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In dem 1963 erschienenen Roman „Cat’s Cradle“ (Katzenwiege) von Kurt Vonnegut, einer schwarzen Science-Fiction-Satire, ersann der Schriftsteller eine Substanz, die er „Ice-Nine“ nannte und die von dem Physiker Dr. Felix Hoenikker entdeckt worden war. Ice-Nine war ein Polymorph – eine andere Erscheinungsform – von Wasser, das aus einer anders angeordneten Variante des Wassermoleküls H2O bestand.
Ice-Nine hat zwei Eigenschaften, die es vom normalen Wasser unterscheiden. Die erste ist ein Schmelzpunkt von 114,4°F (45,8°C), was bedeutet, dass es bei Zimmertemperatur gefroren ist. Seine zweite Eigenschaft ist, dass ein Wassermolekül, wenn es mit einem Ice-Nine-Molekül in Berührung kommt, sich sofort in Ice-Nine verwandelt.
Hoenikker brachte einige Ice-Nine-Moleküle in kleine Fläschchen ein, versiegelte sie und gab sie seinen Kindern, bevor er starb. Die Handlung des Romans dreht sich um den Umstand, dass dieses Ice-Nine, wenn es aus den Fläschchen freigesetzt würde und mit einem großen Gewässer in Kontakt käme, bewirken würde, dass der gesamte Wasservorrat auf der Erde – Flüsse, Seen und Ozeane – über kurz oder lang einfrieren und alles Leben auf der Erde enden würde.
Ein solches Weltuntergangsszenario passte zu der Zeit, in der Vonnegut sein Buch geschrieben hat. „Katzenwiege“ wurde unmittelbar nach der Kubakrise veröffentlicht, als die reale Welt gefährlich nah an den Abgrund der nuklearen Vernichtung geriet, die später von Wissenschaftlern „nuklearer Winter“ genannt wurde.
Ice-Nine ist eine elegante Art, die Reaktion der Machteliten auf die nächste Finanzkrise zu beschreiben. Anstatt die Welt mit neuer Liquidität zu versorgen, werden die Eliten sie einfrieren. Das System wird stillgelegt werden. Natürlich wird Ice-Nine als „vorübergehende“ Maßnahme bezeichnet werden, ebenso wie Präsident Richard Nixon am 15. August 1971 das Aussetzen der Dollar-Gold-Konvertibilität als „vorübergehend“ bezeichnete.
Die Dollar-Gold-Konvertibilität zu einer festgelegten Parität wurde seither nicht wiederhergestellt. Das Gold in Fort Knox ist seit diesem Tag eingefroren. Das Gold der US-Regierung ist Ice-Nine.
Ice-Nine passt zu einer Auffassung der Finanzmärkte als komplexe dynamische Systeme. Ein Ice-Nine-Molekül kann nicht augenblicklich einen ganzen Ozean einfrieren; es friert nur die benachbarten Moleküle ein. Diese neuen Ice-Nine-Moleküle frieren dann wiederum andere ein, in immer größer werdenden Kreisen. Ice-Nine würde sich exponentiell ausbreiten, nicht linear. Dieser Prozess würde ablaufen wie eine nukleare Kettenreaktion, die damit beginnt, dass ein einziges Atom gespalten wird, wodurch sehr schnell so viele Atome gespalten werden, dass enorme Energie freigesetzt wird.
Finanzpaniken breiten sich auf die gleiche Weise aus. In der klassischen Version, wie sie sich zum Beispiel in den 1930er-Jahren abspielte, beginnt sie mit einem Run auf eine Bank in einer Kleinstadt. Dann breitet sich die Panik aus, bis sie Wall Street erfasst und dort einen Crash der Aktienmärkte auslöst. In der Version des 21. Jahrhunderts beginnt eine Panik mit einem Computer-Algorithmus, der vorprogrammierte Verkaufsorders auslöst, die sich in andere Computer ausbreiten, bis das ganze System außer Kontrolle gerät. Eine solche Verkaufsspirale entstand am 19. Oktober 1987, als der Dow Jones an einem einzigen Tag um 22 Prozent fiel – was beim heutigen Stand des Index einem Absturz um 4000 Punkte entsprechen würde.
Risikomanager und Aufsichtsbehörden verwenden das Wort „Contagion“ („Ansteckung“), um die Dynamik einer Finanzpanik zu beschreiben. Der Begriff Ansteckung ist mehr als eine Metapher; ansteckende Krankheiten wie Ebola breiten sich auf die gleiche exponentielle Weise aus wie Ice-Nine, Kettenreaktionen und Finanzpaniken. Ein Ebola-Opfer wird vielleicht zwei gesunde Menschen anstecken, dann diese beiden frisch infizierten Personen jeweils zwei weitere und so weiter. Über kurz oder lang kommt es zu einer Pandemie, die eine strenge Quarantäne notwendig macht, bis ein Impfstoff gefunden ist. Im Roman Katzenwiege gab es keinen „Impfstoff“; Ice-Nine-Moleküle wurden in versiegelten Fläschchen isoliert.
Bei einer Finanzpanik ist der „Impfstoff“ die Notenpresse. Wenn dieser Impfstoff sich als wirkungslos erweist, ist die einzige Lösung Quarantäne. Das bedeutet, Banken, Börsen und Geldmarktfonds zu schließen, Geldautomaten außer Betrieb zu setzen und Vermögensverwalter anzuweisen, keine Wertpapiere mehr zu verkaufen. Die Eliten bereiten sich auf ein finanzielles Ice-Nine ohne Impfstoff vor. Sie werden Ihr Geld unter Quarantäne stellen, indem sie es innerhalb des Finanzsystems einschließen, bis die Ansteckungsgefahr schwindet.
Ice-Nine versteckt sich sozusagen in aller Öffentlichkeit – wenn man nicht danach sucht, wird man es auch nicht sehen. Sobald Sie wissen, dass Ice-Nine vorhanden ist, sehen Sie es überall; so erging es mir nach meinem Gespräch mit der Insiderin über das Einfrieren von Assets bei BlackRock.
Der Ice-Nine-Plan der Eliten ist weit ehrgeiziger als die sogenannten Bankentestamente („Living wills“) und Bankenschließungsbefugnisse nach dem 2010 verabschiedeten Dodd-Frank-Gesetz. Ice-Nine ginge weit über die Banken hinaus und würde sich auch auf Versicherungs- und Industriekonzerne sowie Vermögensverwaltungen erstrecken. Es ginge über eine geordnete Liquidation hinaus und würde auch das Einfrieren von Transaktionen umfassen. Ice-Nine würde weltweit umgesetzt werden – nicht nur von Einzelfall zu Einzelfall.
Die bekanntesten Fälle, bei denen es in der jüngeren Vergangenheit zum Einfrieren von Kundengeldern kam, waren 2012 die Bankenkrise in Zypern und 2015 die Staatsschuldenkrise in Griechenland. Diese Krisen hatten längere Vorgeschichten, aber in Zypern und Griechenland spitzte sich die Lage dermaßen zu, dass die Banken den Einlegern den Zugang zu ihrem eigenen Geld verwehren mussten.
Zypern war bekannt als Schleuse für Kapital, das aus Russland floh und zum Teil auf illegale Weise von russischen Oligarchen erworben worden war. In der Zypernkrise wurden zwei führende Banken insolvent, nämlich die Laiki Bank und die Bank of Cyprus, was einen Run auf das gesamte Bankensystem auslöste. Zypern war Mitglied der Eurozone, wodurch die Krise systemisch wurde, ungeachtet der geringen Größe von Zyperns Wirtschaft. Eine sogenannte Troika, die aus der Europäischen Zentralbank (EZB), der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gebildet wurde, hatte verbissen darum gekämpft, den Euro während der Staatsschuldenkrise von 2011 zu retten, und wollte diese Arbeit nicht in Zypern zunichte gemacht sehen.
Zypern hatte nicht das politische Durchsetzungsvermögen, um hart verhandeln zu können. Es musste annehmen, was immer es an Hilfebekommen konnte, ungeachtet der damit einhergehenden Bedingungen. Die Troika ihrerseits hatte beschlossen, dass die Tage von „Too big to fail“-Banken vorbei seien – in Zypern zog sie die Reißleine. Die Banken wurden vorübergehend geschlossen und Geldautomaten außer Betrieb gesetzt, woraufhin es zu einem panischen Gerangel um Bargeld kam. Die Menschen, die es sich leisten konnten, flogen aufs europäische Festland und kehrten mit dicken Bündeln an Euro-Scheinen zurück, die sie in ihr Gepäck gestopft hatten.
Die Laiki Bank wurde dauerhaft geschlossen, die Bank of Cyprus wurde durch die Regierung umstrukturiert. Einlagen in der Laiki Bank oberhalb der Einlagensicherungsgrenze von 100 000 Euro wurden in eine „Bad Bank“ ausgelagert, wo die Aussichten auf Wiedererlangung ungewiss sind. Niedrigere Einlagen wurden an die Bank of Cyprus übertragen. Bei der Bank of Cyprus wurden 47,5 Prozent der ungesicherten Einlagen oberhalb von 100.000 Euro in Aktien der mit neuem Kapital ausgestatteten Bank umgewandelt. Diejenigen, die vor der Krise Aktien und Anleihen der Bank gehalten hatten, mussten Bewertungsabschläge hinnehmen und erhielten eine gewisse Menge an Aktien der Bank, um ihre Verluste zu kompensieren.
Das Zypernmodell wurde als „Bail-in“ bezeichnet. Anstatt die Einleger von Verlusten freizuhalten („Bail-out“), nutzte die Troika deren Geld, um die gescheiterten Banken zu rekapitalisieren. Ein Bail-in reduzierte die Kosten der Rettung für die Troika, vor allem für Deutschland.
Viele Anleger in aller Welt zuckten mit den Achseln und betrachteten Zypern als einmaliges Ereignis. Zypern ist ein armes Land. Einleger in entwickelteren Ländern vergaßen den Vorfall schnell und machten sich eine Einstellung zu eigen, die besagte: „Hier kann das nicht passieren.“ Aber weit gefehlt – der Bail-in von Zypern im Jahr 2012 war die neue Blaupause für globale Bankenkrisen.
Am 15. November 2014, also kurz nach der Zypernkrise, fand im australischen Brisbane ein G20-Gipfel statt. Unter den teilnehmenden Staatsoberhäuptern und Regierungschefs auch Barack Obama und Angela Merkel. Das Abschlusskommuniqué enthält einen Bezug auf eine neue globale Organisation: das Financial Stability Board (FSB, „Finanzstabilitätsrat“). Dabei handelt es sich um eine globale Finanzaufsichtsbehörde, die von der G20-Gruppe ins Leben gerufen wurde und den Bürgern der Mitgliedsländer keinerlei Rechenschaft schuldig ist. Im Kommuniqué heißt es: „Wir begrüßen den Vorschlag, das Financial Stability Board (FSB) einzurichten. (…). Das FSB schreibt weltweit systemisch wichtigen Banken vor, zusätzliche Verlustausgleichsfähigkeiten vorzuhalten …“
Hinter diesen dürren Worten steht ein separater, 23 Seiten langer technischer Bericht des FSB, der die Blaupause für zukünftige Bankenkrisen liefert. Darin heißt es, dass Verluste von Banken „von nicht abgesicherten und nicht versicherten Gläubigern … getragen werden sollten“. In diesem Zusammenhang ist „Gläubiger“ gleichbedeutend mit „Einleger“. Dann wird beschrieben, welche „Befugnisse und Werkzeuge den Behörden zur Verfügung stehen sollten, um dieses Ziel zu erreichen. Dazu zählt auch die Befugnis, ein Bail-in anzuordnen (…) [und] die nicht abgesicherten und nicht versicherten Verbindlichkeiten des Unternehmens abzuschreiben und in Eigenkapital umzuwandeln … und zwar in dem Maße, wie es erforderlich ist, um die Verluste auszugleichen.“
Der G20-Gipfel von Brisbane hat gezeigt, dass die Ice-Nine-Politik, wenn sie auf Bankeinleger angewendet wird, keineswegs auf abgelegene Länder wie Zypern beschränkt ist. Ice-Nine ist die Politik der größten Länder der Welt, auch der Vereinigten Staaten.
Während der Schuldenkrise in Griechenland wurde Bankeinlegern im Jahr 2015 eine weitere schmerzhafte Lektion erteilt über die Macht von Regierungen, Banken zu schließen. Die griechischen Staatsschulden waren seit 2009 ein anhaltendes Problem und in den seither vergangenen Jahren war die Krise immer mal wieder hochgekocht, um dann wieder abzuebben. Am 12. Juli 2015 spitzte sich die Lage zu, als die Deutschen die Geduld verloren und Griechenland auf einem Gipfeltreffen in Brüssel ein finanzielles Ultimatum stellten, das die Griechen schließlich akzeptierten.
Der typische griechische Bürger mag das dramatische Pokerspiel mit hohem Einsatz in Brüssel verfolgt haben oder auch nicht, aber die Folgen waren unausweichlich. Es war unklar, ob die griechischen Banken überleben oder ihre Einleger im Rahmen eines Bail-in nach den Regeln von Brisbane in Anspruch genommen werden würden. Die Banken hatten keine andere Wahl, als den Zugang zu Bargeld und Krediten zu blockieren, bis ihr Status geklärt war. Die Geldautomaten in Griechenland hörten auf, Bargeld an griechische Karteninhaber auszuzahlen (Reisende mit ausländischen Debitkarten konnten am Flughafen von Athen etwas Bargeld bekommen). Griechische Kreditkarten wurden im Einzelhandel nicht mehr akzeptiert; also fuhren viele Griechen in benachbarte Länder und kehrten mit Einkaufstüten voller großer Euro-Scheine zurück. Die griechische Wirtschaft fiel fast über Nacht auf Barzahlung und Quasi-Tauschhandel zurück.
Da sie so bald nach dem Debakel in Zypern in Erscheinung trat, diente die griechische Version von Ice-Nine als Warnung; den Einlegern wurde klar, dass ihr Geld auf dem Bankkonto in Wirklichkeit kein Geld war und nicht ihnen gehörte. Ihr sogenanntes „Geld“ war tatsächlich eine Verbindlichkeit der Bank und konnte jederzeit eingefroren werden.
Der in Brisbane beschlossene Ice-Nine-Plan der G20 war nicht nur auf Bankeinlagen beschränkt; das war nur ein Anfang. Am 23. Juli 2014 segnete die Securities and Exchange Commission (SEC, Wertpapier- und Börsenaufsicht) der USA mit einem Stimmenverhältnis von drei zu zwei eine neue Regel ab, die Geldmarktfonds gestattete, Rückkäufe von Anlegern zu suspendieren. Diese SEC-Vorschrift erweitert Ice-Nine über den Bankensektor hinaus in die Welt der Investments. Jetzt konnten Geldmarktfonds wie Hedgefonds agieren und sich weigern, das Geld ihrer Anleger zurückzuzahlen. Pflichtgemäß verschickten die Fondsmanager Hochglanzbroschüren per Post sowie Online-Mitteilungen über diese Änderung ihrer Geschäftsbedingungen an ihre Investoren, die allerdings zweifellos diese Broschüre in den Papierkorb warfen und die Mitteilung übersahen. Aber die Vorschrift hat Gesetzeskraft und ist veröffentlicht worden; in der nächsten Finanzpanik werden nicht nur Ihre Bankeinlagen im Rahmen eines Bail-in eingefroren werden, sondern auch Ihre Guthaben bei Geldmarktfonds.
Aber Ice-Nine wird noch schlimmer.
Eine Lösung, um dem Einfrieren von Assets nach Ice-Nine zu entgehen, besteht darin, Bargeld und Münzen zu halten. Vor 1914 war das gang und gäbe und dann wieder in den schlimmsten Phasen der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1933. In seiner modernen Version besteht Bargeld aus 100-Dollar-Scheinen, 500-Euro-Scheinen oder 1000-Franken-Scheinen von der Schweizerischen Nationalbank. Dies sind die größten Nennwerte, die in harten Währungen verfügbar sind. Als Münzen kommen zum Beispiel Ein-Unzen-Feingoldmünzen wie US-amerikanische Gold Eagles, kanadische Maple Leafs oder andere gängige Goldmünzen infrage. Eine Alternative wären Silbermünzen wie der US-amerikanische Silver Eagle, ebenfalls eine Feinunze schwer. Jeder Bürger kann, wenn er sich auf diese Weise Bargeld und Münzen zulegt, das Einfrieren seiner Konten nach Ice-Nine überstehen. Die globalen Eliten wissen das, und darum haben sie dem Bargeld den Krieg erklärt.
Historisch gesehen wurden Schließungen der Finanzmärkte dadurch umgangen, dass „Curb Exchanges“ („Freiverkehrsbörsen“) entstanden. Käufer und Verkäufer trafen sich am Straßenrand, um Aktien gegen Cash einzutauschen. Im 21. Jahrhundert werden die Aufsichtsbehörden versuchen, das Entstehen von digitalen Freibörsen zu unterdrücken, um den Prozess der Preisfindung zu verhindern und den Mythos des hohen Kursniveaus vor der Panik aufrechtzuerhalten. Freibörsen könnten online nach dem Muster von eBay organisiert werden, wobei in Bitcoin bezahlt würde oder persönlich in bar. Die Aktienbesitzrechte könnten in einer verteilten Datenbank unter Verwendung einer Blockchain gespeichert werden. Bargeld zu eliminieren hilft, das Entstehen alternativer Märkte zu unterdrücken, obwohl Bitcoin die Macht der Eliten vor neue Herausforderungen stellt.
Der zweite Grund, warum Bargeld eliminiert werden soll, ist, dass dann negative Zinsen durchgesetzt werden können. Die Zentralbanken stehen mit dem Rücken zur Wand in einer verlorenen Schlacht gegen deflationäre Trends. Ein Weg, um Deflation zu besiegen, besteht darin, Inflation in Verbindung mit negativen Zinssätzen zu fördern.
Zu negativen Realzinsen kommt es, wenn die Inflationsrate den nominalen Zinssatz auf geliehenes Geld übersteigt. Wenn die Inflationsrate bei 4 Prozent liegt und geliehenes Geld 3 Prozent kostet, ergeben sich Realzinsen von minus 1 Prozent (3 – 4 = –1). Die Inflation untergräbt den Wert des Dollars schneller, als durch den Kredit Zinsen auflaufen. Der Schuldner kann der Bank seine Schulden in billigeren Dollars zurückzahlen. Negative Realzinsen sind noch besser als kostenloses Geld, weil dann die Bank den Schuldner dafür bezahlt, dass er Schulden aufnimmt. Negative Realzinsen sind ein starkes Motiv, um Schulden zu machen, zu investieren und Geld auszugeben, was inflationäre Tendenzen verstärkt und der Deflation entgegenwirkt. Wie können negative Realzinsen erzeugt werden, wenn die Inflationsrate beinahe bei null liegt? Selbst ein niedriger nominaler Zinssatz von 2 Prozent ergibt positive Realzinsen in Höhe von 1 Prozent, wenn die Inflationsrate nur 1 Prozent beträgt (2 – 1 = 1).
Die Lösung ist, negative Zinssätze einzuführen. Wenn die nominalen Zinsen negativ sind, ist ein negativer realer Zinssatz immer möglich, selbst wenn die Inflationsrate niedrig oder negativ ist. Wenn zum Beispiel die Inflationsrate gleich null ist und die nominalen Zinsen minus 1 Prozent, dann liegen die Realzinsen ebenfalls bei minus 1 Prozent (–1 – 0 = –1).
Innerhalb eines digitalen Bankensystems sind negative Realzinsen ganz einfach zu implementieren. Die Banken programmieren einfach ihre Computer, Ihnen von Ihren Guthaben etwas abzuziehen, anstatt Ihnen etwas zu zahlen. Wenn Sie 100.000 Dollar einzahlen und die Zinsen bei minus 1 Prozent liegen, haben Sie am Ende eines Jahres nur noch 99.000 Dollar auf dem Konto – ein Teil Ihres Geldes ist verschwunden.
Ein Sparer kann sich gegen negative Realzinsen wehren, indem er Bargeld hält. Nehmen wir an, ein Sparer würde 100 000 Dollar von seinem Bankkonto abheben und dieses Bargeld sicher in einem Tresor außerhalb einer Bank verwahren. Ein anderer Sparer lässt sein Geld auf der Bank liegen und „verdient“ Zinsen in Höhe von minus 1 Prozent. Am Ende eines Jahres hat der erste Sparer nach wie vor 100.000 Dollar, der zweite dagegen nur noch 99.000 Dollar. Dieses Beispiel zeigt, warum negative Zinsen nur in einer Welt ohne Bargeld funktionieren. Die Sparer müssen in ein komplett digitales System gezwungen werden, bevor negative Zinsen eingeführt werden.
Für Institutionen und Konzerne ist die Schlacht bereits verloren. Für eine Einzelperson ist es schon schwierig genug, 100.000 Dollar in bar zu erhalten; für einen Konzern ist es so gut wie unmöglich, eine Milliarde Dollar in bar zu beschaffen. Große Einleger haben keine Möglichkeit, sich gegen negative Zinsen zu wehren, es sei denn, sie investieren ihr Bares in Aktien und Anleihen. Und genau das ist es, was die Eliten erreichen wollen.
Das Trommeln der Eliten gegen Bargeld und für negative Zinsen ist ohrenbetäubend.
Am 5. Juni 2014 führte EZB-Chef Mario Draghi negative Zinsen auf Euro-denominierte Einlagen von nationalen Zentralbanken und großen Geschäftsbanken ein, die bei der EZB gehalten werden. Diese Banken führten rasch negative Zinsen für ihre eigenen Kunden ein. Unter dem Schirm negativer Zinssätze nahmen Goldman Sachs, JPMorgan, die Bank of New York Mellon und andere Banken allesamt Geld von den Konten ihrer Kunden.
Am 8. Dezember 2014 veröffentlichte das Wall Street Journal einen Bericht unter der Überschrift „Banken drängen Kunden, ihr Geld anderswohin zu bringen“. Darin heißt es, große US-Banken hätten ihren Kunden mitgeteilt, dass sie „beginnen werden, für Konten Gebühren zu berechnen, die für große Kunden bisher kostenlos waren“. Eine Gebühr ist natürlich das Gleiche wie negative Zinsen; im Laufe der Zeit haben Sie immer weniger Geld auf dem Konto – lediglich eine andere Bezeichnung für die gleiche Sache.
Im 22. Januar 2015 führte die Schweizerische Nationalbank negative Zinsen auf Sichteinlagen im Schweizer Bankensystem oberhalb von 10 Millionen Franken ein.
Am 29. Januar 2016 stimmte die Bank of Japan dafür, Einlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank, welche die vorgeschriebenen Reserven übersteigen, mit negativen Zinsen zu belegen.
Am 11. Februar 2016 sagte die Chefin der Federal Reserve bei einer Anhörung vor dem Kongress, die US-Zentralbank würde negative Zinssätze „in Erwägung ziehen“. Während ich dies schreibe, sind in den Vereinigten Staaten noch keine negativen Zinsen eingeführt worden.
Am 16. Februar 2016 schrieb der frühere US-Finanzminister Larry Summers eine Kolumne für die Washington Post, in der er für die Abschaffung des 100-Dollar-Scheins plädierte. Am 4. Mai 2016 kündigte die Europäische Zentralbank an, sie werde die Herstellung des 500-Euro-Scheins bis Ende 2018 auslaufen lassen. Vorhandene 500-Euro-Scheine wären auch danach noch gesetzliches Zahlungsmittel, könnten aber knapp werden. Aufgrund dieser Maßnahme könnte es dazu kommen, dass Käufer in digitaler Währung einen höheren Preis – zum Beispiel 502 Euro – für noch verfügbare 500-Euro-Scheine zahlen. Ein solcher Aufpreis läuft auf negative Zinsen für Bargeld hinaus, ein bis dato noch nie da gewesener Vorgang.
Am 30. August 2016 veröffentlichte Kenneth Rogoff, Harvard-Professor und früherer Chefökonom des IWF, ein Manifest mit dem Titel Der Weg ins Verderben: warum unser Bargeld verschwinden wird). Dabei handelt es sich um einen Plan der Eliten, das Bargeld schrittweise völlig abzuschaffen.
Der Krieg gegen Bargeld und der Drang zu negativen Zinsen marschieren im Gleichschritt voran, zwei Seiten derselben Medaille.
Bevor Rinder zum Schlachten geführt werden, treibt man sie in Verschläge, damit sie besser kontrolliert werden können. Das Gleiche gilt für Sparer. Um Cash einfrieren und negative Zinsen durchsetzen zu können, werden Sparer in digitale Konten bei einer kleinen Anzahl von Mega-Banken getrieben. Heute sind die vier größten Banken der Vereinigten Staaten (Citibank, JPMorgan Chase, Bank of America und Wells Fargo) noch größer als 2008 und sie kontrollieren einen größeren Anteil der gesamten Vermögenswerte im US-Bankensystem. Diese vier Banken waren ursprünglich noch im Jahr 1990 37 separate Banken und im Jahr 2000 immerhin noch 19 eigenständige Banken. JPMorgan ist ein perfektes Beispiel: Die Großbank hat die Assets von Chase Manhattan, Bear Stearns, Chemical Bank, First Chicago, Bank One und Washington Mutual sowie anderen Vorgängern geschluckt. Was schon 2008 „Too big to fail“ war, ist heute noch größer. Die Einlagen der Sparer sind heute dort konzentriert, wo die Aufsichtsbehörden mit ein paar Telefonanrufen Ice-Nine-Maßnahmen in die Wege leiten können. Die Sparer werden darauf vorbereitet, geschlachtet zu werden.
Der Ice-Nine-Plan macht aber nicht bei den Sparern halt; Ice-Nine kommt auch bei den Banken selbst zur Anwendung. Am 10. November 2014 präsentierte das Financial Stability Board unter der Schirmherrschaft der G20-Gruppe den Vorschlag, den 20 größten weltweit systemisch wichtigen Banken aufzuerlegen, Anleihen aufzulegen, die im Falle einer Finanzkrise vertraglich in Eigenkapital umgewandelt werden können. Solche Anleihen sind ein automatisches Ice-Nine-Bail-in für Anleihenhalter, die keine weiteren Maßnahmen der Aufsichtsbehörden erfordern.
Am 9. Dezember 2014 nutzte die US-Bankenaufsicht die Bestimmungen des Dodd-Frank-Gesetzes, um den acht größten US-Banken strengere Eigenkapitalanforderungen aufzuerlegen, die als „Capital Surcharge“ („Kapitalzuschlag“) bezeichnet werden. Bis die großen Banken diesen Eigenkapitalanforderungen entsprochen haben, ist es ihnen verboten, Geld in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen an ihre Aktionäre auszuzahlen. Dieses Verbot ist auf Bankaktionäre angewendetes Ice-Nine.
Das Ice-Nine in dem Buch Katzenwiege bedrohte jedes Wassermolekül auf der Erde. Das Gleiche gilt für finanzielles Ice-Nine. Wenn die Bankenaufseher Ice-Nine auf Bankeinlagen anwenden, wird es zu einem Run auf Geldmarktfonds kommen. Wenn Ice-Nine auch auf Geldmarktfonds angewendet wird, wird dieser Run auf die Anleihenmärkte übergreifen. Wenn irgendein Markt außerhalb des Ice-Nine-Netzes belassen wird, dann wird er sofort zum Ziel von Notverkäufen werden, sobald die anderen Märkte eingefroren sind. Damit der Ice-Nine-Plan der Eliten funktionieren kann, muss er auf alles angewendet werden.
Selbst Handelsverträge bieten keinen Ausweg aus Ice-Nine. Ein Handelsgeschäft mit einer gescheiterten Firma wird normalerweise eingefroren, wenn diese Firma Insolvenz anmeldet. Diese Regel, die im US-Recht als „Automatic Stay“ („Automatische Aussetzung“) bezeichnet wird, soll ein panisches Gerangel um Cash und Wertpapiere verhindern, das manche Gläubiger bereichert und andere benachteiligt. Die automatische Aussetzung im Insolvenzverfahren verschafft den Gerichten Zeit, um eine gerechte Verteilung der Vermögenswerte der insolventen Firma auszuarbeiten.
In den 1980erund 1990er-Jahren führten die großen Banken eine hartnäckige Lobby-Kampagne, um die Rechtslage dahingehend zu ändern, dass Transaktionen wie Rückkaufvereinbarungen und Derivate von den Vorschriften über automatische Aussetzung ausgenommen wurden. Als im Jahr 2008 Unternehmen wie Lehman Brothers pleitegingen, nutzten die Großbanken unter den Gläubigern ihre „Early Termination Rights“ („Sonderkündigungsrechte“), um sich aus den noch vorhandenen Sicherheiten zu bedienen, wodurch weniger raffinierte Investoren wie lokale Gemeinden die Verluste tragen mussten.
Am 3. Mai 2016 kündigte die Federal Reserve einen formalen Regulierungsprozess an, um Derivatkontrakte zwischen US-Banken und ihren Gegenparteien einer 48-Stunden-Version der automatischen Aussetzung zu unterwerfen. Diese neue Vorschrift war die Kodifizierung einer 2014 getroffenen Vereinbarung zwischen 18 bedeutenden globalen Banken unter der Schirmherrschaft der International Swaps and Derivatives Association, ihre Sonderkündigungsrechte aufzugeben. Die Vereinbarung von 2014 war das Ergebnis von Pressionen, die das Financial Stability Board der G20 im Jahr 2011 ausgeübt hatte. Wichtig ist dabei, dass auch die Gegenparteien der Banken, etwa der Anleihengigant PIMCO und Vermögensverwaltungen wie BlackRock, ihre Sonderkündigungsrechte aufgaben. Großbanken und institutionelle Investoren werden jetzt ebenso behandelt werden wie Kleinsparer, wenn Ice-Nine angewendet wird – ihre Geschäfte werden eingefroren.
Der Ice-Nine-Plan ist nicht auf Einzelpersonen und Institutionen beschränkt, er wird sogar auf ganze Länder angewendet. Ein Land kann Anlegergelder durch Kapitalverkehrskontrollen einfrieren. Ein Dollar-Anleger in einer Nicht-Dollar-Wirtschaft ist auf die lokale Zentralbank angewiesen, wenn er sein Investment in Dollars liquidieren will. Eine Zentralbank kann Kapitalverkehrskontrollen einführen und es dem Dollar-Anleger verwehren, Erlöse in lokaler Währung wieder in Dollar zu konvertieren und außer Landes zu überweisen.
In den 1960er-Jahren waren Kapitalverkehrskontrollen selbst in entwickelten Wirtschaftssystemen durchaus üblich. Später verschwanden solche Kontrollen aus den entwickelten Volkswirtschaften weitgehend und in den Schwellenländern wurden sie erheblich gelockert, einerseits auf Drängen des IWF und andererseits, weil eine Volkswirtschaft durch freie Wechselkurse weniger anfällig für einen Bankrun wird.
Dennoch legte David Lipton, First Deputy Managing Director des IWF, am 24. Mai 2016 in einer bemerkenswerten Rede das Fundament für eine internationale Ice-Nine-Lösung:„Die Zeit ist gekommen, unsere globale Architektur neu zu überdenken. (…) Welche Elemente der Architektur sind es wert, sie erneut zu betrachten?
Wir sollten überlegen, ob die Schnelligkeit und die Volatilität von Kapitalflüssen problematisch sind. (…) Diese Kapitalflüsse können wegen ihrer Umkehrbarkeit einen nützlichen disziplinierenden Einfluss auf Schuldner ausüben, indem sie einen von den Märkten ausgehenden Anreiz für positive Reformen erzeugen. Aber diese Umkehrbarkeit hat auch einen Preis, wenn die Kapitalflüsse plötzlich stoppen. Wir sollten noch einmal überlegen, ob der Aufsichtsrahmen und die Steuersysteme der Quellenländer kurzfristige, schuldenerzeugende Kapitalflüsse übermäßig fördern.
Ich weiß, dass (…) es ketzerisch ist, das zu sagen, aber wir sollten überlegen, ob ein besser koordinierter Ansatz zu Kapitalflussmaßnahmen und makro-aufsichtlichen Initiativen in den Kapitalzielländern gerechtfertigt sein könnte.“
Hinter diesem Jargon steckt der Aufruf, die Steuerpolitik und Bankenregulierung zwischen Kapital-„Quellenländern“ (hauptsächlich den Vereinigten Staaten) und „Zielländern“ (den Schwellenländern) zu koordinieren, um kurzfristigen Schulden entgegenzuwirken und stattdessen Investitionen in Aktien und lang laufende Anleihen zu fördern. In einer Liquiditätskrise können Aktien und langfristige Schulden leicht eingefroren werden, indem man Makler und Börsen schließt; noch verbleibende kurzfristige Anleihen können dann durch Kapitalverkehrskontrollen auf Länderebene eingefroren werden.
Am anderen Ende des Spektrums von großen Banken, institutionellen Investoren und Nationen steht der bescheidene Geldautomat. Dem Konsumenten ist vorgegaukelt worden, er könne jederzeit Bargeld erhalten, indem er seine Bankkarte in einen der allgegenwärtigen Geldautomaten steckt. Aber ist das wirklich so?
Schon heute sind Geldautomaten darauf programmiert, Abhebungen pro Tag auf ein vorgegebenes Limit zu begrenzen. Vielleicht dürfen Sie jeden Tag 800 Dollar oder gar 1000 Dollar abheben. Aber haben Sie schon einmal versucht, 5000 Dollar aus dem Automaten zu ziehen? Das wird Ihnen nicht gelingen. Aber wenn das Tageslimit 1000 Dollar beträgt, können die Banken die Maschinen auch ganz einfach umprogrammieren und es auf 300 Dollar senken, gerade genug für Benzin und Lebensmittel. Noch einfacher ist es, die Maschinen einfach auszuschalten, wie es 2012 in Zypern und 2015 in Griechenland gemacht wurde.
Bargeld am Bankschalter abzuheben ist keine praktikable Alternative zu stillgelegten Geldautomaten. Wenn Sie einen nennenswerten Betrag abheben wollen, wird der entsprechend ausgebildete und instruierte Kassierer seinen Chef herbeirufen, um Ihre Abhebung genehmigen zu lassen. Der Vorgesetzte wird ihm anraten, einen „Suspicious Activity Report“ (SAR,
„Bericht über verdächtige Aktivität“) beim US-Finanzministerium einzureichen. SARs waren ursprünglich dafür gedacht, Geldwäschern, Drogenhändlern und Terroristen auf die Schliche zu kommen. Aber obwohl Sie nichts davon sind, wird der Report trotzdem eingereicht werden. Die Banken haben mehr Respekt vor der Bankenaufsicht als vor einem verärgerten Kunden. Es bringt ihr keinen Vorteil, Ihnen entgegenzukommen. Ihr Name wird in einer Akte beim Finanzministerium landen neben den Mitgliedern von Drogenkartellen und Al-Qaida.
Auch diese Selbsthilfemethode, um an Bargeld zu kommen, hat ihre Grenzen, da die Zweigstellen von Banken heutzutage nur noch relativ kleine Mengen an 100-Dollar-Scheinen vorhalten. Wenn ein echter Run auf Bargeld entstünde, würden die Kunden umso früher abgewiesen werden. Der 100-Dollar-Schein selbst ist durch Inflation ein schwindender Wert.
Dieser Überblick zeigt, dass Börsen geschlossen, Geldautomaten ausgeschaltet, Geldmarktfonds eingefroren, negative Zinsen eingeführt und Barabhebungen verweigert werden können, und das alles innerhalb weniger Minuten. Dann wird Ihr Geld Ihnen wie ein Juwel in einer Glasvitrine bei Cartier erscheinen: Sie können es sehen, aber nicht anfassen. Viele Sparer erkennen nicht, dass der Ice-Nine-Plan bereits umgesetzt ist und nur darauf wartet, durch eine Verfügung des Präsidenten und ein paar Telefonanrufe aktiviert zu werden.
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James Rickards: Der Weg ins Verderben.
Wie die Eliten die nächste Krise vorbereiten und wie Sie sich davor schützen können.
Die weltweite Konjunktur hat sich nach der Finanzkrise unglaublich schnell erholt. Geradezu unnatürlich schnell. Die tönernen Füße, auf denen die erstaunliche Erholung steht, haben Namen: künstliche Niedrigstzinsen und eine epische Geldschwemme durch die Zentralbanken. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese wegbrechen. Danach werden uns die Zentralbanken dieser Welt nicht mehr retten können.
Dass auch Privatanleger dem nicht ganz schutzlos ausgeliefert sind und wie sie sich vorbereiten können, zeigt James Rickards in seinem neuen Buch.
Das Buch ist beim FinanzbuchVerlag erschienen, kostet 24,99 Euro und kann im guten Buchhandel sowie direkt beim Verlag oder bei Amazon
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