In Deutschland geht der Ausstieg aus Atomenergie und Kohlestrom mit großen Schritten voran. Doch der dafür notwendige Ausbau des Stromnetzes hinkt hinterher. "Der Netzausbau kommt nicht so schnell voran, wie es nötig wäre", sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, am Donnerstag in Bonn.
Dies führt zu hohen Kosten bei der Systemsicherheit. Maßnahmen wie Leistungsanpassungen von Kraftwerken und die Vorhaltung von Reservekraftwerken kosteten laut Netzagentur allein im letzten Jahr rund 1,4 Milliarden Euro. Zahlen müssen dies letztlich die Verbraucher
Der Bau neuer Stromleitungen geht nur langsam voran
Aktuell sind laut Jochen Homann rund 7.700 Kilometer neue Stromleitungen in Deutschland geplant. Davon befinden sich 4.600 Kilometer in Planungsverfahren und nur 1.800 Kilometer sind bereits genehmigt. Von den genehmigten Leitungen wurden Stand drittes Quartal 2018 gerade einmal 950 Kilometer gebaut.
Häufig hakt es bei vielen Stromtrassen an Verzögerungen im Planungs- und Genehmigungsprozess sowie am lokalen Widerstand der Bevölkerung. Am Freitag ist deshalb das "Gesetz zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus" in Kraft getreten, wie das Bundeswirtschaftsministerium am Donnerstag mitteilte.
Das neue Gesetz soll die Planungsverfahren beschleunigen, gleichzeitig aber auch die Öffentlichkeit weiter einbinden und die Umweltstandards erhalten. Dies ist "ein wichtiger Schritt zur Umsetzung der Energiewende", sagte das von Peter Altmaier (CDU) geführte Bundesministerium für Wirtschaft und Energie.
Wirtschaftsweiser fordert mehr Enteignungen für Stromtrassen
Die meisten Enteignungen werden durch das Baurecht gerechtfertigt. Demnach darf der deutsche Staat bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen unter gewissen Voraussetzungen enteignen. Er muss jedoch angemessen entschädigen. Nach Ansicht von Lars Feld, einem der fünf sogenannten Wirtschaftsweisen, ist dieses Vorgehen "vom Grundsatz her richtig".
Vor dem Hintergrund der Energiewende dürften Genehmigungen für Stromtrassen nicht so "zögerlich wie bisher" erteilt werden, sagte der Wirtschaftsweise diese Woche gegenüber der WELT. Der Staat müsse an der einen oder anderen Stelle entschiedener vorgehen, möglicherweise sogar mit Enteignungen.
Das Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, so der offizielle Name des Gremiums, ist jedoch gegen die Verstaatlichung ganzer Unternehmen, wie man es derzeit in Großbritannien diskutiert. Dort hat die Labour-Partei eine Verstaatlichung des Stromnetzes vorgeschlagen.
"Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass Unternehmen im Gemeinbesitz sozialer sind als private Unternehmen", so Lars Feld. Das zeigten etwa die Erfahrungen aus Jugoslawien in den 70er und 80er-Jahren. Und auch ökologisch seien staatliche Unternehmen den privaten nicht überlegen.
Aus der Geschichte wisse man, dass staatliche Betriebe sich nicht umweltfreundlicher verhalten als private Unternehmen. "Das gilt nicht nur für die DDR, die eine verheerende Umweltbilanz hatte, sondern für ganz unterschiedliche Formen von Vergemeinschaftung", sagte der Wirtschaftsweise.
Bundesnetzagentur: Enteignungen sind "das allerletzte Mittel"
Von Enteignungen zum Trassenausbau hält Jochen Homann nur wenig. Diese seien "wirklich das allerletzte Mittel". Vielen Grundstückseigentümern gehe es vor allem ums Geld, da finde sich meist eine Lösung. "Ich wünsche mir allerdings, dass öffentlicher Grund etwas großzügiger zur Verfügung gestellt wird", sagte er.
Der Netzausbau wird die Bundesnetzagentur noch auf Jahre beschäftigen. So haben die Netzbetreiber im April eine vierte Nord-Süd-Stromautobahn von Schleswig-Holstein nach Baden-Württemberg vorgeschlagen. Auch wollen sie die Südostlink-Trasse zwischen Sachsen-Anhalt und Bayern weiter ausbauen.
Insgesamt schätzen die Netzbetreiber den Investitionsbedarf in die Stromnetze an Land bis zum Jahr 2030 auf 61 Milliarden Euro. "Wir überprüfen die Vorschläge der Übertragungsnetzbetreiber derzeit", sagte der Chef der Bundesnetzagentur.
Jochen Homann verweist zudem auf eine Studie der Netzbetreiber zum Kohleausstieg, wonach alle beantragten Ausbaumaßnahmen auch bei einem vollständigen Kohleausstieg erforderlich sind. Der Ausbau des Stromnetzes diene der Energiewende und nicht dem Transport von Kohlestrom.