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Nach dem Krieg: Syrer müssen Wiederaufbau selbst bezahlen

Lesezeit: 6 min
25.12.2017 23:36
Aleppo liegt nach einem internationalen Stellvertreterkrieg in Trümmern. Für den Wiederaufbau müssen die Unternehmen wegen der Sanktionen allerdings selbst aufkommen.
Nach dem Krieg: Syrer müssen Wiederaufbau selbst bezahlen

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Mit 17 Industriegebieten in der Stadt und Umgebung war Aleppo 2011 vor dem Krieg die Wirtschaftsmetropole Syriens. Täglich verließen Waren im Wert von rund 6 Millionen US-Dollar die 40.000 Fabriken und Familienunternehmen von Aleppo in alle Welt. Mit der Aufnahme von Verhandlungen über die Kooperation mit der Türkei, Libanon und Jordanien sah die Welthandelsorganisation (WTO) Syrien bereits 2010 in einem steilen wirtschaftlichen Aufschwung. Hätte die Entwicklung angehalten, wäre Syrien 2015 die fünftstärkste Ökonomie der arabischen Länder gewesen. Heute liegt das Land in Trümmern.

Die Zerstörung von Aleppo habe „verheerende Schäden“ angerichtet, sagt Fares Shehabi im Interview mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten in Aleppo. Alle Fabriken seien ohne Ausnahme geplündert, ganz oder teilweise zerstört worden. Nicht ein einziges der 40.000 Unternehmen sei von dem Krieg verschont geblieben. Rund 10.000 Fabriken – große, kleine und mittlere Betriebe – hätten die Arbeit wieder aufgenommen. Die restlichen 30.000 Unternehmen seien zerstört oder versuchten, den Betrieb wieder aufzunehmen. Zudem gebe es Fabriken in den von der al-Nusra Front kontrollierten Gebieten westlich von Aleppo. Betroffen seien vor allem Textilfabriken, Betriebe zur Verarbeitung von Lebensmitteln, Maschinenbauer, Glas- und Olivenöl verarbeitende Betriebe.

Die Plünderung in Aleppo habe bereits 2012 begonnen. Verantwortlich sei die „Freie Syrische Armee“ gewesen. Die große Industriestadt Scheich Najjar und das innerstädtische Industriegebiet Lairamun mit seinen 1000 Unternehmen seien geradezu überfallen worden. Vier Jahre hätten die vom Westen als „moderate Rebellen“ bezeichneten Gruppen die Industriegebiete besetzt gehalten, so Shehabi. Ihr Hauptquartier hätten sie im Kinderkrankenhaus und in der Augenklinik in Ost-Aleppo aufgeschlagen. Das Al Kindi-Krankenhaus, die drittgrößte Klinik im Mittleren Osten zur Behandlung von Krebserkrankungen, sei durch Autobomben verwüstet worden. Maschinen, Fuhrparks, Computer, Möbel, Materialien hätten die Bewaffneten über die Grenze in die Türkei verkauft. Nach der Rückeroberung der Industriezonen durch die syrische Armee und ihre Verbündeten 2014 hätten die Unternehmer die Schäden in ihren Betrieben aufgenommen. Gemeinsam habe man gegen die Türkei eine Klage angestrengt, berichtet Fares Shehabi.

Fares Shehabi: Wir haben hier in Aleppo eine Versammlung aller Wirtschaftszweige organisiert. Ähnliches gab es in Damaskus und Homs – überall, wo es große Verwüstungen gab. In Aleppo kamen die Gewerkschaften, die Bauernvertreter, Handel, Industrie, Tourismus zusammen – alle waren dabei. 2016 dann haben wir Klage in Straßburg und in Den Haag gegen die Türkei eingereicht. Entscheidungen gibt es noch nicht.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wurde die Klage abgewiesen?

Fares Shehabi: Es ist noch nicht entschieden, aber wir haben alle Beweise eingereicht. Und wir können alles wirklich bis ins Detail beweisen. Die Klage wurde vom syrischen Anwaltsverband geschrieben, damals war es ausschließlich die syrische Zivilgesellschaft, Unternehmens- und Berufsverbände, die sich beteiligten. Inzwischen wird die Sache aber vom Justizministerium weiter verfolgt. Ich denke, die EU wird nichts gegen die Türkei, gegen Erdogan unternehmen, weil sie ja zusammengearbeitet haben. Er sorgte dafür, dass alle diese Kämpfer, die Söldner und ihre Waffen durch die Türkei nach Syrien kommen konnten. Wir haben wirklich handfeste Beweise, dass Handlanger der Türkei unsere Fabriken geplündert haben. Schwere Maschinen wurden über die Grenze in die Türkei gebracht – unter den Augen der türkischen Grenzpolizei. Wäre so etwas in Deutschland möglich? Dass schwere Maschinen aus Polen über die Grenze kommen, ohne dass man sich die Papiere ansieht? Ganze Produktionsstraßen wurden abgeschleppt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Es scheint, dass die Türkei das Lager gewechselt hat. Sie kooperiert heute mit Russland und Iran, die beide mit Syrien verbündet sind. Glauben Sie, dass die Türkei ihre Politik gegenüber Syrien ändern wird?

Fares Shehabi: Um ehrlich zu sein, ich traue der Türkei nicht. Meiner Ansicht nach ist Erdogan unzurechnungsfähig. Er träumt von einem Osmanischen Reich und um das zu erreichen, muss er die Türkei in alle Richtungen ausdehnen, wie es das Osmanische Reich getan hat. Nach Süden, Osten, Norden und Westen. Niemand kann heute vor ihm sicher sein. Sein Ziel war es, Aleppo einzunehmen. Wie wir ja wissen, war Aleppo während des Osmanischen Reiches die zweitwichtigste Stadt nach Konstantinopel, das wir heute als Istanbul kennen. Aber die Stadt ist viel, viel älter als das. Aleppo ist 12.000 Jahre alt. Viel älter als das Osmanische Reich. Als die Osmanen noch als Stämme in Zentralasien lebten, war Aleppo schon eine Hauptstadt. Natürlich haben die Osmanen Aleppo und die Region 400 Jahre lang regiert. Darum will Erdogan es zurück.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der Wiederaufbau in Aleppo hat begonnen. Es ist natürlich eine schwierige Aufgabe für die Stadt. Wie wird das finanziert?

Fares Shehabi: Sie können davon ausgehen, dass der Wiederaufbau heute eine ganz persönliche Anstrengung der Leute ist. Es ist nicht die Folge einer internationalen Geberkonferenz oder geht auf die Unterstützung von Geberländern oder -organisationen zurück. Es ist ausschließlich die Anstrengung der Bevölkerung. Wir werden also jetzt noch keine großartigen Entwicklungen erwarten können. Für den Wiederaufbau wird viel Geld gebraucht, das wir nicht haben. Aber die Aleppiner warten nicht darauf, von Natur her sind sie sehr fleißig und daran gewöhnt, hart zu arbeiten. Sie können nicht einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten. Das können Sie heute sehen, wenn Sie in die Altstadt gehen. Überall sind die Unternehmer dabei, Fenster und Türen zu reparieren, zu streichen, zu kacheln, Schutt abzutransportieren. Sie bezahlen alles selbst. Die Stadt Aleppo hilft so gut es geht – zumal beim Wiederaufbau die Identität der Altstadt gewahrt werden muss. Sie gehört zum Weltkulturerbe.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie sind ja auch Abgeordneter von Aleppo im Parlament in Damaskus. Was tut die Regierung? Hilft sie bei der Wiederherstellung der zivilen Infrastruktur, sorgt sie für Strom und Wasser?

Fares Shehabi: Die Regierung tut, was sie kann. Sie hat nur geringe Ressourcen. Vergessen Sie nicht, dass wir wirtschaftlichen Strafmaßnahmen der Europäischen Union unterliegen. Wir haben keinen Zugriff auf Geld, das wir brauchen, wir können nicht die Geräte kaufen, die wir für den Abtransport von dem ganzen Kriegsschutt und für den Wiederaufbau brauchen. Diese Strafmaßnahmen behindern den Wiederaufbau. Wir sind alle davon betroffen, jeder einzelne Bürger. Wir hören zwar, dass viele Unternehmen bereits Schlange stehen, um sich am Wiederaufbau zu beteiligen, doch die allgemeine Meinung hier ist, dass man keine Unternehmen ins Land lassen will, deren Staaten den Terror gegen unser Land, gegen unsere Stadt unterstützt haben. Wir müssen abwarten, bis es eine endgültige Lösung für diesen aggressiven Krieg gegen uns gibt. Dann werden Geber und weltweite Unternehmen kommen und Geld investieren.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Gibt es Anfragen aus Deutschland?

Fares Shehabi: Nein. Ich denke, dass viele deutsche Unternehmen wegen der Wirtschaftssanktionen zögern. Sollten Sie jetzt nach Syrien kommen, wären sie davon betroffen, man würde sie bestrafen. Sie fürchten vor allem die finanziellen Strafen seitens der USA. Aber von vielen Konferenzen und Freunden weiß ich, dass die deutschen Firmen sehr daran interessiert sind, hier in die Infrastruktur zu investieren – besonders in den Wiederaufbau der Wasserversorgung, der Stromversorgung. Sie wollen ihre Maschinen verkaufen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Viele Krankenhäuser und medizinische Praxen arbeiten mit deutscher Medizintechnik. Und deutsche Firmen schicken heute die Geräte in den Libanon, von wo sie weiter nach Syrien gebracht werden. Das wird zwei Mal versteuert und ist eine enorme finanzielle Belastung für die Käufer.

Fares Shehabi: Das ist richtig. Vor dem Krieg gab es mit deutschen Unternehmen eine gute Zusammenarbeit. Die meisten unserer Maschinen hier in Aleppo kommen aus Deutschland. Weil wir aber jetzt Geräte und Maschinen brauchen, hat die Regierung erklärt, dass Russland, China, Iran und allgemein Länder der BRICS-Staatengemeinschaft (Blockfreie Staatengemeinschaft) wie Brasilien und Indien Priorität eingeräumt wird. Keines dieser Länder hat sich an der Zerstörung Syriens beteiligt.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Indische Unternehmen haben ja schon vor dem Krieg in Syrien gearbeitet.

Fares Shehabi: Ja, und Indien hat nie seinen Botschafter abgezogen. Die Inder sind uns gegenüber freundlich. Sie haben uns in vielen Bereichen sehr geholfen. Mit Ländern, die sich nicht an dem Krieg gegen uns beteiligt haben, möchten wir gern wieder normale Wirtschaftsbeziehungen aufnehmen. Frankreich oder Großbritannien – die beide wirklich viel zu diesem Chaos beigetragen haben – aus diesen Ländern möchte hier niemand gern Unternehmen sehen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie haben die gute Zusammenarbeit mit Deutschland und deutschen Unternehmen vor dem Krieg erwähnt. Die Bundesregierung allerdings erklärt, dass sie den Wiederaufbau in Syrien erst dann finanziell unterstützt, wenn der politische Übergangsprozess tatsächlich und unumkehrbar stattfindet. Verschiedene Minister haben erklärt, dass Präsident Assad „im zukünftigen Syrien keinen Platz“ mehr haben soll. Gleichzeitig unterstützt Deutschland Gebiete, die unter der Kontrolle von bewaffneten Gruppen sind, wie Idlib oder die Umgebung von Aleppo. Der geschäftsführende Außenminister Sigmar Gabriel kündigte unmittelbar nach der Befreiung von Raqqa an, man werde dort den Wiederaufbau unterstützen und 10 Millionen Euro für die Entfernung von Minen bereitstellen.

Fares Shehabi: Durch die syrische Regierung?

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Nein, durch einen neu gebildeten Lokalrat von Raqqa.

Fares Shehabi: Das verstößt gegen unsere Gesetze. Wir werden das nicht anerkennen und betrachten das als einen feindlichen Akt. Wir wissen, dass Deutschland sich von Anfang an an dem Krieg gegen Syrien beteiligt hat. Mit einem Spionageschiff im Mittelmeer haben sie die Kommunikation unserer Armee abgehört und die Informationen an diese Banden weitergegeben. Damit die uns zerstören. Ihre Regierung ist also Akteur in diesem Krieg. Sie will uns vorschreiben, wie und wen wir wählen, ob unser Präsident bleibt oder geht. Aber das ist unsere Entscheidung – nicht die der deutschen Regierung. Und wenn sie solche Bedingungen aufstellt, dann wird sie warten müssen. Sie kann davon träumen, nach Syrien zu kommen, wir werden uns mit ihr nicht befassen. Anders ist das mit den deutschen Unternehmen, die uns nicht geschadet haben. Aber auch mit ihnen können wir uns nicht befassen, solange die deutsche Regierung ihre falsche Haltung gegenüber Syrien beibehält.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Gleichwohl fließt deutsches Geld an Gruppen, die eigene Zukunftspläne haben. Welche Folgen hat das für die Bevölkerung, für Ihr Land?

Fares Shehabi: Es verstärkt die Spaltung in unserer Gesellschaft, das ist wohl auch das Ziel. Was ist denn mit Ost-Aleppo, mit Homs, mit Deir Ezzor – sind diese Orte nicht verwüstet? Warum wird das Geld nur dorthin gegeben, wo Gruppen das Sagen haben, die von Ihrer Regierung unterstützt werden? Syrien hat eine legitime Regierung, die von den Vereinten Nationen anerkannt ist. Wir haben ein Ministerium, das sich ausschließlich mit der humanitären Hilfe befasst. Alle UN-Organisationen in Syrien halten sich an das syrische Gesetz. Alles Geld, jede humanitäre Arbeit muss entsprechend kontrolliert werden. Banden, Gruppen und separatistische Milizen zu unterstützen, nutzt niemandem. Es vertieft nur die gesellschaftliche Spaltung, es schadet anstatt Gutes zu tun.

***

Fares Shehabi ist Präsident der Industriekammer in Aleppo, Syrien.


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