchenvergleich außerordentlich kapitalintensiv. Von ihr gehen also auch sehr wichtige Impulse auf die Investitionsgüterindustrie sowie auf den Bausektor aus. Sie ist sehr forschungsintensiv. Fast 80 Prozent der Forschungs- und Entwicklungsausgaben im privaten Sektor entfallen auf die verarbeitende Industrie. Schließlich gibt es makroökonomische Effekte: Die verarbeitende Industrie hat im Sektorenvergleich anhaltend die höchsten Produktivitätszuwächse über die Zeit hinweg. Ihr Rückgang hat fast mechanisch rückläufige makroökonomische Produktivitätszuwächse zur Folge. Und die verarbeitende Industrie zahlt im Branchenvergleich hohe Löhne, was auch für den Konsum von Bedeutung ist.

Die Vereinigten Staaten waren das Industrieland des 20. Jahrhunderts. Umso größer jetzt der Schock durch den Einbruch seit der Jahrtausendwende. Der massive Rückgang der industriellen und der indirekt damit verbundenen Beschäftigung hat das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum verlangsamt, weil der Industriesektor traditionell überdurchschnittliche Produktivitätszuwächse verzeichnet. Natürlich gibt es eine große Diskussion über die Ursachen und allenfalls Remeduren. Einigkeit besteht allerdings nicht im Entferntesten.

Einer der wichtigsten Grnde dafür ist die Veränderung der Handelsgesetze. Für die USA werden immer wieder zwei Hauptgründe genannt. Das North American Free Trade Agreement (kurz NAFTA) trat 1994 in Kraft und wurde sukzessive über 15 Jahre hinweg umgesetzt. 2001 trat nach langer Vorbereitungszeit China der World Trade Organisation (kurz WTO) bei. China gelangte so in den Genuss reduzierter Zölle und vollen Marktzugangs für seine Exportgüter. Empirisch feststellen lässt sich, dass die amerikanische Industrie im großen Stil die Produktion nach China, Mexiko und in geringerem Ausmaß nach Kanada ausgelagert hat. Viel niedrigere Löhne und Arbeitskosten, keine hinderlichen Arbeitsgesetze (überlange Arbeitszeiten, geringer Arbeitsschutz, keine oder wenig Ferien), steuerliche Vorteile, geringe Kosten für die Umwelt, die dort bedenkenlos verschmutzt werden darf, ein strukturell unterbewerteter Wechselkurs dieser Exportländer und teilweise eben auch effizientere Produktionsstrukturen kombinieren sich dabei.

Im Wahlkampf haben die bekanntesten Ökonomen des Landes, darunter viele Nobelpreisträger, einen Aufruf unterzeichnet, Donald Trump wegen seiner Aussagen zum Freihandel nicht zu wählen. Über 700 prominente Ökonomen liberaler und konservativer Ausrichtung haben unterschrieben. Sie stießen sich vor allem daran, dass Trump prohibitive Schutzzölle gegen China und Mexiko erheben will. Der Brief behauptete allen Ernstes, dass der Rückgang der Industrie der wachsenden Automatisierung entspränge, und wenig mit Freihandel zu tun habe. Diese Aussage würde ich als grundfalsch bezeichnen. Gerade die Blindheit vieler Ökonomen hat dazu geführt, dass die Bevölkerung Experten keinen Glauben mehr schenkt, und stattdessen einen Demagogen gewählt hat. Im Kern der Sache hat dieser nicht Unrecht. Diese Handelsabkommen enthalten gravierende Defizite. Nur sind seine im Wahlkampf angeführten Mittel zur Lösung alles andere als zielführend und würden effektiv in eine schwere Krise hineinführen. Die Freihandelsabkommen und ihre Defizite bedürfen sehr sorgfältiger Analyse und separater Darstellung. Sie betreffen im Übrigen auch Europa, und sind nicht zuletzt für Asymmetrien in Europa und in der Eurozone mitverantwortlich.

Finanzialisierung und Geldpolitik

Die ausbezahlten Reallöhne von Arbeitern und Angestellten haben seit über 30 Jahren stagniert – deren Konsum aber in keiner Weise, im Gegenteil. Die Sparquote der privaten Haushalte ist seit den 1980er Jahren ständig gefallen. Während rund drei Jahrzehnten, von den frühen 1980er Jahren bis und mit 2008, war der private Konsum ein enormer Treiber der amerikanischen Konjunktur. Verantwortlich war dafür die ungezügelte und letzten Endes exzessive Ausdehnung des Kredits. Die Haushalte kauften sich über die Zeit hinweg immer teurere Häuser. Finanziert wurde dies durch Hypotheken. Diese Hypotheken konnten, wenn die Zinsen weiter fielen, wieder refinanziert und den gestiegenen Häuserpreisen angepasst werden. Die Kreditnehmer konnten mit anderen Worten Eigenkapital aus dem Häuserbesitz entnehmen –  nicht einmal, sondern mehrfach. Das war vor allem in den 2000er Jahren ein wesentlicher Motor des Wirtschaftswachstums. Heute sind die Haushalte hoch verschuldet. Die Eigenkapitalentnahme ist den meisten Kreditnehmern verwehrt. Im Gegenteil: Seit der Finanzkrise von 2008 müssen Teile der Haushalte die Hypotheken über die Zeit hinweg amortisieren, also Eigenkapital einzahlen. Damit ist auch der private Konsum als Treiber der Nachfrage geschwächt und das Produktivitätswachstum verlangsamt. Dafür sind andere Kreditformen hinzugekommen. Ganz wichtig sind die Leasingkredite für Autokäufe (eng. ‚auto loans'), womit der Kauf bzw. die Miete immer größerer Autos finanziert wurde. Während die Hypothekarschulden seit der Finanzkrise nicht mehr angestiegen sind, haben die Autokredite seither ein gewaltiges Wachstum durchgemacht. Phänomenal sind auch die Ausbildungskredite (’student loans’) angestiegen. Traditionell eine große Hausnummer sind die Kreditkartenschulden. Sie sind seit der Finanzkrise allerdings nicht mehr wesentlich angestiegen.

Summa summarum sind die Haushalte in den Vereinigten Staaten überschuldet, allerdings viel weniger breit als nach der Finanzkrise. Die Erholung der Immobilienpreise hat vielerorts geholfen. Doch diejenigen Haushalte ohne Reallohngewinne oder mit sinkenden Realeinkommen sind betroffen. Vor allem dort wirkt sich negativ aus, wenn die Wirtschaftsentwicklung rückläufig ist. Kreditnehmer können nicht einfach ihr Haus oder ihre Wohnung verkaufen und in die Wachstumszentren ziehen. Die finanzielle Situation der Haushalte ist insgesamt angespannt. Gemäß der Statistik haben über 60 Prozent der Haushalte nicht einmal 1000 Dollar als liquide Mittel, als Reserve für negative Überraschungen. Sie leben von ‚paycheck‘ zu ‚paycheck‘. Es darf nichts Unerwartetes passieren, sonst wird die Budgetierung über den Haufen geworfen.

Neben der Verschuldung der Haushalte ist auch diejenige der Unternehmen drastisch angestiegen. Allerdings keineswegs mit den gleichen verheerenden Effekten. Die finanzielle Situation vor allem der großen Unternehmen ist vielfach ausgezeichnet – im historischen Vergleich phänomenal. Die Verschuldung der Unternehmen hat vor allem in den letzten Jahren stark zugenommen. Es ist dies ein Effekt der Nullzinspolitik und der Anleihenkäufe der Fed und der damit verbundenen Kompression der Risikoprämien. Viele Unternehmen können sich leisten, mit den gering verzinslichen Krediten höhere Dividenden auszuzahlen und Aktien beschleunigt zurückzukaufen. Damit wird der Unternehmenswert pro Aktie gesteigert. Hingegen hat die Gewinnexplosion keineswegs zu einer beschleunigten Investitionstätigkeit in den Vereinigten Staaten selber geführt. Im Gegenteil: Wenn investiert wurde, dann nicht zuletzt in unproduktive Aktiven ohne langfristige Gewinnperspektiven. Hier ist vor allem das Fracking zu erwähnen, das einen riesigen Boom im Energiesektor ausgelöst hat, der nicht nachhaltig ist. Die ausgebliebene bzw. fehlgeleitete Investitionspolitik der Unternehmen ist ein weiterer Grund für den verlangsamten gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt.

Gesundheitskosten: Die Reallöhne enthalten, so wie sie berechnet werden, nicht die ganze Wahrheit über die Kaufkraft der Haushalte. Ein Grund dafür ist der Anstieg der Gesundheitskosten. Dafür verantwortlich ist ein Spezifikum des amerikanischen Gesundheitswesens. In den USA sind die Beschäftigten entweder über die Unternehmen oder privat versichert. Es gibt kein staatliches oder staatlich kontrolliertes und reguliertes Gesundheitswesen wie zumeist in Europa, etwa in Deutschland. Die Gesundheitskosten sind ein schnell wachsender Teil der Lebenshaltungskosten. In den Index der Verbraucherpreise gehen nicht etwa die Tarife der an die Krankenkassen bezahlten Prämien, sondern die Medikamentenpreise, die Arzt-, Zahnarzt- und Spitaltarife ein. Nun sind die Krankenkassenprämien viel schneller gestiegen als diese Grundpreise. Kern dieser Berechnungsweise im Verbraucherpreisindex ist die Idee, dass die erwähnten Preise und Tarife die zugrunde liegenden Preise darstellen. Der steilere Anstieg der Prämien wird als eine Mengenausweitung angesehen. So weit so gut. Der Kern ist nur, dass rund 50 Prozent der Versicherten praktisch keine Gesundheitsdienstleistungen beziehen, und dass der Großteil der Leistungen – rund 43 Prozent – bei den über 65-jährigen Versicherten anfällt, meist in ihren allerletzten Lebensjahren. Die Krankenkassenprämien enthalten also nicht nur eine Mengenkomponente, sondern vor allem eine substantielle intergenerationelle Transferzahlung. Wenn man einen Verbraucherpreisindex für einen Lohnbezüger berechnen will, müsste man dies eigentlich berücksichtigen. Die Mengenkomponente ist auch in anderer Hinsicht zu hinterfragen. Denn in einem regulierten Gesundheitssystem drückt sich die Teuerung häufig darin aus, dass Ärzte und andere Dienstleister einfach die Menge ausdehnen, um die Preisobergrenzen zu umgehen. Es werden nach dem Krankheitsbild unnötige, aber verrechenbare weitere Labor- und Testuntersuchungen gemacht, zu große Medikamentenpackungen oder keine Generika abgegeben und anderes mehr. Ferner besteht in den USA ein erheblicher Teil der Gesundheitskosten (29 Prozent) aus Administrationskosten der Versicherer. Jedenfalls sind die Prämien in den letzten 20 Jahren enorm angestiegen und ein wichtiger Faktor des wahrgenommenen Kaufkraftverlusts von Familien.

Im Kern ist das amerikanische Gesundheitssystem viel zu teuer und mittelmäßig geworden, jedenfalls in der Breite. Der Grund liegt in der mangelnden Preis- und Mengenkontrolle. Anders als in Europa, wo ein staatlicher Gegenpart die Preise für Medikamente und Arzttarife festlegt und drückt, werden sie in den USA von unzähligen Kassen im Ringen mit den großen Pharmakonzernen und Ärzteverbänden ausgehandelt. Deshalb ist der amerikanische Pharmamarkt so morgenstark und hoch profitabel, die Preise sind höher als in Europa. Auch Ärzte und Spitäler haben teilweise viel höhere Einkommen als in Europa. Hinzu kommt eine monströse Bürokratie. Der Anstieg der Gesundheitskosten ist ein Politikum, weil er viele Haushalte betrifft. Diese bringen sie, teils zu Unrecht, mit der Einführung von ‚Obamacare’ in Zusammenhang. Diese Ausweitung des Versicherungsschutzes ist in einem gewissen Sinn gescheitert, weil sie nicht von einer Strukturreform im ganzen Gesundheitswesen begleitet war. Die Ankündigung von Donald Trump im Wahlkampf, ‚Obamacare’ als quasi erste Amtshandlung abzuschaffen, war deshalb sehr populär und hat als Argument verfangen.

Andere offene Punkte: Strukturelle Arbeitslosigkeit und unterfinanzierte Pensionskassen

Die amerikanische Wirtschaft hat also eine Reihe von Herausforderungen, die über übliche konjunkturelle Fragen weit hinausgehen. Es gibt eine sehr große strukturelle Arbeitslosigkeit, die am besten mit der Grafik der Bezüge von Essensmarken (‚food stamps‘) dokumentiert werden kann.

Essensmarken werden verteilt an die Ausgesteuerten, welche kein Arbeitslosengeld mehr erhalten. Die Voraussetzungen sind allerdings restriktiv: praktisch kein Vermögen, sehr geringes Einkommen. Ein Ingenieur oder Betriebswirt, der seinen Job verloren hat und nach einem halben Jahr ausgesteuert worden ist, dürfte keinen Zugang zu Essensmarken erhalten. Von daher gibt es schon einen Eindruck über den Arbeitsmarkt, wenn auch 2016 immer noch 43 Millionen Bezüger registriert sind. Das sind fast 14 Prozent der Bevölkerung und rund 20 Prozent der Beschäftigten. Auch erfolgt die Vergabe von Essensmarken nicht unbeschränkt, sondern zeitlich limitiert. Über diese Bezüge hinaus existiert also ein Arbeitskräftereservoir, das völlig abgehängt ist.

Die lange Phase der Nullzinsen hat viele Pensionskassensysteme ausgehöhlt. Die Verantwortlichen der Fed haben dies jahrelang ignoriert. Vor allem die öffentlichen Pensionskassen sind vielfach unterdeckt. Viele von ihnen basieren auf dem Leistungsprimat, während die privaten Rentensysteme auf das Beitragsprimat umgestellt worden sind. Wenn nicht ein Wunder geschieht, werden gerade die Versicherten öffentlicher Kassen die ihnen in Aussicht gestellten Renten nicht erhalten können – teilweise bei weitem nicht. Dies ist ein Thema in den Vereinigten Staaten, weil es mit den Staatsangestellten eine zum Staat loyale Berufsgruppe betrifft.

Zusammenfassung

Die amerikanische Wirtschaft und Gesellschaft bietet somit ein Bild beträchtlicher Gegensätze. Höchste Innovationskraft, Spitzentechnologie und effektives betriebswirtschaftliches Management bei vielen Unternehmen kontrastieren mit erstaunlicher Verschwendung und Ineffizienz auf der Makroebene. Der ganzen Markt- und Wettbewerbs-Rhetorik und -Ideologie zum Trotz sind die Vereinigten Staaten eine ineffizient gemanagte Gesellschaft, in vielen Aspekten sogar eine klassische ‚rent seeking society‘. Interessengruppen können sich durch Zugang zu politischer Macht bei Regulierung und Preissetzung Kartell- oder Monopolrenten verschaffen, sich Rohstoffe und Absatzgebiete sichern. Der Zugang zur Macht sichert Einkommen und sorgt für extreme Ungleichheit. Große Teile der Bevölkerung sind von Chancen ausgenommen.

Die Kehrseite ist ein viel zu hoher Ressourcenverschleiß – etwa in Form von Energie. Hohe Ausgaben für das Bildungs- und Gesundheitswesen, absolut und Pro-Kopf mit die höchsten der Welt, mit durchschnittlichen oder sogar enttäuschenden Ergebnissen im internationalen Vergleich. Das Land lässt über Jahrzehnte seine Basis-Infrastruktur verkommen, schafft so Anreize, Geländewagen von 2.5 bis 3 Tonnen im Alltag zu benutzen, weil die Straßen so miserabel sind. Nach wenigen Jahren müssen die Kolosse ausgetauscht werden, weil sie wegen der Straßen abgenutzt oder beschädigt sind.

Die Verteidigungs-Ausgaben sind riesig – bei weitem die höchsten der Welt. In Afghanistan, Irak und wurden die größten, modernsten und bestgerüsteten Armeen der Welt eingesetzt – mit fatalen Ergebnissen. Das Land hat rund zweitausend Milliarden in völlig nutzlose Kriege gesteckt, mit dem Ergebnis einer traumatisierten Generation von Veteranen und Hunderttausenden von Toten und Millionen von Flüchtlingen in den kriegsgeschädigten Ländern. Achtlos ist der Umgang mit der wichtigsten Ressource, dem eigenen ‚human capital‘. Stagnierende oder fallende Realeinkommen – sind halt Wachstumsverlierer. Rentensysteme, die vor die Hunde gehen – nach uns die Sintflut, sollen selbst vorsorgen. Keine genügend ausgebildete Bevölkerung – macht nichts, kann importiert werden. Stagnierendes Produktivitätswachstum – nur für die Mehrheit. Wie angesichts dieser Entwicklung die rasant angewachsene private und öffentliche Verschuldung bedient und bewältigt werden sollen, ist schleierhaft. Vielen Haushalte bis weit in die Mittelklasse ist der Zugang zu höherer Bildung verwehrt. Wer aus dem Arbeitsprozess fliegt, landet irgendwann bei Essensmarken. Für viele ist der amerikanische Traum ausgeträumt. Hinter dem Erfolg von Donald Trump stecken viele Faktoren – aber im Kern ist es die sozioökonomische Entwicklung, und nicht nur Demagogie und billiger Populismus.

Donald Trump hat im Wahlkampf die Misere geschickt und provokativ ausgenutzt. Er hat auf existentielle und komplexe Probleme der Bevölkerung intuitiv einfache, teilweise auch demagogische Antworten gegeben. Doch die Ausgangslage nach seinem überraschenden Wahlsieg ist nicht so komfortabel wie sie jetzt erscheint: Präsident, beide Kammern, meiste Gouverneursposten, bald oberstes Gericht in republikanischer Hand oder aus einem Guss. Denn erstens ist das Erbe gravierend. Die strukturellen Merkmale der amerikanischen Wirtschaft machen sie heute anfällig auf wirtschaftspolitische Abenteuer. Hier keine Fehler zu begehen, vor allem am Anfang erscheint essentiell. Die Trends sind ferner fest etabliert. Die Kausalfaktoren sorgen für eine Persistenz über längere Zeiträume. Die Wahl wurde zweitens mit dem Versprechen einer radikalen Wende gewonnen. Es war weder ein Wahlsieg mit dem orthodoxen republikanischen Wahlprogramm noch ein Durchmarsch, wie dies jetzt in den Medien beschrieben wird.

Der Wahlausgang war äußerst knapp. Clinton hat die Mehrheit der Stimmen gewonnen. Mit verhältnismäßig geringen Verschiebungen in zwei oder drei Bundesstaaten – etwa Wisconsin, Pennsylvania, Michigan oder Florida – wäre sie Präsidentin geworden. Die ehedem demokratischen Bundesstaaten im Rust-belt, die Donald Trump gewonnen hat, sind alles andere als gesicherte republikanische Erbhöfe. Wirklich beherrschbar ist nur die Periode für die nächsten zwei Jahre. Ohne spürbare Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Abgehängten könnte es eine heftige Retourkutsche bei den Erneuerungswahlen im Kongress 2018 oder spätestens bei den nächsten Präsidentschaftswahlen geben. Von vollmundigen Wahlversprechen Enttäuschte können auch eine radikale Kehrtwende vollziehen. 2018 stehen bei den Kongresswahlen 33 der 100 Sitze im Senat auf dem Spiel. Dort betrifft es hauptsächlich demokratische Sitze. Doch im Repräsentantenhaus sind sämtliche Sitze neu zu besetzen. Diese Konstellation zwingt Präsident und Republikaner im Kongress zum Kompromiss, sonst dürfte der Ausgang für beide böse enden.

Der dritte Faktor, der separat auszuführen ist, betrifft die internationale Dimension. Handlungszwänge aus dem Währungsregime und internationalen Handelssystem grenzen die innenpolitischen Handlungsspielräume ganz erheblich ein.

Mit dem offiziellen Programm der Republikaner wäre ein durchschlagender Misserfolg programmiert, was die angekündigte Retrovision (‚Make Amerikca great again’) betrifft. Eine Wende ist so niemals zu erzielen. Ineffizienz, schwaches Produktivitätswachstum und sinkende oder stagnierende Realeinkommen der Einheimischen und massiv vergrößerte Ungleichheit, vor allem auch der Chancen, sind garantiert.

Das Programm der Republikaner ist nicht, wie verschiedene Kommentatoren geschrieben haben, eine Fortsetzung des Status quo. Es ist nichts anderes als eine massive Beschleunigung der beschriebenen Trends der letzten 15 bis 30 Jahre. Tiefere Steuern für Private und Unternehmen sind eine Fortsetzung der Politik der letzten 30 Jahre. Vor allem die Steuersenkungen für Private bringen nur den Staatshaushalt noch mehr auf die schiefe Ebene. Bei den Unternehmenssteuern gilt es lediglich, die Anreize zur Abwanderung und Auslagerung zu beseitigen. Den Banken Restriktionen durch die Aufhebung von Dodd-Frank zu erlassen und damit noch mehr Kreditexpansion und Risiko zu erlauben, macht das Finanzsystem und die Realwirtschaft wieder bzw. noch anfälliger. Weniger staatliche Regulierung ist auch eine Garantie für höhere Medikamentenpreise und Spital- und Arzttarife – mit dem Effekt explodierender Gesundheitskosten.

Die Energiewirtschaft regulatorisch und steuerlich zu begünstigen, bedeutet gutes Geld schlecht investiertem nachzuwerfen. Steuern zu senken für die einkommensstarken und vor allem wirklich Reichen, kann einen starken Anstieg der Renditen am Kapitalmarkt auslösen. Einige Millionen illegal anwesender Immigranten heimzuschicken, ändert nichts am viel größeren Problem der Benachteiligung der durchschnittlichen Amerikaner durch das Bildungssystem. Nebenbei gilt es beizufügen, dass die rein operationelle Umsetzung eines Infrastrukturprogrammes in den Wachstumszentren nicht einfach wäre, wenn die illegal anwesenden Ausländer abgeschoben würden. Der Bausektor ist dort vor allem von Latinos dominiert – auf den Baustellen wird spanisch gesprochen. Eine Legalisierung mit dem Zwang und der Folge, die Schwarzarbeit zu beseitigen, würde mehr versprechen. Was in den USA wirklich etwas bringt, ist ein massives und langfristiges Infrastrukturprogramm, das solide finanziert sein sollte – etwa durch Steuererhöhungen für hohe Einkommen und vor allem für die Superreichen. Und statt immer weiter erhöhter Ausgaben sollten Bildungs- und Gesundheitswesen, Militär und Energie effizient bewirtschaftet werden. In dieser Hinsicht bietet das Land fast unbegrenzt Potential.


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