Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) ist beim Treffen mit seinen Nato-Kollegen auf Konfrontationskurs zu der US-Forderung nach massiv erhöhten Verteidigungsausgaben gegangen. Es sei "völlig unrealistisch zu glauben, dass Deutschland einen Militärhaushalt von über 70 Milliarden Euro pro Jahr erreicht", sagte Gabriel am Freitag in Brüssel.
Gabriel verwies in dem Zusammenhang auf Syrien und den Irak: „Wir Deutschen geben derzeit sehr viel Geld dafür aus, Flüchtlinge aufzunehmen, die zu uns kommen, weil Militärinterventionen fehlgeschlagen sind und weil es keine Stabilisierung danach gegeben hat. Wir sehen also, was es bedeutet, wenn man sich nur auf Militärausgaben konzentriert.“
"Die Beschlüsse der Nato kennen kein apodiktisches Zwei-Prozent-Ziel", sagte Gabriel. "Das gibt es nicht, sondern es gibt einen Auftrag aus Wales, sich in diese Richtung zu entwickeln." Er forderte, den Sicherheitsbegriff nicht nur auf Militärausgaben zu reduzieren, sondern auch Ausgaben für humanitäre Hilfe und Stabilisierung einzubeziehen.
Die Nato hatte bei ihrem Gipfel 2014 in Wales vereinbart, die Verteidigungsausgaben binnen eines Jahrzehnts "Richtung zwei Prozent" der Wirtschaftsleistung zu steigern. US-Präsident Donald Trump verlangt vor diesem Hintergrund von den europäischen Verbündeten, ihre Militärausgaben massiv zu erhöhen. Im Wahlkampf hatte er sogar die Beistandsgarantie für Nato-Mitglieder in Frage gestellt, die nicht genügend in Verteidigung investieren.
Die von Gabriel genannte Zahl von 70 Milliarden Euro trifft etwa die Größenordnung, die nötig wäre. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2016 etwa 3,133 Billionen Euro. Zwei Prozent davon ergeben etwa 62,67 Milliarden Euro. Nichtsdestotrotz erscheint die von der Nato aufgestellte 2-Prozent-Regel verharmlosend, weil sie sich auf die gesamte Wirtschaftsleistung vor den Ausgaben des Staates bezieht und deshalb überproportional groß ist. Der Bundeshaushalt des laufenden Jahres wird etwa 329,1 Milliarden Euro betragen.
Würde Deutschland schon heute das 2-Prozent-Ziel einhalten, müssten in Deutschland rund 20 Prozent des Haushalts auf Rüstungsausgaben entfallen. Derzeit sind mit etwa 37 Milliarden etwa 11 Prozent für Verteidigungsausgaben vorgesehen.
Wenn man dies mit den USA vergleicht, sieht die Lage ganz anders aus: Der Verteidigungsetat der USA betrug im Jahr 2015 rund 580 Milliarden Dollar, der Haushalt etwa 6,3 Billionen. Damit betrugen die Ausgabe fürs Militär in den USA gerade einmal 9,2 Prozent des Haushaltes.
Noch extremer ist es bei den Briten, die den Deutschen immer vorwerfen, zu wenig zu tun: Der Verteidigungsetat Großbritanniens betrug im Jahr 2016 rund 60,4 Milliarden Dollar, der Haushalt etwa 765 Milliarden Pfund (950 Milliarden Dollar). Damit betrugen die Ausgabe fürs Militär in Großbritannien magere 6,3 Prozent des Haushaltes.
Die Polen, die ebenso wie Großbritannien die geforderten 2 Prozent erfüllen, kommen auf einen höheren Wert als Großbritannien und die USA: Der Verteidigungsetat Polens betrug im Jahr 2015 rund 12,6 Milliarden Dollar, der Haushaltsentwurf für 2016 etwa 90 Milliarden Dollar. Dadurch kann angenommen werden, das die Ausgaben fürs Militär in Polen etwa 14 Prozent des Haushaltes betrugen - was aber auch noch deutlich weniger wäre als die von Deutschland geforderten 20 Prozent.
Die Erfüllung der Nato-Forderungen erscheinen noch unrealistischer, wenn man die zusätzlichen finanziellen Belastungen für Flüchtlinge berücksichtigt. Wie aus einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hervorgeht, könnte die Unterbringung, Verpflegung sowie Integrations- und Sprachkurse für Flüchtlinge den Staat in den Jahren 2016 und 2017 insgesamt knapp 50 Milliarden Euro kosten.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, höhere Verteidigungsausgaben alleine seien für die Reform der Nato nicht ausreichend. "Es geht nicht nur um Geld", sagte er. Und es gehe auch nicht darum, "den Vereinigten Staaten eine Freude zu machen". Wichtig sei, dass die Nato-Mitglieder dem Bündnis die notwendigen Kapazitäten zur Verfügung stellten und sich an Einsätzen und Missionen beteiligten.
US-Außenminister Rex Tillerson, der erstmals an einem Trefen mit seinen Nato-Kollegen teilnahm, verlangte aber konkrete nationale Ausgabenpläne, um die Nato-Vorgaben zu erreichen. Ziel müsse es sein, sich beim Nato-Gipfel am 25. Mai darauf zu verständigen, solche Pläne bis Jahresende zu erstellen. Sie sollten "jährliche Meilensteine mit Fortschrittsverpflichtungen" enthalten.
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen positionierte sich dagegen auf der Seite der Nato und der Amerikaner und gegen Gabriel. Sie brachte einen etwas seltsamen Vergleich: "Das klingt schon wieder sehr nach einem 'Deutschen Sonderweg'", erklärte von der Leyen am Freitag in Berlin. "Was für alle unsere Partner in der NATO gilt, soll für uns nicht gelten? Die anderen strengen sich an, wir halten uns zurück. So funktioniert die Allianz nicht." Tatsächlich wäre die massive Aufrüstung ein Sonderweg – denn nur fünf Nato-Mitglieder halten sich an die Vereinbarung, was Trump im übrigen auch immer kritisiert hatte.
Von der Leyen sagte: "Unsere Nachbarn haben eher Sorge, dass Deutschland weiter zu wenig in die gemeinsame Sicherheit investiert", erklärte sie. Niemand erwarte, dass die zwei Prozent "hier und heute" erreicht würden. "Es geht um eine vernünftige, stufenweise Steigerung des Haushalts, die die Bundeswehr dringend braucht."
"So gut wie alle Konflikte unserer Tage zeigen, dass es beides braucht: Sicherheit und Lebensperspektiven für die Menschen in den Krisengebieten", erklärte von der Leyen. Die Verteidigungsministerin scheute auch nicht davor zurück, Gabriel anzugreifen: "Wer das eine publikumswirksam gegen das andere ausspielt, erhält vielleicht Applaus, wird aber keinen der komplexen Konflikte unserer Zeit lösen."