Finanzen

Italien: Europa ist völlig hilflos, wenn die Nord-Südroute ausfällt

Die italienische Wirtschaft fordert Konsequenzen nach dem Eisenbahn-Desaster bei Rastatt.
02.11.2017 00:27
Lesezeit: 3 min

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Die Eisenbahnverbindung zwischen Genua und Rotterdam war bei Rastatt für viele Wochen unterbrochen. Wie wichtig ist sie für die italienische Wirtschaft?

Guido Ottolenghi: Vor dem Unfall am 12. August passierten täglich 200 Güterzüge und 130 Passagierzüge die Rheintalbahn bei Rastatt. Die Strecke verbindet das Mittelmeer mit der Nordsee, die Häfen von Genua und Rotterdam und damit die am stärksten industrialisierten Regionen Europas. Für Italien ist Rastatt und der gesamte Korridor die wichtigste Bahnverbindung in den Norden Europas. Über die Schweiz wurden im Jahr 2015 27 Millionen Tonnen an Waren transportiert. Das entspricht 40 Prozent der Waren, die per Bahn über den gesamten Alpenbogen transportiert wurden. Die Zahlen sprechen für sich.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Hat sich die Situation inzwischen normalisiert?

Guido Ottolenghi: Die Wiedereröffnung am 2. Oktober war eine gute Nachricht, aber bis alles wieder normal läuft wird es noch dauern. Den letzten Berichten zufolge hat der Bahnverkehr inzwischen 50-60 Prozent des Niveaus erreicht, das er vor dem Unfall hatte. Dabei spielen sicherlich technische Fragen eine Rolle sowie der Abbau des Rückstaus, der sich aufgrund der Verkehrsbehinderung über lange Zeit gebildet hat – aber nicht nur. Denn die Sperrung der Strecke hat auch zu einem Ausweichen auf alternative Bahnrouten geführt – wenngleich diese weniger gut ausgebaut und schlechter an das Verkehrsnetz angebunden sind. Über sie konnten etwa 40 Prozent des betroffenen Warenverkehrs abgewickelt werden. Auch andere Transportalternativen, wie etwas per Schiff und vor allem über die Straße, wurden genutzt. Letzteres hat zu einer spürbaren Belastung der Umwelt geführt. Es ist unklar, ob sich diese Entwicklung gänzlich rückgängig machen lässt. Denn die Logistikunternehmen überlassen ihre Planungen nicht dem Zufall. Wer also eine Alternative zu Rastatt gefunden hat, hat sich diese nicht nur kurzfristig gesichert.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie groß ist der Schaden für die italienischen Logistikunternehmen und die italienische Industrie?

Guido Ottolenghi: Unmittelbar betroffen waren der Bahn- und der Kombiverkehr, und zwar im Schnitt zu 60 Prozent – nicht nur im Norden, sondern auch im Süden Italiens. Da das Personal zwischenzeitlich reduziert werden musste, wurden Sozialmaßnahmen ergriffen. Der Umweg über Alternativstrecken hat die Transportkosten erhöht, im Bahnverkehr zu über 5.000 Euro pro Zug. Aber nicht nur der Warenverkehr war betroffen, sondern auch die industriellen Produktionszyklen, besonders in den Sektoren, die auf die Bahn angewiesen sind, wie die Automobil- und die chemische Industrie. Für diese geht (der Preisinformationsdienst) ICIS von Auswirkungen für den Transport von Chemikalien in Europa aus, die jene, die der Hurrikan Harvey verursacht hat, noch übertreffen. Und der hatte die wichtigsten Häfen am Golf von Mexiko lahmgelegt. Nach unseren Schätzungen könnte die Unterbrechung bei Rastatt mindestens 25 Prozent des Warenaustausches per Bahn zwischen Italien und der restlichen EU betreffen, was etwa 3,5 Milliarden Euro entspricht.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie fordern ein einheitliches Management der wichtigsten europäischen Transportkorridore. Was verstehen Sie darunter?

Guido Ottolenghi: Am 13. Oktober haben sich in Gallarate bei Mailand Vertreter der Verkehrsministerien aus den Niederlanden, Belgien, Deutschland, Italien und der Schweiz getroffen. Sie stimmen in der Diagnose überein, dass es an Alternativen mangelt, sollten die großen europäischen Verkehrskorridore unterbrochen werden. Eine länderübergreifende Koordinierung im Fall von Baumaßnahmen an den Eisenbahnstrecken gibt es nicht. Die Nutzung alternativer Routen ist teilweise an inakzeptable Bedingungen geknüpft. Beispielsweise an die Auflage, in Frankreich auf französischsprachige Maschinisten zurückzugreifen. Es existiert kein einheitliches Krisenmanagement. Wenn diese Länder also tatsächlich „Nie wieder Rastatt“ fordern, sollten sie schnell von der Diagnose zur Therapie übergehen. Ich denke, dass ein gemeinsames Management der Strecken die Interessen aller Nutzer berücksichtigen und es für alle Eventualitäten Notfallpläne geben sollte.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Und Sie glauben, dass durch ein gemeinsames Management ein zweites „Rastatt“ vermieden werden könnte?

Guido Ottolenghi: Ein entscheidender Faktor, wenn wir über eine tatsächliche gemeinsame „Governance“ der großen europäischen Verkehrskorridore sprechen, ist Europa. Bislang wurde dem Ausbau eines europäischen Verkehrsnetzes viel Beachtung geschenkt, aber nicht seiner Verwaltung auf europäischer Ebene. Es ist sicher richtig, dass man sich um die technischen und technologischen Aspekte kümmert, um Sicherheitsfragen und die Liberalisierung der Märkte. Ebenso wichtig wäre es aber, den laufenden Betrieb auf den nationalen Teilstrecken zu koordinieren. Außerdem wäre es wichtig, in Ausweichstrecken zu investieren, die bisher immer als Extra-Kosten angesehen wurden.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Hätte ein Unglück wie das von Rastatt in Italien politische Konsequenzen gehabt?

Guido Ottolenghi: Schon die stümperhafte Durchführung der Arbeiten an der Strecke bei Rastatt hätte in Italien sicherlich die Staatsanwaltschaft auf den Plan gerufen. Vor allem aber hätten wir unsere gesamte Infrastrukturpolitik in Frage gestellt. Hier in Italien geben wir dem Eisenbahnverkehr Vorrang, auch wenn das nicht ohne nationale und lokale politische Konflikte abgeht und wir nur über begrenzte Ressourcen verfügen. Der Vorfall in Rastatt hat eine sehr positive Entwicklung unseres Eisenbahnverkehrs beeinträchtigt – denn der wuchs dank einer besonnenen Politik der Stärkung des Kombiverkehrs wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Rastatt sollte nicht nur den Deutschen und den Europäern, sondern vor allem uns Italienern ein Lehre sein. Wir müssen unser Eisenbahnnetz noch stärker ausbauen und mit anderen Transportmöglichkeiten koordinieren, insbesondere mit den maritimen, um logistisch mit dem Norden Europas wieder gleichzuziehen.

***

Guido Ottolenghi ist Vorsitzender der PIR-Gruppe und Präsident der Abteilung Logistik, Transport und Meereswirtschaft des italienischen Industriellenverbandes CONFINDUSTRIA.

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