Politik

Türkei: Viele Medien rechnen mit neuem Putsch gegen Erdogan

Viele Beobachter sehen in der Türkei vermehrt Anzeichen für einen neuerlichen Putsch-Versuch. Auch US-Experten halten die Türkei für gefährdet. Unklar ist die Rolle der Armeeführung.
06.03.2017 02:48
Lesezeit: 4 min

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Der Journalist Rasim Ozan Kütahyali schreibt in einem Artikel der regierungsnahen Zeitung Sabah, dass der Putsch vom 15. Juli nicht nur von Offizieren der Gülen-Bewegung, sondern auch von „klassischen Putschisten“ ausgeführt wurde. Kütahyali wörtlich: „Obwohl es nicht der Wahrheit entsprach, wurde gesagt, dass alle Gruppen der Gesellschaft auf die Straßen gegangen seien, um sich gegen den Putsch zu stellen. Es wurde sehr viel getan, um eine nationale Einheit und einen gemeinsamen demokratischen Geist zu initiieren. Doch es gibt eine wissenschaftliche Wahrheit, wonach die religiöse Konservativen und ein Teil der religiösen Idealisten (Anm.d.Red. Nationalreligiöse) auf die Straßen gegangen sind, um sich unter die Panzer zu schmeißen und den Heldentod zu erringen.“

Kütahyali meint, nicht das türkische Volk, sondern diese beiden Gruppen hätten den Putsch niedergeschlagen. Trotz des guten Willens der Regierung und ihren Anhängern, eine nationale Einheit zu schaffen, käme es aktuell zu einem erneuten „Herumgeistern“ der „alten Putschisten-Riege“. Kütahyali deutet mit diesem Satz auf ehemalige und im Dienst befindliche Offiziere hin, die dem säkularen, kemalistischen und linken Lager zuzuordnen sind. Der gute Wille der Regierung habe nichts gebracht. Denn aktuell würden diese säkularen und kemalistischen Offiziere gegen die Regierung „hetzen“ und nicht nur eine Verurteilung der Gülen-Anhänger, sondern auch Erdogans fordern. „Diese alten Putschistenköpfe haben sich auch am Verrat des 15. Juli beteiligt und machen nun angesichts des Referendums am 16. April gemeinsame Sache mit der FETÖ (Anm.d.Red. Gülen-Bewegung). Denn sie sind nicht imstande, ihren Hass gegen Erdogan und den Islam zu besiegen.“, meint Kütahyali.

Im Militär würden sich nun Kreise zusammenrotten, um einen erneuten Putschversuch gegen Erdogan zu starten. Ausschlaggebend für diese neueste Entwicklung sei die jüngste Aufhebung des Kopftuchverbots innerhalb des Militärs. Der Journalist schließt seinen Artikel mit einer Warnung: Es sei nicht möglich, dass diese Leute das Volk besiegen. Vielmehr würde sie ein Großteil des Volks wie Bulldozer zermalmen. Die Putschisten aus dem säkularen und kemalistischen Lager würden sich dann in einer schlimmeren Situation als die Anhänger der Gülen-Bewegung wiederfinden. „Ich hoffe, dass wir das nicht erleben. Blut, das fließen soll, verweilt nicht in den Adern. Das weiß ich. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr erfüllt es mich mit Trauer“, so der regierungsnahe Journalist.

Der regierungsnahe Journalist Abdurrahman Dilipak ist ebenfalls der Ansicht, dass es weitere Putschversuche geben wird. Drahtzieher eines erneuten Versuchs werde die Gülen-Bewegung sein, schreibt er in einem Artikel der Zeitung Yeni Akit. Doch sie werde diesmal direkte Unterstützung von der CHP, der HDP und den oppositionellen innerhalb der nationalistischen Bewegung bekommen. Die Gülen-Bewegung sei nicht fähig, einen Putsch über ihre Anhänger innerhalb der AKP zu organisieren. Deshalb greife sie auf andere Parteien und Personen zurück. Ein zweiter Putschversuch würde für die Putschisten nicht im Gerichtssaal enden. Die Folgen des Putsches und einer zweiten Niederschlagung des Putsches wären folgenreich.

Cem Küçük, ein weiterer regierungsnaher Journalist, meint, die Aufhebung des Kopftuchverbots im Militär hätte einige Offiziere zutiefst schockiert. Dies hätten die betroffenen Offiziere als „Botschaft“ empfunden und würden sich nun zusammenrotten, um einen erneuten Putschversuch zu unternehmen. Allerdings gebe es keine Möglichkeit mehr, das türkische Militär in seiner Gesamtheit an einem Putsch zu beteiligen. Im Westen Anatoliens seien im Hintergrund Vorbereitungen für einen zweiten Putschversuch zerschlagen worden. Doch die Gefahr sei nicht gebannt, zitiert AS Haber den Journalisten.

Der regierungsnahe Journalist Yakup Köse meint, die säkularen und kemalistischen Offiziere, die zuvor von der Gülen-Bewegung in Gefängnisse gesperrt wurden, würden nun eine Allianz mit der Gülen-Bewegung gegen die Regierung und Erdogan schmieden, schreibt er in einem Artikel der regierungsnahen Zeitung Stargazete. Die Fürsprecher dieser Kreise würden nun Drohungen gegen die Regierung aussprechen, wonach die Türkei in einem Blutbad versinken werde, wenn es zur Einführung des Präsidialsystems kommt. Bemerkenswert ist, dass Köse die linken und säkularen Kreise verdächtigt, die sich in der Putschnacht hinter Erdogan gestellt und bei der Niederschlagung des Putsches mitgewirkt hatten.

Der regierungsnahe Journalist Mehmet Şeker meint, der neue Putschversuch werde mit einer hohen Wahrscheinlichkeit um drei Uhr am Morgen stattfinden. Deshalb müsse das Volk wachsam sein. „Wenn diejenigen, die den Putsch vom 15. Juli unternommen hatten lediglich Gülen-Leute gewesen wären, könnten wir sagen, dass wir sie mittlerweile gesäubert hätten. Glauben sie wirklich, dass die Putschisten sich ausschließlich aus Gülen-Leuten zusammensetzten?“, zitiert OdaTv den Journalisten.

Der Oberbürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, befürchtet ebenfalls einen erneuten Putschversuch. Der nächste Putschversuch werde zwischne vier und fünf Uhr am Morgen an 20 Punkten in Ankara und Istanbul stattfinden, zitiert Haber 24 den Oberbürgermeister.

Die regierungsnahe Journalistin Nagehan Alçı schreibt in einem Artikel der Milliyet, dass das „Virus des Putschens“ nach wie vor weiterlebe. Solange dieses Virus nicht ausgemerzt werde, könne die Gefahr nicht gebannt werden.

Der Journalist der regierungsnahen Zeitung Yeni Şafak, Yusuf Kaplan, meint, der Putschversuch vom 15. Juli gehe auf eine Kooperation zwischen den Kemalisten und den Gülen-Anhängern zurück. Beide Gruppen seien im Dienst des Westens aktiv, um die Türkei von innen heraus unter Kontrolle zu bekommen.

Orhan Bursalı von der Zeitung Cumhuriyet schreibt in einem Artikel, dass die Putschisten vom 15. Juli aus Gülen-Anhängern und aus Offizieren bestanden, die sich aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung dem Putsch anschlossen. Die Regierung streue nun Gerüchte über einen angeblichen weiteren Putschversuch, um eine Machtkonsolidierung vorzunehmen und das Militär endgültig zu säubern. Die AKP sei bisher gemeinsam mit der Gülen-Bewegung an allen Verschwörungen gegen das Militär beteiligt gewesen. Die aktuellen Putschgerüchte seien eine Fortführung jener Verschwörungen, so der Journalist.

Der Hürriyet-Journalist Ahmet Hakan übt scharfe Kritik an den jüngsten Putschgerüchten. Die AKP habe gemeinsam mit der Gülen-Bewegung über Jahre hinweg die Kemalisten im türkischen Militär verfolgt und gesäubert. Als die säkularen und republikanischen Offiziere im Militär gesäubert wurden, seien es die AKP-Anhänger gewesen, die zu jener Zeit Fethullah Gülen geschmeichelt hatten. „Es sind diese Typen, die die kemalistischen Offiziere der Gülen-Bewegung zuliebe geopfert haben. Nun wollen sie jene Offiziere unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft bei der Gülen-Bewegung opfern. Unfassbar. Wirklich unfassbar“, schreibt Hakan in einem Artikel.

Bereits im vergangenen Oktober hatte der Vordenker der US-Neocons, Michael Rubin, vom American Enterprise Institute (AEI) in einem Artikel einen zweiten Putschversuch angekündigt. Der Putsch vom 15. Juli war eine gemeinsame Aktion der Offiziere der Gülen-Bewegung und der kemalistischen Offiziere, meint Rubin. Doch nach dem Putsch hätte die Regierung die Gülen-Bewegung zum alleinigen Sündenbock gemacht. Es gebe bereits Hinweise darauf, dass ein weiterer Putsch bevorstehe. „Allerdings wird Erdogan den neuen Putschversuch mit seinem Leben bezahlen“, so Rubin. Denn der türkische Staatschef gehe nicht nur gegen Gülen-Leute, Kurden, Liberale, Feministen und seine politischen Gegner, sondern auch gegen seine politischen Anhänger vor, die ihm Konkurrenz bereiten könnten. Der eigentliche Schlag gegen Erdogan werde aus seiner direkten Umgebung kommen, meint Rubin.

Ende Januar hatte die Washington Post ein Ranking mit Ländern veröffentlicht, in denen im aktuellen Jahr Putsche am wahrscheinlichsten sind. Die Türkei ist in der Liste nach Burundi, Thailand, Zentralafrika und Tschad an fünfter Stelle. Die Türkei gehört damit weltweit zu den gefährdetsten Staaten.

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