Politik

„Es wird blutig werden“: Briten planen EU-Austritt als Crash

In Großbritannien wird eine neue Variante für den EU-Austritt diskutiert: der Crash. Die komplexen Verträge können nicht einfach aufgelöst werden, also sollten die Gerichte am Ende entscheiden, wie es weiter geht.
27.12.2016 01:44
Lesezeit: 2 min

Neben dem "harten" und "weichen" Austritt Großbritanniens aus der EU wird nun eine dritte Variante diskutiert: der "train-crash Brexit". Der Gedanke dahinter: Wenn sich die EU und Großbritannien nicht auf einen geordneten Austritt einigen können, folgt der Crash. Dies wiederum hätte dramatische Folgen für die Handelsbeziehungen in Europa. Der kenntnisreiche Kolumnist Gideon Rachman von der Financial Times hält die "train-crash" Variante für sehr wahrscheinlich, sowohl aus prozesstechnischen als auch aus politischen Gründen.

Neben Unterschieden bei der Einwanderungspolitik und dem Binnenmarkt haben die "harte" und "weiche" Austrittsvariante eines gemeinsam: Eine Einigung zwischen Großbritannien auf der einen und den 27 EU-Mitgliedsstaaten auf der anderen Seite.  Die Fakten sprechen allerdings gegen solch eine Einigung, und zwar sowohl on der "harten" als auch der "weichen" Variante.

Prozesstechnisch besteht das Hauptproblem darin, dass die Verhandlungen zu kompliziert sind um sie in den von Artikel 50 des Lisabonner Vertrags vorgesehenen zwei Jahren abzuschließen. Großbritannien und die EU müssen ein über 40 Jahre hinweg entstandenes hoch komplexes Regelwerk von Recht, Wirtschaft und Handel entflechten. Danach muss die neue Beziehung nicht nur zu Papier gebracht werden, sondern auch von allen 27 EU-Mitgliedstaaten, der EU und Großbritannien ratifiziert werden. Zum Vergleich: die Verhandlungen zum CETA haben etwa zehn Jahre gedauert und sind weit weniger komplex als die völkerrechtlich hochintegrierte EU mit einem gemeinsamen Rechtssystem, dem Binnenmarkt und der Freizügigkeit.

Ein EU-Insider sagte der FT kürzlich, dass diese Aufgabe praktisch unlösbar ist: "Großbritannien hat nicht genügend Beamte für die Aufgabe und die EU nicht den notwendingen Fokus". Laut der FT warnte der britische EU-Botschafter die Minister auf der Insel, dass es ein Jahrzehnt dauern könnte, bis ein neues Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU steht.

In dem halben Jahr seit dem Referendum zeigte sich eine unglaubliche Dissonanz zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Großbritannien. Die FT spricht von "mutual acrimony", also gegenseitiger Bitterkeit.

Besonders explosiv sind die ausstehenden finanziellen Verbindlichkeiten Großbritanniens an die EU, von ausstehenden EU-Beiträgen bis hin zu Rentenzahlungen an pensionierte EU-Beamten. Laut Schätzungen aus Brüssel belaufen sich diese Verbindlichkeiten auf bis zu 60 Milliarden Euro. Laut FT ist es wahrscheinlich, dass die britische Regierung diese Zahlen als schlechten Witz oder als einen ungeschickten Erpressungsversuch abtun wird.

Aber die EU-Kommission mit ihrem kompetenten Verwaltungsapparat wird handfeste Belege für diese Verbindlichkeiten liefern. Eine pragmatische Lösung für die britische Regierung wäre, die Verbindlichkeiten nach unten zu verhandeln und die Fälligkeitstermine über einen langen Zeitraum hin zu strecken. Aber die konservativen Hardliner und die britischen Medien werden es der britischen Regierung nahezu unmöglich machen, solche Summen zu akzeptieren - vor allem im Angesicht der vielen Versprechungen im Wahlkampf vor dem Referendum. Damals war mehr Geld für das marode Gesundheitssystem oder die veraltete Infrastruktur versprochen worden. So berichtete die FT im August, dass Großbritannien wieder Diesellokomotiven aus den sechziger Jahren einsetzt, um den chronischen Mangel an Zügen vorläufig zu mindern (link).

Wenn Großbritannien oder die EU die Verhandlungen scheitern lassen, könnte der Internationale Gerichtshof in Den Haag angerufen werden, um das komplexe Geflecht zwischen nationalem Recht, Völkerrecht und EU-Recht zu schlichten. Das würde Jahre dauern. Sollten sich die EU und Großbritannien nicht auf eine Verlängerung der Verhandlungsfrist unter Artikel 50 des Lissabonner Vertrages einigen, würde die britische EU-Mitgliedschaft nach zwei Jahren einfach auslaufen. Das wäre ein dramatischer Ausgang, besonders für Großbritannien: Auf Exporte wie die Autoindustrie würden plötzlich Zölle anfallen. In London ansässige Banken würden ihren Zugang zum EU-Binnenmarkt verlieren (hier). Wichtige Zuliefererketten könnten so unterbrochen werden und damit Milliardenschäden angerichtet - zum Beispiel wenn Beispiel Rolls Royce seine Flugzeugturbinen nicht mehr wirtschaftlich von England nach Toulouse liefern könnte, damit sie dort zu einem flugtüchtigen Airbus zusammengebaut werden können (hier).

Die FT zitiert die Einschätzung eines hochrangigen britischen Beamten: "Es wird blutig werden, aber da müssen wir eben durch". Dieses Kriegs-Mantra klingt nicht besonders hoffnungsvoll für einen partnerschaftlichen Ablauf der Brexit-Verhandlungen.

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