Politik

EZB überfordert: Nachfolger von Draghi erbt einen Scherbenhaufen

Wer auch immer Draghis Nachfolger wird: Er erbt einen Scherbenhaufen, den nicht allein die EZB verschuldet hat.
28.05.2017 00:36
Lesezeit: 6 min

Seit Tagen wird über die Nachfolge des amtierenden Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, diskutiert. Dabei endet die Periode erst 2019, sodass das Thema an und für sich nicht aktuell wäre.

Ausgebrochen sind die Debatten und die dazugehörenden Intrigen allerdings, weil fast alle Regierungen nur überleben, solange Draghi die Staaten unbegrenzt zu niedrigsten Zinsen finanziert. Ein Ende dieser Politik wäre also für viele fatal und so wird ein Kandidat zur Bedrohung: Der Präsident der Deutschen Bundesbank, Jens Weidmann, hat sich als einziger im Rat der EZB in den vergangenen Jahren offen und vehement gegen Draghis Billig-Geld-Schwemme gewehrt. Und nun ist es durchaus möglich, dass Weidmann Präsident der EZB wird und die Politik des lockeren Geldes beendet.

Also gilt es, jedenfalls aus der Sicht der Länder mit chronischer Geldnot, rechtzeitig alles zu unternehmen, um Weidmann zu verhindern. Womit das Thema doch aktuell ist.

Geld-Schwemme verschleiert Schuldenkrise der Euro-Staaten

Das Ausmaß der Gefahr, die den Staaten bei einer restriktiven Währungspolitik droht, ist rasch in Zahlen ausgedrückt. Die Schulden der Euro-Länder betragen knapp 10.000 Milliarden Euro. Wären die Zinsen nur um einen Prozentpunkt höher, so müssten zusätzlich 100 Milliarden Euro bezahlt werden.

Das gesamte Defizit der Euro-Staaten beträgt derzeit knapp 158 Milliarden Euro im Jahr. 1 Prozent höhere Zinsen würden also das Defizit auf 258 Milliarden Euro in die Höhe schnellen lassen. Nachdem aber eine realistische Verzinsung von Anleihen einen weit größeren Anstieg bewirken müsste, wäre die gesamte Euro-Zone in einer Defizit-Krise.

Oder deutlicher formuliert: Die Euro-Zone befindet sich tatsächlich in einer Staatsschulden-Krise, die Mario Draghi mit der Billig-Geld-Schwemme verschleiert. Höhere Zinsen hätten jedenfalls in Frankreich und Italien sowie in Spanien und Griechenland katastrophale Folgen, aber auch Deutschland könnte bei höheren Zinsen das Null-Defizit nicht halten.

Sparer oder Steuerzahler geplündert

Die von Draghi betriebene Politik geht zu Lasten der Sparer. Die niedrigen Zinsen gelten naturgemäß nicht nur für die Staaten, sondern bestimmen generell das Niveau und verhindern eine Abgeltung der Teuerung, auch wenn diese im historischen Vergleich nicht hoch ist. Ein Realertrag ist also nicht zu erzielen. Darunter leiden alle Sparformen von den Einlagen bei den Banken bis zu den Lebens- und Renten-Versicherungen. Unter den aktuellen Bedingungen ist der Aufbau einer Altersvorsorge extrem schwierig und dies ist angesichts der hohen und steigenden Lebenserwartung besonders problematisch.

Die Sparer und Anleger würden sich somit über höhere Zinsen freuen. Allerdings wäre die Freude rasch getrübt. Die Staaten müssten höhere Zinsen zahlen, wodurch die Defizite explodieren. Die nächste Reaktion bestünde in der Anhebung der Steuern und Abgaben, die in der Euro-Zone ohnehin schon extrem hoch sind. Somit bedeutet eine Abkehr von der Draghi-Politik allein noch keine Lösung.

Die Lösung kann nur in einer Sanierung der Staatshaushalte bestehen, die aber nicht erfolgt. Nichts genützt haben die bereits 1992 festgelegten Maastricht-Kriterien, die die Staaten disziplinieren sollten. Nichts genützt haben die Phasen höherer Zinsen, die die Bereitschaft zur Aufnahme immer neuer Schulden bremsen sollten. Also ist nicht anzunehmen, dass eine neuerliche Periode realistischer Zinsen einen erzieherischen Effekt haben werde.

Das Kernproblem Rentendauer

Ein zentraler Grund für die Krise der Staatsfinanzen ist der Umstand, dass in vielen Staaten die Auswirkungen der Alterung der Bevölkerung sträflich unterschätzt werden. Millionen gehen rund um den 60. Geburtstag, viele sogar früher in Pension. Bei einer Lebenserwartung von deutlich über 80 Jahren, dauern die Rentenzahlungen über 20 Jahre.

Man betrachtet dabei meist nur die Kosten der Renten und berücksichtigt nicht den Doppeleffekt, dass diese Personen keine Steuern und Abgaben bezahlen. Außerdem entstehen im Alter erhöhte Kosten für medizinische und pflegerische Leistungen. Die überwiegend in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschaffenen Systeme gingen von der Annahme einer durchschnittlichen Rentendauer von 5 Jahren aus. Durch das Wirtschaftswachstum erwies sich eine Dauer von etwa 10 Jahren als finanzierbar. Nun sind die Pensionsversicherungen überfordert und ruinieren zahlreiche Staaten. Länder, wie Deutschland, die frühzeitig die Leistungen gedrosselt haben, müssen sich mit dem Problem der drohenden Altersarmut auseinandersetzen.

Die Forderung nach einer Sanierung der Staatshaushalte heißt im Klartext eine deutliche Anhebung des Rentenantrittsalters. Eine Anhebung des Rentenantrittsalters bedeutet, wieder im Klartext, die Schaffung eines extrem flexiblen Arbeitsmarkts, der in den meisten Euro-Ländern nicht gegeben ist. Deutschland und Österreich bilden da vergleichsweise rühmliche Ausnahmen durch das Fehlen extremer Kündigungsschutz-Regeln, obwohl auch hier Verbesserungen hilfreich wären.

Kein Präsident der EZB kann die tatsächlichen Probleme lösen

Kein Präsident der EZB kann die Regierungen zur Korrektur ihrer Politik bewegen. Draghis Nachfolger wird sich in erster Linie als Manager der Zentralbank betätigen müssen. Die Bank hat bereits über 1.700 Milliarden Euro-Staatsanleihen übernommen, also einen beachtlichen Anteil an den insgesamt 10.000 Milliarden Schulden, und baut dieses Programm jedenfalls bis zum Jahresende 2017 weiter aus. Was 2018 geschieht, ist noch offen, aber jedenfalls wird der neue Präsident 2019 eine gigantische Summe an Forderungen vorfinden, die angesichts der Geldnot der Schuldner-Staaten schwer einbringlich ist.

Es handelt sich also um eine Krisen-Bank, deren Sanierung in einem Teufelskreis gefangen ist. Die Träger der Bank sind die Staaten, deren Schulden die Bank finanziert. Dabei sollten die Staaten die Bank mit zusätzlichem Kapital zur Absicherung der Forderungen ausstatten, Forderungen, die aber gegen die Staaten bestehen. Folglich sind alle Voraussetzungen für eine Explosion gegeben, die auch den Euro in Mitleidenschaft zu ziehen droht.

Um die Katastrophe zu verhindern, muss der nächste Präsident wahre diplomatische, politische und währungstechnische Wunder vollbringen. Es wäre hilfreich, würde man sich in der EZB schon jetzt den Herausforderungen stellen:

  • Die Zinsen sind anzuheben. Moderat. Geschieht dies zu stark und zu rasch, stürzen die Kurse aller niedrig verzinsten Anleihen ab und auch die Preise der Anleihen und Immobilien kommen unter Druck. Außerdem würden die Staats-Defizite explodieren.
  • Der Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB ist zu beenden. Die Staaten haben die weiteren Defizite zu den moderat angehobenen Zinsen über den Markt zu finanzieren.
  • Der Bestand an Anleihen in der EZB muss durch pünktliche Tilgungen langsam abgebaut werden, um das Vertrauen in die EZB zu bewahren.
  • Das Kapital der EZB ist anzuheben, allerdings in kleinen Tranchen. Eine spektakuläre Erhöhung würde ein Krisensignal darstellen.

Mit diesen und weiteren Maßnahmen könnte die EZB aus der Krisenzone herausgeführt werden, in die sie durch die Draghi-Politik geraten ist.

Die tatsächlichen Probleme der Euro-Zone, die hohen Staatsausgaben, das frühe Rentenantrittsalter, der starre Arbeitsmarkt, die angehäuften Schulden, blieben jedoch ungelöst und würden durch das Ausbleiben der Billig-Geld-Schwemme zu großen politischen Spannungen führen. Spannungen, die die skizzierte Sanierung der EZB in Frage stellen könnten.

Missachtung der Gesetze

Dass eine Zentralbank nicht die Wirtschaftspolitik ersetzen kann, ist keine neue Erkenntnis. Dementsprechend wurde auch in den gesetzlichen Regeln der EU verankert, dass genau die Politik, die Draghi nun schon seit Jahren betreibt, ausdrücklich verboten ist.

Im Vertrag über die Arbeitsweise der Union heißt es im Artikel 123 wörtlich:

„Überziehungs- oder andere Kreditfazilitäten bei der Europäischen Zentralbank oder den Zentralbanken der Mitgliedstaaten für Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union, Zentralregierungen, regionale oder lokale Gebietskörperschaften oder andere öffentlich-rechtliche Körperschaften, sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentliche Unternehmen der Mitgliedstaaten sind ebenso verboten wie der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die Europäische Zentralbank oder die nationalen Zentralbanken.“

Diese Bestimmung ist auch wörtlich in die Satzung der EZB übernommen worden.

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung sehr wohl zur Kenntnis genommen, wollte aber im Januar 2014 keinen Alleingang unternehmen und schaltete den Europäischen Gerichtshof ein. Dieser kam im Juni 2015 zu der verblüffenden Erkenntnis, dass die EZB-Politik mit dem Artikel 123 vereinbar sei. In der Folge fanden auch die deutschen Verfassungsrichter, dass man den zitierten Artikel anders verstehen könne. Letztlich haben die Richter die gesetzlich verankerten Bremsen gelockert.

In diesem Zusammenhang ist auch auf den Artikel 125 zu verweisen:

„Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.

Ein Mitgliedstaat haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens."

Der Artikel 125 hätte schon das Management der Griechenland-Krise bestimmen müssen. Angesichts der Situation der Europäischen Zentralbank entsteht eine Herausforderung besonderer Dimension. Die Mitliedstaaten stehen vor der Notwendigkeit, gemeinsam die Währungspolitik wieder auf eine gesunde Basis zu stellen. Um diese Aufgabe zu bewältigen, ist ein kooperatives Verhalten unvermeidlich, sodass indirekt die Draghi-Politik nicht nur den Artikel 123, sondern auch den Artikel 125 in Frage stellt. Die EU und insbesondere die Euro-Zone waren bewusst von vornherein nicht als Transfer-Union, also als eine Art Genossenschaft von Staaten, die einander helfen, konzipiert. Der Weg scheint jetzt unvermeidlich zu sein.

Zinspolitik nicht Wissenschaft, sondern Kunst

Zinspolitik wird grundsätzlich über- und unterschätzt. Vor allem in hoch entwickelten Wirtschaften muss die Währungspolitik auf viele Faktoren Rücksicht nehmen. Dass die aktuell extrem niedrigen Zinsen wie Morphium wirken und die Regierungen in der Illusion wiegen, sie könnten auf eine konstruktive Politik verzichten, ist erwiesen. Dass dieselben niedrigen Zinsen die Sparguthaben dezimieren, auch. Hier sei aber auch an die Phasen erinnert, in denen die Deutsche Bundesbank in der D-Mark-Ära extrem hohe Zinsen erzwungen hat. Die Sparer und Anleger jubelten. Allerdings war es günstiger, Geld in Anleihen und nicht zuletzt in Staatsanleihen anzulegen, als in den Bau von Fabriken zu investieren. Die Vermögenden wurden reicher, Kreditnehmer wurden von einem plötzlichen Anstieg der Kreditkosten überrascht.

Aus diesen gegensätzlichen Erfahrungen lässt sich die Forderung ableiten, die Währungspolitik sollte eine möglichst neutrale Zinspolitik betreiben. Sicher können höhere Zinsen eine überhitzte Konjunktur dämpfen. Ohne Zweifel tragen niedrige Zinsen zur Belebung der Konjunktur bei, allerdings nicht, wenn ein Regelwerk wie Basel III die Vergabe von Krediten unabhängig von den Kosten bremst. Zinspolitik muss auf enorm viele Auswirkungen achten und flexibel auf die verschiedensten Entwicklungen reagieren – letztlich ist Zinspolitik eine Kunst, die Draghis Nachfolger hoffentlich beherrschen wird.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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