Finanzen

Welthandel: Nicht Donald Trump, sondern China ist das Problem

Lesezeit: 13 min
12.02.2017 00:40
Die Abwehr-Reaktion von US-Präsident Trump gegen den Freihandel ist berechtigt: China und die globalen Konzerne haben dafür gesorgt, dass keine Arbeitsplätze in den Industriestaaten mehr entstehen. Deutschland und die EU haben die Entwicklung nicht verstanden.
Welthandel: Nicht Donald Trump, sondern China ist das Problem

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Der freie Welthandel ist angeblich von Donald Trump bedroht. Das ist eine Verklärung von Vergangenheit und Gegenwart der Globalisierung. Denn der freie Welthandel ist bereits durch die Handelspraktiken Chinas und global tätiger Konzerne sowie durch die Reaktionsarmut der USA und der Europäischen Union ausgehöhlt.

Die hypnotische Fixierung auf alle Aktionen und Tweets des neuen amerikanischen Präsidenten verhindert eine rationale Diskussion der wirklichen Probleme der Weltwirtschaft. Trump wird als Bedrohung für den freien Welthandel aufgefasst. Selbst Chinas Staats- und Parteiführer kann sich demgegenüber als dessen Advokat und Garant anpreisen. Die Wahrheit ist eine andere: Globalisierung und Welthandel sind bereits vor der Ankunft von Präsident Trump entgleist. Die entsprechenden Abkommen – NAFTA, WTO, heute auch TTIP und TPP – waren bzw. sind fehlkonzipiert. In der Praxis hat Chinas Politik die Substanz und den Inhalt der WTO und des internationalen Währungssystems ausgehöhlt und in eine existentielle Krise gestürzt.

Die Angst vor einer protektionistischen Wende im Amerika von Donald Trump treibt seltsame, ja absurde Blüten. Eine Empfehlung ist, sich auf China zu fokussieren oder sich mit China zu verbünden. Der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping hat beim WEF-Forum in Davos geschickt auf dieser Melodie gespielt. Eine genaue Analyse zeigt, dass China protektionistisch operiert und die Vereinigten Staaten und Europa dramatisch und irreversibel schädigt. In Zukunft noch viel mehr als in der Vergangenheit. Nicht böse Absicht, sondern eine schwere Systemkrise im eigenen Land treibt dabei die chinesische Führung an.

China ist innerhalb einer Generation von der Autarkie zum größten Akteur im Welthandel aufgestiegen. Dies war mit historisch einmaligen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verbunden. Seit den frühen 1980er Jahren ist gemäß den offiziellen BIP-Zahlen die Wirtschaft um jährlich durchschnittlich 10 Prozent gewachsen. In den vergangen Jahren hat sich diesen Zahlen zufolge allerdings das Wachstumstempo verlangsamt – auf immer noch spektakuläre 7 Prozent pro Jahr. Ohne  Anspruch von Vollständigkeit lässt sich folgendes über Chinas Rolle in der Weltwirtschaft formulieren:

China hat essentiell von 1978 an das Wachstumsmodell Japans und Koreas repliziert. Es hat eine starke Fokussierung auf den Außenhandel mit einer Abschottung oder nur Partialöffnung des Binnenmarktes verbunden, aber mit wichtigen Modifikationen gegenüber Japan und Korea. Das Modell war exportorientiert, wobei zunächst die an den Küsten gelegenen Sonderwirtschaftszonen herausragende Bedeutung hatten. China offerierte sich dort als Plattform für ausländische Firmen mit speziellen rechtlichen, regulatorischen und steuerlichen Freiheiten und immensen Subventionen. Der Aufbau dieser Exportindustrie beruhte auf dem Import von Kapital, Technologie, Management Know-how und auf billiger einheimischer Arbeitskraft, welche vom Land in die Städte strömte, sowie auf Subventionen aller Art. Im Unterschied zu Japan und Korea waren also ausländische Unternehmen, typischerweise Multinationale, die Export-Promotoren Chinas. Sie standen von Beginn der Öffnung in enger Integration mit dem Weltmarkt, importierten Rohstoffe und Halbfabrikate aus dem Ausland und exportierten die Fertigprodukte wieder ins Ausland. Deshalb wird die Handelsbilanz von den Zollbehörden Chinas bis heute in US-Dollar erhoben und ausgewiesen. Der Inlandabsatz war diesen Multinationalen dagegen lange verwehrt – und wenn nicht, dann mit Umwegen verbunden. In Japan und Korea standen dagegen große, typischerweise familienbeherrschte inländische Konglomerate an der Spitze der Exportentwicklung.

Neben den Exportsektor spielten die Investitionen eine herausragende Rolle. Bei der Urbanisierung, dem Bau von Städten, Agglomerationen, Infrastrukturen, Verkehrsnetzen, Kraftwerken, Übertragungsleitungen und dem Wohnungsbau waren die staatlichen Unternehmen federführend.

Für die Erschließung des chinesischen Binnenmarktes mussten sich die ausländischen Unternehmen im Unterschied zur Exportindustrie erheblichen Restriktionen unterwerfen. Der Zugang zu diesem zahlenmäßig und potentiell auch ökonomisch größten Markt der Welt war von Beginn an mit starken Einschränkungen verbunden: Importe wurden erschwert, quantitativ begrenzt, durch Zölle verteuert oder verboten. In aller Regel mussten die ausländischen Investoren Joint Ventures (JV) mit einheimischen Unternehmen vor Ort eingehen. Diese waren oft oder zumeist staatlich und Mehrheitsaktionäre der JV. Die operative Führung wurde den ausländischen Unternehmen überlassen. Über diese Joint Ventures sollte es einen Technologietransfer vor allem in Sektoren geben, welche als strategisch wichtig für die Entwicklung angesehen wurden. Die Einschätzung, was strategisch wichtig sei, konnte über die Zeit hinweg auch variieren. Die ausländischen Unternehmen begnügten sich deshalb häufig damit, alte Technik in diese JVs einzubringen. Insgesamt war aber auch dieser Technologietransfer erfolgreich.

Das moderne China seit der Öffnung durch Deng Xiaoping 1978 hat also als Besonderheit eine im Grundsatz dualistische Struktur der Wirtschaft entwickelt: China kombiniert Exportpromotion mit Importsubstitution. Einer Exportpromotion zunächst vor allem für ausländische Unternehmen steht ein staatlich beherrschter oder wenigstens regulatorisch strikt kontrollierter Binnensektor gegenüber, der von ausländischer Konkurrenz abgeschottet ist und der durch einen erzwungenen Technologietransfer in Joint Ventures modernisiert werden soll. Natürlich ist das überzeichnet, aber die Grundtendenz entspricht diesem Muster – und zwar bis heute.

Von diesem Grundmuster treten Abweichungen und Modifikationen auf. Wo die Regierung keine Prioritäten für die einheimische Fertigung identifiziert, können ausländische Anbieter auch als Exporteure diesen Markt erschließen, ohne speziell behindert zu werden. Auch Konsumentenpräferenzen können dafür sorgen, dass ausländische Firmen keine Nachteile erleiden. Viele Unternehmen werden sich dennoch davon überzeugen, dass eine lokale Präsenz vor Ort vorteilhaft ist, um die Marktnähe in diesem Riesenmarkt ausnutzen und um allenfalls die Lieferketten optimieren zu können. Umgekehrt tritt der Staat zunehmend und bewusst auch selber als Exportpromoter auf. In französischer Weise werden nationale Champions, die aus der Binnenwirtschaft hervorgegangen sind, als Weltmarkt-Teilnehmer oder sogar -Führer etabliert – teilweise auch durch Zwangsfusionen. In der Zukunft sollen so sogar ganze Industrien an die Weltspitze katapultiert werden. Dabei akquirieren staatliche Unternehmen auch gezielt ausländische Unternehmen mit Spitzentechnologie in Zukunftsbranchen oder mit starker Marktstellung.

Im Falle Chinas ist die Rolle des Staates im ökonomischen Modernisierungsprozess immer noch überragend. Dies hat seine Wurzeln in der Geschichte, als die zentrale kaiserliche Bürokratie während Jahrtausenden für den Wasserbau und damit die Verteilung der Ressourcen für die Landwirtschaft zentral war. Das maoistische Erbe hat die herausragende Bedeutung des Staates noch gesteigert. Mao baute auf dem stalinistischen Industrialisierungsmodell auf und verstaatlichte oder kollektivierte allen Privatbesitz. Mindestens solange die kommunistische Partei in China an der Macht ist, wird in China ein grundsätzlich anderes Verständnis der Rolle des Staates als etwa in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten dominieren – mit Konsequenzen für Außenhandel und für die Währungspolitik. Und es nicht verwunderlich, dass die Parteiführung in Zeiten der Krise, deren Zeichen sich mehren, auf traditionell dirigistische Konzepte setzt.

Während der ganzen Periode seit Machtergreifung der Kommunistischen Partei traten Spannungen und dramatische Richtungswechsel zwischen der Zentrale und den Lokal- oder Provinzbehörden auf. Sie sind heute nicht entfernt mehr so gewalttätig wie in der maoistischen Periode, aber in ihrer Bedeutung gerade für den Welthandel nicht zu unterschätzen. In dieser kurzen Zusammenfassung ist es unmöglich, darauf vertieft einzugehen. Sie sollen lediglich kursorisch erwähnt werden.

Chinas Wirtschaftsentwicklung seit der Öffnung von 1978 hat verschiedene Perioden mit ganz unterschiedlichen Charakteristiken, Schwerpunkten und Zielsetzungen der Politik durchgemacht. Entsprechend unterschiedlich fallen in der wissenschaftlichen Literatur die Periodisierungen aus. Für den Außenhandel gibt es eine ganz klare Zäsur, die mit Chinas Eintritt in die WTO im Dezember 2001 verbunden ist. In den beiden Jahrzehnten am Ende des 20. Jahrhunderts war die Trennung zwischen Exportsektor und Binnenmarkt strikt. Die Binnenwirtschaft war von staatlichen Unternehmen bestimmt, wobei bis Mitte der 1990er Jahre die Lokalbehörden häufig Eigentümer waren. Das Wachstumsmodell war extensiv, die Zunahme des BIP wurde weitgehend durch die Beschäftigungsexpansion und durch den begleitenden Aufbau des Kapitalstocks getragen. Das Produktivitätswachstum und die Zunahme der Reallöhne waren noch niedrig. Im Prinzip wurden damit die Grundlagen des nachfolgenden Wachstumsprozesses geschaffen.

Die zweite Periode startete um die Jahrtausendwende und dauert bis heute an. Wichtigster Wendepunkt war der WTO-Eintritt Chinas im Dezember 2001. Dieser Eintritt löste einen Export- und Investitionsboom ohnegleichen aus.

Aus der Grafik geht deutlich hervor, dass Chinas Exporte und Importe geradezu explodierten. Dabei erwirtschaftete China erstmals auch massive und systematische Überschüsse in der Handelsbilanz. Sie sind gemäß den chinesischen Zollangaben auf 500 Milliarden Dollars angestiegen, dürften in der Realität aber höher sein. (gelbe Balken)

Manche Beobachter sehen den Startschuss zur Modernisierung bereits Mitte der 1990er Jahre. Unter dem ‚Wirtschaftszar‘ und späteren Ministerpräsidenten Zhu Rongji wurde der Wildwuchs der staatlichen Unternehmen aus den 1980er und frühen 1990er Jahre erfolgreich bereinigt. Die Zentrale übernahm die Macht, die lokalen Behörden wurden über die Finanzpolitik gezügelt. Die lokalen Körperschaften mussten ausgeglichene Haushalte erwirtschaften, sie konnten nicht mehr wie in der Vergangenheit defizitäre öffentliche Betriebe aufrechterhalten. Durch den Kreditstopp der Banken und die Haushalt-Disziplinierung der lokalen Behörden wurden viele staatliche Unternehmen entweder privatisiert und restrukturiert oder geschlossen. Die Banken wurden der faulen Kredite entledigt, indem sie in spezielle Giftmüll-Gefäße transferiert wurden. Innerhalb weniger Jahre wurden rund 50 Millionen Beschäftigte freigesetzt. Aufgrund dieser Restrukturierungen – Schließung unrentabler Betriebe und Massenentlassungen – ergaben sich schon ab 1996 erhöhte Produktivitätsgewinne.

Vom Ausland her repräsentiert jedoch der WTO-Beitritt im Jahr 2001 die wirkliche Zäsur. Dies gilt vor allem für die Vereinigten Staaten. Zwar gewährten die USA schon ab 1995 China den Status der Meistbegünstigung, d.h. der niedrigsten Zolltarife. Doch dieser Status musste Jahr für Jahr vom Kongress bewilligt und verlängert werden. Dies war eine unsichere Sache, weil im Kongress aus politischen Gründen erhebliche Vorbehalte gegenüber China bestanden. Erst der WTO-Beitritt schuf die endgültige Sicherheit. Von diesem Zeitpunkt an explodierten die Direktinvestitionen amerikanischer und anderer ausländischer Unternehmen in China. Das WTO-Abkommen schrieb einen massiven Zollabbau vor, aber auch vor allem eine Rechtssicherheit für die ausländischen Unternehmen. In der Praxis kamen dann Exportsubventionen Chinas für die investierenden Unternehmen hinzu, welche das Outsourcing aus den Industrieländern begünstigten. Diese Exportsubventionen widersprachen dem Inhalt des WTO-Abkommens. Sie sind am Beispiel von Apple dokumentiert worden. Die zentrale Rolle ausländischer Multinationaler beim Export geht aus der folgenden Grafik deutlich hervor:

Zu den Sektoren, welche sofort und beschleunigt in den 2000er Jahren die Produktion nach China verlagerten, gehörte vor allem die amerikanische Technologie-Industrie: Computer, Peripheriegeräte, Bildschirme, Halbleiter, Audio- und Videoausrüstung, Telefonie-, Mobil- und zuletzt Smartphones, Netzwerk- und Übertragungstechnik. Dadurch gingen Millionen von Jobs in den USA verloren beziehungsweise entstanden dort gar nicht. Heute fehlen dieser Industrie die Lieferketten in den USA. Viele Produkte werden gar nicht mehr hergestellt. Das Land, welches in Forschung und Entwicklung führend bzw. absolut dominant ist, hat beschäftigungsmäßig relativ wenig davon. Dafür ist China der wichtigste Arbeitgeber dieser Industrie.

Am Beispiel von Apple wurde versucht aufzuzeigen, welche push- und pull-Faktoren zu dieser verzerrten Entwicklung beigetragen haben: Zuvorderst der amerikanische Steuerkodex, der die Produktions-Auslagerung begünstigt, dann die teils enormen Exportsubventionen durch China auf Stadt-, Provinz und Landesebene. Dazu gehören Land, das gratis oder zu symbolischen Preisen überlassen wird; Steuerbefreiungen für Gewinn-, Import- und Mehrwertsteuern sowie Beihilfe zur globalen Steueroptimierung; staatliche Eigen- und Fremdkapital-Beiträge sowie Infrastrukturhilfen; ein industrielles Arbeitsheer, das durch den Staat für firmenspezifische Zwecke trainiert, und durch repressive, diskriminierende (Wanderarbeiter) und teilweise sklavenähnliche Praktiken diszipliniert wird. Apple ist das Symbol dieser Entwicklung, aber keineswegs allein oder besonders hervorstechend.

Die zweite große Industrie, die Hunderttausende von Jobs in den USA wie in Westeuropa verlor, ist die Textil-, Bekleidungs-, Schuh- und Lederindustrie. Auch sie wurde im großen Stil nach China verlagert. Intuitiv würde man dies als normal empfinden. Doch auch diese Leichtindustrien Chinas profitierten von denselben Faktoren wie die Technologie-Branche. Ihr Aufbau wurde von China extrem unterstützt, weil das zeitgleiche Auslaufen des Multifaser-Abkommens im Jahr 2005 der Textil- und Bekleidungsindustrie ein enormes Wachstumspotential verlieh. Alle Mengen- und Zollbeschränkungen für Importe aus Schwellenländern nach den USA oder nach Westeuropa wurden damit abgeschafft – auch für Schuhe und Lederwaren. China schuf denn auch spezialisierte Sonderwirtschaftszonen für die Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie, wo den international tätigen Unternehmen dieses Sektors großzügige Unterstützung gewährt wurde.

Über diese beiden Branchen lagerten ein breites Spektrum von Industrien ihre Produktion nach China aus: Elektroindustrie, Metallwaren, elektrische Haushalt- bis hin zu HiFi-Geräten und Fernsehen, Möbel, Inneneinrichtungen und viele andere mehr.

Auffällig an der Grafik der Exportwerte ist, dass der Anteil der Unternehmen mit ausländischer Beteiligung zunächst auf rund 60 Prozent aller Exporte Chinas anstieg. Diese Aktivität der ausländisch beherrschten Unternehmen verlangsamte sich allerdings und stagnierte ab 2008, während chinesische Unternehmen, meist Staatsunternehmen, die Exporttätigkeit praktisch ungebremst weiter ausdehnten und heute fast 60 Prozent aller Exporte tätigen. Die Qualität dieser Daten ist schwierig zu beurteilen. So ist fraglich, ob die iPhone-Lieferungen von Apple aus den speziellen Zollzonen effektiv korrekt erfasst sind. Was aber daraus hervorgeht, ist das starke Wachstum der Lieferungen von chinesischen Unternehmen.

Zhu Rongji war es auch gewesen, der auf chinesischer Seite den Beitritt Chinas zur WTO forcierte, in mühsamen Verhandlungen vor allem mit den USA, aber auch mit erheblichen Widerständen in China selbst. Im Rückblick wurde China zur WTO überhastet und unter viel geringeren Auflagen und vor allem Kontrollmechanismen zugelassen. Das Land versprach das, was die andere Seite hören wollte, änderte seine Handelspraktiken in der Realität aber nur zäh oder gar nicht. Kern des WTO-Beitritts Chinas waren die Elemente des Washington Konsensus. China mit seinem Staatskapitalismus hat sich nicht etwa in diese Richtung bewegt. China hielt vielmehr an seiner Politik der Importsubstitution fest.

Der WTO-Eintritt bedeutete aber auch für die Binnenwirtschaft eine Zäsur. Denn viele bisherige Praktiken wurden damit für nicht WTO-konform erklärt. Viele Gesetze, Vorschriften und Verordnungen mussten abgeschafft, angepasst oder ersetzt werden. Die diesbezüglichen Voraussetzungen waren teilweise bereits vorausgehend oder begleitend geschaffen worden. Damit verbunden war eine Privatisierung bisher staatlicher Unternehmen. Der Anteil des staatlichen Sektors an Wertschöpfung und Beschäftigung ging deutlich zurück. Er fiel gemäß offiziellen Zahlen von 70 Prozent auf rund 30-40 Prozent heute. Genaue Zahlen sind nicht erhältlich, weil hinter vielen scheinbar privaten Unternehmen in letzter Instanz gleichwohl der Staat als ultimativer Eigner und Kontrolleur steht. Der Anteil staatlicher Unternehmen an den Investitionen hingegen blieb schon in den offiziellen Zahlen sehr hoch. Das Wachstumsmodell änderte sich fundamental.

Der Beitrag des Beschäftigungswachstums zum BIP-Wachstum ging deutlich zurück, während das Gros von erhöhten Investitionen und damit verbunden Produktivitätszuwächsen kam. Charakteristisch waren die enorm erhöhten Investitionsquoten, d.h. der Anteil der Investitionen am Bruttoinlandsprodukt. Sie stiegen in zwei Etappen an. Zunächst mit dem Eintritt in die WTO auf über 40 Prozent des BIP. Seit 2009 überstiegen sie die Quote von 45 Prozent und erreichten fast 50 Prozent, was historisch und im internationalen Vergleich einzigartig ist. Diese Quoten sind auf der Basis von nominellen Werten berechnet. Das Wachstumsmodell beruhte noch mehr auf erhöhter Kapitalintensität (engl. capital deepening). Aufgrund der Produktivitätszuwächse und der Zunahme der Beschäftigung hin zur Vollbeschäftigung begannen die Reallöhne seit der Jahrtausendwende zu steigen. Damit wurde auch der private Konsum stimuliert. Es entstand eine große, kaufkräftige Mittelklasse. Sichtbarster Ausdruck waren die Zunahme des privaten Wohnungsbesitzes, der Automobildichte sowie die Gewährung von Ferien, die auch zu Auslandreisen und zum inländischen Tourismus führten. In den Städten ist heute die Mehrzahl der Einwohner im Besitz der Wohnung. Die rechtlichen Grundlagen des Privateigentums an Wohnungen waren 1998 geschaffen worden. Vorher gab es praktisch nur staatlich gebaute Mietwohnungen.

Als Beispiel für das veränderte Konsumverhalten, aber auch für die Praktiken in der Binnenwirtschaft, sei hier der Automobilbau angeführt. Die Fahrzeugproduktion war einer der klassischen geschützten Sektoren der chinesischen Wirtschaft mit Importzöllen von 80 bis 100 Prozent. Bis zum WTO-Beitritt war seine Bedeutung aber sehr gering. Seit dem WTO-Beitritt ist der Fahrzeugbau direkt und indirekt zu einer der wichtigsten verarbeitenden Industrie der Binnenwirtschaft geworden.

Durch den WTO-Beitritt wurden die Importzölle für Personenwagen bis 2006 abgesenkt – auf immer noch hohe 25 Prozent. Sie summieren sich mit Mehrwertsteuern und spezifischen Konsumsteuern, die praktisch nur für importierte Fahrzeuge erhoben werden. Die Importzölle sind dadurch bis auf den Import von Premium-Fahrzeugen und von Luxuskarossen prohibitiv. Zusätzlich wurden Autoteile als Vorleistungen mit einem Zoll von 13 Prozent, später 10 Prozent belegt. Entsprechend importieren manche Hersteller Komponenten und lassen sie in China nur montieren. Vor allem aber verbesserte der WTO-Beitritt Chinas den Rechtsstatus und den Ausblick für die ausländischen Unternehmen. Schließlich setzte Bejing eine neue Politik für die Verkehrs-Infrastruktur um: Das Land setzte auf die Automobilisierung. Daher explodierten Autoproduktion und -absatz von sehr niedrigen Niveaus aus nach dem Beitritt zur WTO. Sie machten China schon 2009 zum größten Fahrzeugmarkt der Welt. Seither hat China den Rest der Welt abgehängt.

Die Automobilindustrie ist besonders instruktiv für das Verhalten Chinas seit dem Beitritt zur WTO im Dezember 2001. Die Importe sind volumenmäßig relativ zur inländischen Produktion unbedeutend. Sie werden durch Zölle und andere Handelsschranken eng begrenzt. China hat damals mit dem WTO-Beitritt unterzeichnet, dass es keine Importbarrieren errichten, seinen Binnenmarkt anders als in der Vergangenheit öffnen, staatliche Unternehmen nicht mehr bevorzugen, keinen Technologietransfer mehr erzwingen und keine staatlichen Subventionen an die Unternehmen mehr ausschütten werde. Das sind wesentliche Inhalte der WTO-Abkommen. Zum exakt gleichen Zeitpunkt wurde der Startschuss gegeben für die Entwicklung der Autoindustrie – in den Industrieländern die wichtigste Industrie bis heute. Für die Entwicklung einer modernen Volkswirtschaft ist die Automobilisierung ein einzigartiger Wachstumsimpuls. In den USA schon in den 1910er und 1920er Jahren, in voller Breite wie in Europa, Japan oder Korea erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Durchsetzung der Autoindustrie enorme Kopplungs-, Akzelerator- und Multiplikator-Effekte ausgelöst – dies über Jahrzehnte hinweg. Mit der Massen-Motorisierung waren der Straßen- und Autobahnbau, der Aufbau eines Tankstellennetzes, von Lagern, Transport- und Umlade-Stationen, Werkstätten, Garagen, Servicestationen, von touristischen Infrastrukturen usw. verbunden. Ganz zu schweigen von der Autoindustrie selbst, welche alle möglichen vor- und nachgelagerten Branchen wie die Stahl-, Metall-, chemische oder Kunststoff-Industrie stimuliert und indirekt den Maschinenbau, Banken und Versicherungen beflügelt. Die gewaltigen notwendigen Investitionen haben in China Millionen von Arbeitsplätzen, steigende Realeinkommen und Konsum geschaffen.

Zum gleichen Zeitpunkt, als dieser Take-off losgetreten wurde, hatte China das WTO-Abkommen unterschrieben – und machte später das Gegenteil von dem, was dort vertraglich festgelegt worden war: Prohibitive Importzölle von 25 Prozent, zunächst als Übergangslösung festgelegt, wurden zum Dauerzustand. Sie verhindern Autoimporte außer für Oberklassen- und Luxuskarossen – bis heute. Die ausländischen Autohersteller werden gezwungen, in Joint Ventures mit staatlichen einheimischen Herstellern, Mehrheit praktisch immer beim Staat, die Autos zu produzieren. Die ausländischen Hersteller müssen dort ihre IP einbringen. In nicht wenigen Fällen entdeckten sie dann über die Zeit hinweg, dass die Pläne und Konstruktionsdetails auf einmal auch bei den Muttergesellschaften ihrer JV-Partner auftauchen und dort zur Abkürzung von Entwicklungsaufwendungen verwendet werden. Keine Chance, dies auf juristischem oder politischem Weg zu verhindern oder zu bestrafen. Die einheimischen Hersteller erhalten Subventionen aller Art von verschiedenen staatlichen Stellen: Eigenkapital und Darlehen von der Stadt- oder Provinzregierung, welche so eine Wachstumsindustrie ansiedeln wollen. Die Zentralregierung schreibt als Bedingung für die Zulassung eines neuen Fahrzeugherstellers einen Mindestanteil chinesischer Lieferungen vor, häufig von 40 Prozent beim Start und von 80 Prozent innerhalb weniger Jahre. Schließlich vergibt der Staat Subventionen an jene Unternehmen, welche eine bestimmte Exportquote erreichen. Das sind alles Praktiken, die dem Buchstaben und Geist des WTO-Abkommens widersprechen.

Auch heute, 15 Jahre nach Unterzeichnung des WTO-Abkommens, ist diese für die Binnenwirtschaft maßgebliche verarbeitende Industrie Chinas vom Geist der Importsubstitution getränkt – sogar mehr denn je. Das mag für ein normales Schwellenland legitim sein, aber nicht mehr für das größte Land im Welthandel. Es steht zudem im fundamentalen Widerspruch zu den WTO-Verträgen, die China unterschrieben hat, um sich den ungehinderten Zugang zu den westlichen Absatzmärkten zu verschaffen. Zudem verwendet China dort anders als viele andere Schwellenländer auf breitester Basis Formen der Absatzförderung, die schlichtweg inakzeptabel sind.

In China, dem mit Abstand größten und schnellst wachsenden Automarkt der Welt, ist nicht nur Realität, was Donald Trump für den amerikanischen Automarkt angekündigt hat: Prohibitive Importzölle zur Marktabschottung. Darüber hinaus ist ein ganzes Arsenal an Investitions- und Handelspraktiken Standard, die auf der schwarzen Liste der WTO stehen: Für ausländische Hersteller nur Produktion in Joint Ventures, die mehrheitlich im Staatsbesitz sind; erzwungener Technologietransfer; teilweise sogar staatlich angeordneter Diebstahl von geistigem Eigentum; hohe Subventionen für einheimische, zumeist staatliche Hersteller, insbesondere auch um das Exportgeschäft anzukurbeln. Der an strikte Regeln gebundene ‚freie Welthandel‘, um den es angeblich erst mit Trump so schlecht bestellt sein wird, ist in Bezug auf China eine Wunschprojektion, welche mit der ökonomischen Realität nichts gemeinsam hat. Dabei spielt eine Rolle, dass die im betreffenden Sektor tätigen Unternehmen nicht klagen können.

Dass dies nicht so wahrgenommen wird, dafür spielt eine Rolle, dass die im betreffenden Sektor tätigen Unternehmen nicht klagen können. Für die globale Autoindustrie ist der chinesische Markt ein enormes Geschenk – starkes Wachstum, hohe Margen. Aber die Arbeitsplätze entstehen fast ausschließlich in China und nur wenige in Europa oder in den USA. Bei den Branchen, wo China amerikanische und europäische Produzenten verdrängt hat, sind sie ohnehin in China konzentriert. Makroökonomisch ist der freie Welthandel bei so ungleich angewandten Regeln ein Beschäftigungstransfer aus den USA und Europa nach China.

Die Europäische Union hat im Durchschnitt aller Branchen Zolltarife von rund 2 Prozent. Diese Form von Freihandel ist ein Einfallstor für Importe. China hat 25 Prozent auf Autos, das mit Abstand wichtigste Konsumgut. Im nächsten Artikel wird gezeigt werden, wie sich dies in Kombination mit Auflagen und zusätzlichen Abgaben auf den chinesischen Automarkt und auf die Globalisierung der Autoindustrie ausgewirkt hat und noch auswirken wird. Eine Konsequenz ist klar: Die Subventionierung einheimischer Hersteller wirkt sich in einer erheblich latenten Überkapazität aus – genauso wie in vielen anderen Branchen der chinesischen Wirtschaft. Die Kapazität beträgt heute je nach Schätzung 35-40 Millionen Fahrzeuge pro Jahr – und fieberhaft werden von allen Herstellern weitere Ausbauschritte vorangetrieben.


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