Die kritischen Stimmen gegen die EU mehren sich nun auch in den großen EU-Staaten. Nach dem Brexit positionieren sich alle Staaten und versuchen, die neue Konstellation zu nutzen. Die Vorstellungen sind allerdings sehr unterschiedlich.
Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel fordert eine grundlegende Neuausrichtung der EU. "Wir brauchen nicht 'mehr Europa', sondern ein anderes Europa", sagte der SPD-Vorsitzende und Vize-Kanzler dem Handelsblatt. Wenn nicht alle Staaten im gleichen Tempo vorangehen wollten, müsse man über ein Europa der zwei Geschwindigkeiten ernsthaft nachdenken. "Das würde auch innerhalb Europas die Spannungen sehr reduzieren und Kerneuropa ungeheuer stärken", sagte Gabriel.
Gabriel bezog sich mit seinen Äußerungen auf die wachsende Europa-Kritik nicht nur in Großbritannien. Die EU, die sich an Detailfragen abarbeite, sei an ihre Grenzen gestoßen, sagte er. Europa dürfe nicht "den quälenden Prozess der ständigen Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner fortsetzen", sondern müsse Alternativen ermöglichen. Dazu zählten eine eng verzahnte Außen- und Sicherheitspolitik sowie eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Allerdings wird auch dieses Kerneuropa nur schwer zu errichten sein: Frankreich lehnt die Aufnahme neuer Flüchtlinge ab, sagte der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat, Francois Fillon. Die Verteilung der Flüchtlinge in der EU ist integraler Bestandteil der Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bei einem Kerneuropa müssten die Flüchtlinge auf noch weniger Länder verteilt werden, weil die Osteuropäer sich erfolgreich geweigert haben, das Merkel-Konzept mitzutragen.
Tatsächlich ist der Begriff der zwei Geschwindigkeiten ein Euphemismus und führt de facto zu einer Spaltung der EU. Und selbst für Deutschland ist die EU im Welthandel eher ein Hindernis als eine Stütze.
Gabriel sagte in dem Interview auch, dass Deutschland den Nutzen aus der Aufkündigung des TTP, also des Freihandelsabkommens mit Asien durch die USA, ziehen sollte und seinerseits der deutschen Industrie den Weg nach Asien ebnen solle. In vielen Bereichen sei die deutsche Industrie wettbewerbsfähiger als diejenige der USA. Einen Handelsstreit mit den USA sieht Gabriel nicht - nur knapp 10 Prozent der Exporte gingen in die USA, 60 Prozent in die EU-Staaten.
Allerdings hat Gabriel drei grundlegende Probleme, die mit Rhetorik allein nicht zu lösen sind: Deutschland kann allein kein Freihandelsabkommen abschließen. Laut Lissaboner Vertrag fallen solche Abkommen in die Kompetenz der EU. Deutschland hat mit den Russland-Sanktionen bereits einen wichtigen Absatzmarkt verloren. Es ist nicht zu erwarten, dass dieser Markt im Jahr der Bundestagswahl zurückkehrt. Die EU betrachtet Russland als Drahtzieher hinter einer Kampagne gegen Angela Merkel, wie die dpa schreibt. Und schließlich können die USA mit der Macht des Dollar faktisch jede Volkswirtschaft der Welt unter massiven Druck setzen. Die deutschen Autobauer haben dies mit der Abgas-Affäre zu spüren bekommen. Gabriel hatte vor seinem Wechsel in die Bundespolitik als Lobbyist für Volkswagen in Brüssel gearbeitet. Welche Rolle er genau gespielt hat ist unklar.
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