Politik

In Großbritannien endet die Ära des Thatcher-Kapitalismus

Lesezeit: 16 min
07.06.2017 00:51
In Großbritannien wird mit der Wahl am Donnerstag und mit dem EU-Austritt das Vermächtnis des Thatcherismus ad acta gelegt. Die Briten müssen im Grund von vorn beginnen.

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Premierministerin Theresa May hat auf den 8. Juni kurzfristig Parlamentswahlen angesetzt: Anlass ist ein Entscheid des Obersten Gerichtshofes, welcher die Entscheidungshoheit des Parlaments für den Brexit festgestellt und nach einem Rekurs der Regierung bestätigt hatte. Im bisherigen Parlament gibt es nur eine schmale Regierungsmehrheit von 17 Abgeordneten, welche darüber hinaus nicht sicher für einen harten Brexit stimmen würden. Genau das ist aber die Agenda der Premierministerin, auf die sich ihre Regierung festgelegt hat. Zudem beginnt sich das wirtschaftliche Klima einzutrüben, vor allem weil die Haushalte stagnierende Realeinkommen haben. Nach den regelmäßigen Wählerbefragungen bestand zum Zeitpunkt der Ankündigung im April 2017 ein großer Vorsprung der Konservativen von ca. 20 Prozent der Wählerstimmen gegenüber der Oppositionspartei Labour. Mit dem Mehrheitswahlrecht sollte dies zu einem erdrutschartigen Wahlsieg der Konservativen führen. Der Zeitpunkt schien ideal, um die Kräfteverhältnisse zu ändern.

Doch auch eine zweite Agenda steht am 8. Juni zur Abstimmung. Wie wird das Vereinigte Königreich politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich neu organisiert? Die Konservativen haben dazu ein sehr ausführliches Programm von 84 Seiten veröffentlicht. Im Kern stellt dieses Programm in gewisser Hinsicht einen Bruch mit dem Thatcherismus dar. Premierministerin Margaret Thatcher hatte mit ihrer neoliberalen Politik der Privatisierung und Deregulierung die Grundstruktur der britischen Wirtschaft seit 1979 maßgeblich geprägt. Sie war auch die Vorreiterin entsprechender Politik-Orientierung in der Europäischen Union, die mit dem Maastricht-Vertrag eingegangen wurde. Gemäß den Leitpunkten von Theresa Mays Programm sollen die britische Wirtschaft, Wirtschaftspolitik und Gesellschaft umgekrempelt werden. Schwerpunkte des Programms sind der Brexit sowie die Neuorientierung der Industrie- und Sozialpolitik.

Auch der Parteichef Jeremy Corbyn hat ein ausführliches Programm von Labour veröffentlicht. Es sieht eine ähnlich radikale Abkehr von der Politik der Labour-Partei der letzten 25 Jahre vor – das Ende von Tony Blairs ‚New Labour‘. Sein Programm ist in enger Zusammenarbeit mit den britischen Gewerkschaften ausgearbeitet worden. In gewisser Hinsicht stellt es eine Rückkehr zu einem klassischen sozialdemokratischen Programm dar, antwortet aber auch in einer spezifischen Weise auf die seither eingetretene Entwicklung. Vor allem geht es viel geschmeidiger mit dem Brexit um. Es strebt eine einvernehmliche Trennung und einen Zugang zum europäischen Binnenmarkt für die britische Wirtschaft an.

Die Wahlen vom 8. Juni sind die wichtigsten Wahlen – zumindest seit 1979. Denn der Brexit bedeutet den Austritt aus einem riesigen Geflecht von europäischen Gesetzen, Regulationen und Verordnungen. Keine andere Regierung der letzten Jahrzehnte hat deshalb einen auch nur im Ansatz vergleichbaren Gestaltungs-Freiraum wie diejenige, welche jetzt gewählt werden wird. Sie kann im Grunde genommen das Vereinigte Königreich neu gestalten. Das Parlament wird dabei nicht ausgeschaltet, aber angesichts der Komplexität der Materien gegenüber Regierung und Administration deutlich im Hintertreffen sein. Wahrscheinlich wird sich das Parlament auf einige zentrale Fragen beschränken müssen und dort sowie auf das Gesamtpaket Einfluss nehmen. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen werden die Stärkeverhältnisse im Parlament bedeutsam sein. Es spielt also eine Rolle, wie viele Konservative und wieviel Labour Abgeordnete im neuen Unterhaus vertreten sein werden.

Seit der überraschend erfolgten Verkündigung der Wahlen am 18. April haben sich die Stärkeverhältnisse in den Umfragen erheblich verändert. Verkürzt haben Konservative und vor allem Labour in den Umfragen zugelegt – die bisher mit bedeutenden Wähleranteilen versehenen anderen Parteien wie Liberaldemokraten, UKIP und Grüne sind jedoch fast kollabiert. Diese Parteien sind aufgrund des Majorzwahlrechts zahlenmäßig im Parlament gegenüber ihren Wähleranteilen massiv untervertreten. Ganz herausragend ist dabei, dass Labour seit der Ankündigung deutlich aufgeholt und in den Umfragen nicht mehr weit hinter den Konservativen zurückliegt. Der neue Labour-Parteichef Corbyn hat im Übrigen an persönlicher Zustimmung zugelegt, während die immer noch deutlich führende Theresa May doch einiges an Zustimmung eingebüßt hat.

Die Brexit-Verhandlungen beginnen rund 2 Wochen nach den Parlamentswahlen. Sie sind die wichtigste Agenda auch für die Europäische Union in den nächsten zwei Jahren. Von daher ist es wesentlich, die Wahlprogramme der Parteien und ihre Hintergründe zu kennen. Also einerseits: Welche wirtschaftlichen und politischen Interessen stehen hinter der Politik des harten Brexit, den die Regierung verfolgt? Und was hat Labour zu einer derart fundamentalen Kurswende veranlasst. Zur Beantwortung sind primär politische, sekundär sozialpolitische und tertiär wirtschaftliche Faktoren heranzuziehen.

Der Brexit-Entscheid vom Juni 2016 war ein Zufall – das Ergebnis einer Serie von politischen Irrtümern und Pannen. Zunächst steht da schon die Tatsache, dass überhaupt ein Brexit-Referendum angesetzt wurde. Die Regierung Cameron war aufgrund ihrer Sparpolitik und des schwachen Konjunkturaufschwungs unpopulär, der zudem an vielen Briten vorbeiging. Die Wählerbefragungen vor den Parlamentswahlen 2015 zeigten die Konservativen von 2011 an anhaltend gleichauf oder hinter Labour liegend. Premier Cameron gewann die Wahl von 2015 dennoch, sogar überzeugend, indem er die rechtsnationale UKIP mit dem Versprechen an die Wand spielte, ein Referendum über einen Brexit bis 2017 durchzuführen. Wer effektiv einen Brexit wollte, musste konservativ stimmen. Das machten folgerichtig viele UKIP- und wahrscheinlich auch Labour-Wähler.

Cameron dachte aber keine Sekunde an einen Brexit, den er persönlich nicht befürwortete, sondern im Gegenteil als Hauptgegner bekämpfte. Genauso wenig wie sein Schatzkanzler George Osborne, der andere wichtige Exponent der Konservativen für den Verbleib in der Europäischen Union.

Der Brexit schien auch keine große Sache zu sein: Der mächtige Dachverband der Wirtschaft CBI, die Britische Handelskammer (BCC), welche kleine und mittlere Unternehmen vertritt, die British Bankers Association (BBA) als Dachverband der Banken und Finanzdienstleister, die Bank of England, Institutionen wie die Forschungsinstitute, praktisch alle Experten, die internationalen Organisationen wie OECD und IWF, sie alle standen fest im Remain Lager und malten ein düsteres Bild für den Fall eines Brexit. Von daher kann man keinesfalls sagen, dass der Brexit-Entscheid durch die dominierenden Wirtschaftsinteressen getragen wurde – im Gegenteil. Die einflussreichen organisierten Interessen standen im Lager, das den Verbleib befürwortete. Verschiedene verbandsinterne Umfragen der Unternehmerverbände hatten ergeben, dass zwischen 60 und 90 Prozent der Unternehmen für den Verbleib in der Europäischen Union votierten.

Es gab zwar effektiv eine Gruppe von 250 Business-Exponenten, die sich vor der Abstimmung öffentlich und in einem Abstimmungskomitee organisiert für einen Brexit aussprachen, aber es waren Individuen, häufig ehemalige oder pensionierte Entscheidungsträger sowie vor allem Unternehmer aus dem Binnenmarkt. Doch ihre Propaganda war wirkungsvoll, weil sie mit einem wichtigen Codewort kombiniert wurde: In ihrem Aufruf sprachen sie sich gegen die Zugehörigkeit zu einem von Deutschland dominierten Europa aus. Aus Gründen der politischen Korrektheit wurden solche Töne sonst sehr wenig angeschlagen, aber die Botschaft wurde vor allem bei den älteren Semestern gut verstanden: Die älteren Wähler waren eine Hauptgruppe, die für den Austritt stimmten.

Der Brexit wurde nicht aufgrund unmittelbarer wirtschaftlicher Interessen, sondern in der Politik entschieden – und zwar aufgrund übergeordneter Ziele. Zwei Pannen oder unvorhergesehene Personalien trugen dazu bei: Der populäre Londoner Bürgermeister Boris Johnson schlug sich auf die Seite der Brexit-Befürworter. Gemäß der gemeinhin verbreiteten Version war sein Kalkül ein rein politisches: Er wollte innerparteilich profitieren und sich zum neuen Premier machen. Doch es gibt noch andere Interpretationsmuster.

Der Hauptgrund für den Brexit war aber die Weigerung des neugewählten linken Labour-Parteichefs Jeremy Corbyn, für den Verbleib eine aktive Kampagne zu machen. Der Brexit wurde in den Labour-Stammgebieten entschieden, in den Industrieregionen Mittel- und Nordenglands. Dort war die Zustimmung zum Brexit prozentual sehr stark, während sie in den konservativen Wahlgebieten viel weniger ausgeprägt ausfiel. London und Umlande (‚Greater London Area’) stimmten mit großer Mehrzahl für den Verbleib. Cameron realisierte erst spät, dass gemeinsame Auftritte beider Parteichefs von Corbyn abgelehnt wurden. Dafür waren drei Faktoren verantwortlich: Die katastrophale Erfahrung, die Labour mit gemeinsamen Auftritten des damaligen Parteichefs Ed Miliband mit Cameron gegen den Austritt im schottischen Unabhängigkeitsreferendum von 2014 gesammelt hatte.

Labour, einst dominierende Macht in Schottland, verlor bei den Parlamentswahlen 2015 fast alle Sitze an die Schottischen Nationalisten. Corbyns Ablehnung jeglicher Assoziation mit Cameron und seiner Austeritäts- und Umverteilungspolitik sowie die traditionelle Reservation der Labour-Linken gegen Europa kamen noch hinzu. Corbyn ist ein Labour-Linker in der Tradition der früheren Parteilinken Tony Benn, Michael Foot oder Barbara Castle. Sie hatten 1975 beim Referendum über die Frage zur Zugehörigkeit zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft des Vereinigten Königreichs die Nein-Kampagne angeführt. Und Michael Foot hatte 1983 als Parteichef Labour mit dem Versprechen eines Austritts aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in eine Niederlage gegen Margaret Thatcher manövriert. Er hatte gleichzeitig deren Politik der Privatisierung und Deregulierung angeprangert.

Vor 10 bis 25 Jahren wäre der Brexit-Entscheid, der so massiv gegen die gut organisierten Interessen der Wirtschaft verstieß, wohl anders behandelt worden. Der Ausgang der Abstimmung war ja auch einigermaßen knapp – mit 51.9 Prozent Stimmen für den Brexit und 48.1 Prozent dagegen. Auch war die Abstimmung rechtlich nicht bindend. Eine Regierung hätte damals wohl neue Verhandlungen mit der Europäischen Union aufgenommen, man hätte mehr oder weniger gewichtige Konzessionen erhalten, etwa mit Bezug auf die Personenfreizügigkeit, und die Abstimmung wäre mit einiger Verzögerung nochmals wiederholt worden.

So geschah es in zahlreichen Ländern der Europäischen Union mit Bezug auf Integrationsschritte oder Referenden gegen eine Integration. Auch im Vereinigten Königreich hatte Tony Blair ein Referendum über die Verträge von Amsterdam 2005 in Aussicht gestellt. Er hatte dies aber nicht durchgeführt, weil angeblich der Lissabon-Vertrag von 2007 andere Elemente enthielt. Nichts mehr dergleichen, nicht der Ansatz einer solchen Entscheidungs-Orientierung oder Schadens-Begrenzung erfolgte im Vereinigten Königreich 2016. Auch die Europäische Union hätte in solchen Verhandlungen einen Lernprozess machen können – etwa in Bezug auf ihre Außenhandelspolitik oder auf die Personenfreizügigkeit.

Warum dieser Gesinnungswandel in der politischen Führung des Landes? Warum hat man sich gegen die ganz expliziten Interessen der Wirtschaft entschieden – und zwar gerade diejenige Partei, welche die Interessen der Wirtschaft historisch immer vertreten hat? Entscheidend war ein Komplex von drei Faktoren:

  • Innerparteiliche Prozesse und Machtverschiebungen in der regierenden Konservativen Partei
  • Die Entwicklung der britischen Wirtschaft und deren sozialpolitische Konsequenzen
  • Die Wahrnehmung der Aussichten Europas sowie des europäischen Projekts

Das Vereinigte Königreich und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)/Europäische Gemeinschaft (EG) oder Europäische Union (EU), wie sie in historischer Abfolge hießen, waren und sind keine Liebesgeschichte. Sie stellen eine Geschichte von Anziehung und Konflikt dar, waren und sind Anlass von heftigen Auseinandersetzungen, Machtkämpfen, ja Intrigen und Führungskrisen innerhalb der Konservativen wie auch der Labour Partei. Kein anderes Thema hat im Vereinigten Königreich der Nachkriegszeit mehr polarisiert als das Verhältnis zu Europa. Die Haltung im Vereinigten Königreich gegenüber Europa war nicht immer, aber dominant von einer Transaktions- oder Deal-Logik bestimmt: Soll man dabei sein oder nicht? In welcher Form ist das Dabeisein am günstigsten? Was gilt es zu vermeiden? Im Vordergrund stand fast immer eine Präferenz für möglichst viel staatliche Unabhängigkeit, möglichst wenig Delegation der Kompetenzen nach Europa oder Brüssel. Nur unter den Premiers John Major (1990-97) und Tony Blair (1997-2007) war ein vertieftes Engagement für ein gesamteuropäisches Projekt mit der Bereitschaft spürbar, weitreichende Kompetenzen nach Brüssel abzugeben.

In anderen Ländern, zuvorderst Deutschland und Frankreich, aber auch den Benelux-Ländern standen politische Erwägungen im Vordergrund: Nie wieder Krieg, nie wieder gegenseitige Aufrüstung und destruktive Entwicklung. In diesen Ländern war es von allem Anfang an ein politisches Projekt in Richtung eines Vereinigten Europa. In vielen anderen Ländern wurde das Europäische Projekt zusätzlich als ein Mittel oder Instrument zur wirtschaftlichen und politischen Modernisierung des eigenen Landes gesehen. Besonders ausgeprägt war dies in den Peripherieländern, aber zunächst auch in den Ländern Mittel- und Osteuropas – nicht so im Vereinigten Königreich. Das Land ist seit tausend Jahren selbständig – eine Insel, mit der Geschichte einer jahrhundertelangen wirtschaftlichen und politischen Weltmacht, zweier siegreich beendeter Weltkriege und aus all dem resultierend spezieller Beziehungen zum Rest der Welt.

Die Entscheidung zum Bruch mit Europa fiel nach dem Brexit-Entscheid in einem engen Personenkreis an der Spitze der Konservativen Partei – dies in der Situation eines Machtvakuums aufgrund des Rücktritts von Premier Cameron. Doch sie fiel nicht zufällig, sondern folgte einer langen Vorgeschichte und Logik. Die konservative Partei war völlig gespalten. Ein Lavieren, ohne das Wahlresultat effektiv anzuerkennen und den Brexit umzusetzen, hätte sie zerrissen.

Historisch waren nämlich die Konservativen die Partei, welche das Vereinigte Königreich in Europa integriert hatte. Dies gilt uneingeschränkt bis in die 1980er Jahre. Die Konservativen hatten nach dem Debakel des ersten Suez-Krieges von 1956 eine Umorientierung vorgenommen und wollten unter Premier Macmillan in den 1960er Jahren in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eintreten. Sie erkannten, dass die Periode der Weltmacht vorüber war, und dass Kontinental-Europa tendenziell schneller als das Vereinigte Königreich wuchs. Deshalb wollten sie partizipieren. Es war rein opportunistisch. Labour war in den 1960er Jahren und tendenziell bis in die 1980er Jahre dagegen – jedenfalls gab es in der Partei, in den Gewerkschaften und in der Parteispitze erbitterte Widerstände.

Doch der französische Präsident De Gaulle sabotierte in den 1960er Jahren den Beitritt des Vereinigten Königreichs zweimal. 1970 wurde völlig überraschend der europafreundliche Konservative Edward Heath Premier. 1973 forcierte Premier Heath den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Ein Jahr später verlor er zweimal Unterhauswahlen und musste als Parteiführer zurücktreten – unter anderem wegen des EWG-Beitritts. Der Labour-Politiker Wilson gewann nämlich die Wahlen im Jahr 1974 zweimal mit dem Versprechen, ein Referendum über die Zugehörigkeit zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durchzuführen – also analog wie Premier Cameron 2015 die Wahlen gewann. Die EWG-Gegner beim Referendum waren vor allem die Labour Linke unter Tony Benn, Michael Foot und Barbara Castle. Bei der Referendums-Abstimmung wurde der Beitritt deutlich, im Ausmaß von zwei zu eins, bekräftigt. Alle drei folgenden konservativen Premierminister (Thatcher, Major, Cameron) stolperten ebenso wie Edward Heath über die Europapolitik und mussten deswegen den Hut nehmen. Kein einziger konservativer Regierungschef der letzten 50 Jahre ging freiwillig. Alle scheiterten sie über die Europapolitik.

Denn Teile der Konservativen Partei begannen zu Europaskeptikern zu mutieren. Grund und Datum können präzise festgelegt werden. Margaret Thatcher opponierte gegen einen Ausbau der Europäischen Union mit dem Projekt des EU-Kommissions-Präsidenten Jaques Delors (1985-95). Ihre Rede auf dem Tory-Parteitag von 1988 bildete den Startschuss für die Europaskeptiker. Seither rumorte es in der Konservativen Partei immer wieder in Bezug auf die Europafrage. Die Partei und Parteispitze waren in unterschiedlichem Maß gespalten. Die Abkehr der Premierministerin Thatcher war zunächst ein Widerstand gegen den weiteren Ausbau der Europäischen Union – keineswegs ein Befürworten eines Austritts.

Doch in der Partei setzten sich die glühenden Europa-Befürworter wie John Major, ihr Nachfolger als Premier, oder Michael Heseltine durch. John Major unterschrieb den Maastricht-Vertrag von 1992 und war ein loyaler Anhänger des europäischen Projekts. Dahinter stand natürlich die Einschätzung, dass mit dem Gemeinsamen Markt und der geplanten Einheitswährung etwas Großes in Europa entstehen würde, an dem es unbedingt teilzuhaben gälte.

In der Partei begann sich indes die Ablehnung von deren Europakurs auszubreiten, insbesondere nach der Schmach der Pfund-Abwertung von 1992. Es entstand schon in den 1990er Jahre eine europaskeptische Tendenz in der Konservativen Partei – in allen Nuancen. Diese Fraktion wollte den Zugang zum Gemeinsamen Markt, lehnte aber weitere Elemente wie die Währungsunion und die Übertragung von immer mehr Kompetenzen nach Brüssel ab. Nach 1992 musste John Major Rücksicht auf das innerparteiliche Gleichgewicht nehmen, sein europafreundlicher Kurs hatte nicht mehr volle Unterstützung.

Umgekehrtes ergab sich bei der Labour-Partei: Von den frühen 1960er Jahren bis Mitte der 1980er Jahre war Labour eine Partei, die stark an der Weisheit der Europa-Zugehörigkeit zweifelte und sie teilweise massiv bekämpfte. Im Kern ging es darum, dass die Gewerkschaften und die linke Labour-Führung glaubten, dass eine Marktöffnung die Sozialstandards aushöhlen würde. Ganz prägnant kam dies im Wahlkampf 1983 des linken Labour-Chefs Michael Foot zum Ausdruck. Damals führte Labour eine Kampagne gegen die Politik der Privatisierung und Deregulierung Thatchers sowie für den Austritt aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Für Labour und die Gewerkschaften waren diese Kernelemente des Thatcherismus nur dazu da, um die Gewerkschaften zu brechen und die Arbeitsplätze in der Industrie zu vernichten.

Die ablehnende Haltung von Labour gegenüber Europa hatte sich Ende der 1980er Jahre aus dem gleichen Grund geändert wie die eines Teils der Konservativen – nur in die andere Richtung. Der Kommissionspräsident Jaques Delors verkaufte 1988 auf dem Jahreskongress des Gewerkschafts-Dachverbandes TUC den Gewerkschaften die Sozialcharta, d.h. die sozialen Errungenschaften und Absicherungen der Europäischen Union. Von da an begann sich Labour für die Europäische Union zu erwärmen. Genau aus dem gleichen Grund erfolgte kurz darauf die geharnischte Reaktion von Margaret Thatcher, welche die Erweiterung der Befugnisse der EU diesbezüglich ablehnte und als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten ansah.

Unter den Parteichefs Neil Kinnock, der später noch Mitglied der Europäischen Kommission wurde, und vor allem Tony Blair ab 1994 wurde die Orientierung auf die Europäische Integration drastisch vorangetrieben. Als Premier (ab 1997) unterschrieb Blair die Sozialcharta und war sogar offen für den Beitritt zum Euro. Schatzkanzler Brown verwarf diesen Beitritt mit den fünf Tests. Der ganz große Wechsel in der Labour-Partei betraf jedoch die Einstellung zur Industrie. Blair und Schatzkanzler Brown betrieben eine Sektor- oder Industriepolitik, welche den Dienstleistungssektor begünstigte, vor allem alles auf eine konsequente und weitreichende Deregulierung des Bankensektors setzte. Sie sahen nichts Negatives im Rückgang der Industrie. Sie opferten also die Arbeitsplätze ihrer Kernwählerschaft und hofften sich in der neuen Mitte Wählerstimmen zu holen. Blair setzte ohne eine Volks-Abstimmung die Lissabon-Verträge mit der massiven Gewichtszunahme der Europäischen Kommission durch.

Blair befürwortete auch die Erweiterung der EU durch die Aufnahme der osteuropäischen Länder 2004 (Polen/Ungarn, Tschechische Republik/Slowakei, baltische Staaten)und 2007 (Rumänien/Bulgarien), und sah sogar als einer der einzigen Regierungschefs von Kontingenten für die Einwanderung von Arbeitnehmern aus diesen Länder während einer siebenjährigen Übergangsfrist ab. Der Rest ist bekannt: Großbritannien erlebte neben der weiteren Desindustrialisierung eine starke Einwanderung – einerseits in die modernen Wachstumsindustrien im Dienstleistungssektor, andererseits aus Osteuropa, was auf dem Bausektor und in anderen Berufen einen Druck auf die einheimischen Arbeitskräfte ausübte.

Der Rückgang der verarbeitenden Industrie ist nicht ganz so dramatisch, wie dies in diesen Beschäftigungszahlen, von 7 auf 2.5 Millionen, zum Ausdruck kommt. Denn ein Teil des Rückgangs entstammt, genau wie in anderen Industrieländern auch, der Auslagerung von Tätigkeiten auf spezialisierte Dienstleistungs-Anbieter – durchaus im Inland. Diese dort geschaffenen Stellen sind in diesen Zahlen nicht enthalten. Dennoch ist der Einbruch der Industrie im Vereinigten Königreich ungeheuer – besonders auch im internationalen Vergleich.

Das Mutterland der Industrialisierung, einst die Werkstätte der Welt, hat einen jahrzehntelangen Zusammenbruch von Kernindustrien hinter sich. Ende der 1970er Jahre hatte das Vereinigte Königreich nach den USA, Japan und Deutschland noch die viertgrößte Industrie der Welt. Heute ist sie im internationalen Vergleich weit abgerutscht. Ganze Industrien verschwanden, in denen das Königreich einst führend oder groß war. Auch Industrien, die einigermaßen überlebten, haben eine tiefe Transformation erfahren. Die britische Autoindustrie, noch vor wenigen Jahrzehnten eine der größten der Welt, ist als eigenständige Industrie praktisch verschwunden. Sie ist heute in der Hand deutscher, französischer und japanischer Autokonzerne und, was die beste Marke betrifft, eines indischen Konglomerats. Es sind nicht nur Jobs und Einkommen, die verloren gegangen sind. Verschwunden ist auch die typisch britische working class-Kultur, die mit Vereinen, Sportvereinen, Pubs, Nachbarschafts-Hilfe usw. identitätsstiftend war.

Es ist ganz wichtig, diesen historischen Hintergrund vor Augen zu halten. Denn der jetzige Labour-Parteichef Jeremy Corbyn ist ein Linker der 1970er und 1980er Jahre, ein Anhänger und Mitarbeiter des damaligen Parteiführers Michael Foot. Für ihn und für zahlreiche ältere Labour-Wähler hat sich die damalige Befürchtung brutal bewahrheitet.

Vor diesem Hintergrund sind auch die Erfolgsmeldungen in Bezug auf den Dienstleistungssektor zu relativieren. Im Außenhandel kann der Dienstleistungssektor den Niedergang oder die Wettbewerbsverluste der Industrie keinesfalls kompensieren.

Zwar nahmen die Überschüsse in der Dienstleistungsbilanz (blaue Balken) massiv zu, doch die Fehlbeträge in der Handelsbilanz (grüne Balken) übertrafen sie bei weitem. Früher war der Saldo der britischen Leistungsbilanz (rote Balken) starken zyklischen Schwankungen (rote Linie) unterworfen. Seit Mitte der 1990er Jahre ist daraus ein sich immer mehr vertiefender Einbruch geworden. Dieser spiegelt eine anhaltende Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit wider. In der ganzen Eurokrise ist immer wieder behauptet worden, die Peripherieländer und Frankreich hätten die Wettbewerbsverluste in Europa erlitten. Das ist nur teilweise richtig. Der ganz große Verlierer ist das Vereinigte Königreich. Die Peripherieländer sind einfach in einer Schuldner-Position und haben keine eigene Währung. Im Fall des Vereinigten Königreichs kommt die Konzentration dieser Überschüsse in der Dienstleistungsbilanz auf sehr wenige Branchen hinzu – zuvorderst die Finanz-Dienstleistungen und andere Geschäfts-Dienstleistungen, welche auf den Großraum London konzentriert sind. Bei diesen Geschäfts-Dienstleistungen sind wiederum viele Beratungs-Dienstleistungen, die sehr stark auf den Finanzsektor ausgerichtet und mit diesem verbunden sind. Es ist, wie das Königreich unsanft erfahren hat, eine Risikokonzentration auf eine Branche.

Darüber hinaus gibt es ein weiteres Problem. Das soll anhand des Beispiels des wachstumsstärksten Segments dieser Wachstumsindustrien charakterisiert werden – des Fußballs. Der Fußball ist eine vergleichsweise kleine, aber rasant wachsende Exportindustrie des Vereinigten Königreichs.

Die englische Premier League ist finanziell das Maß aller Dinge im Weltfußball – zumindest im Klubfußball. Die Einnahmen aus den TV-Rechten sowie aus dem Merchandising, beispielsweise dem Verkauf von Leibchen, brechen jedes Jahr alle Rekorde. Ein wesentlicher Teil der Einnahmen stammt dabei aus dem Ausland, aus Lizenzen für TV-Rechte, dem Trikot-Verkauf oder aus dem Trikot- und Stadion-Sponsoring. Anders als die deutsche Bundesliga werden die Matches der Premier League praktisch weltweit übertragen. Es ist also eine Exportindustrie.

Doch die Klubs sind mit wenigen Ausnahmen im Besitz ausländischer Oligarchen, ausländischer Private Equity Gruppen oder Staatsfonds. Die 20-35 Spieler pro Team verdienen jeder einzelne 50-400.000 Pfund – pro Woche, nicht pro Jahr. Die meisten Spieler sind Ausländer, nicht Briten. Es gibt natürlich einige Briten, auch unter den Großverdienern, aber das Gros sind Ausländer aus aller Herren Länder – Spanier, Franzosen, Italiener, Argentinier, Brasilianer, Deutsche, viele Afrikaner, Asiaten. In der Premier League sind auch die Trainer fast alle Ausländer. Rund um den Fußball gibt es viele Jobs, im Trainerstab, der medizinischen Abteilung, den Jugendabteilungen, im Scouting und in der Administration der Fußballklubs, im Catering, bei Spieleragenten und -vermittlern, im notorischen Wettgeschäft, an dem das ganze Land fieberhaft teilnimmt. Auch die Stadien, hochmoderne Tempel, werden gebaut und müssen unterhalten werden. Dabei gibt es viele vergleichsweise gut bezahlte Jobs für Briten. Aber das ganz große Geschäft machen einige wenige, neben Investoren, Spielern und Trainern vor allem Spielagenten und -vermittler, die fantastische Gagen einstreichen. Und diese sind wiederum mehrheitlich Ausländer, weil sie die ausländischen Perlen beschaffen können. Sie sprechen deren Sprache und haben deren Vertrauen. Und die weltweit vertriebenen Leibchen werden nicht in Manchester, sondern in China, Indien oder Bangladesh gefertigt.

Das Beispiel Fußball zeigt, allerdings weit übersteigert, was das Grundproblem dieser erfolgreichen Wachstumsbranchen im britischen Dienstleistungssektor darstellt. Das Vereinigte Königreich, und vor allem der Großraum London, sind primär eine globale Plattform, auf der sich die größten Investoren und Talente aller Art der Welt versammeln bzw. ihre Künste darbieten können. Darunter sind zweifellos viele Briten und sicher haben sie sogar Vorteile durch ihre Netzwerke. Natürlich gibt es auch den mehr klassischen Dienstleistungssektor wie Transport und Tourismus, die wie in vielen anderen Ländern Service-Dienstleistungen für das Ausland darbieten.

Aber der Kern dieser Wachstumsindustrien basiert auf einer globalen Plattform, in wenigen Bereichen mit hoher Innovationskraft, bei der ein globaler Kapital- und Arbeitsmarkt existiert, meist jugendliche Talente aus dem In- und Ausland anzieht und für einige Jahre, vielleicht ein, zwei Jahrzehnte auf- und aussaugt. In dieser Form sind das Vereinigte Königreich und speziell London einzigartig – vergleichbar noch mit den kleineren Regional-Plattformen Dubai, Singapur oder Hongkong, oder mit dem Technologie-Weltzentrum Kalifornien. Innerhalb dieser Wachstumsindustrien sind die Einkommen und Einkommenschancen ungleich verteilt – zwar nicht so extrem wie im Fußball, aber prozentual relativ wenige Bezüger absorbieren einen erheblichen Teil der Einkommen.

Noch viel ungleicher ist die Vermögensverteilung. Denn zu den reich gewordenen Eliten in der Finanz- oder Beratungsindustrie, dem Kern der modernen Exportindustrien, kommen russische Oligarchen, arabische Scheichs, griechische Reeder, reich gewordene Chinesen und Superreiche aus allen möglichen Ländern, aus ehemaligen Kolonien, anderen Schwellenländern oder auch europäischen Ländern, welche sich der Steuerlast in ihren Herkunftsländern entziehen wollen. Das sind die reichsten Leute der Welt – vielleicht mit Ausnahme derjenigen aus den Vereinigten Staaten. Sie können unter Umständen auch vom Status des ‚non-domiciled resident' profitieren und entrichten vergleichsweise läppische Steuern auf Einkommen und Vermögen – weil sie angeblich ja im Ausland erzielt werden.

Aus der größten Kolonialmacht der Welt und der Geschichte ist innerhalb von sechzig oder siebzig Jahren ein Land geworden, das in einer gewissen Weise selbst zunehmend im Begriff ist, in einem modernen Sinn kolonisiert zu werden. Zunächst gab es in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit die Entkolonialisierung, den Verlust der Kolonien. Dann folgte mit Thatcher, Major und Blair die ‚inward colonisation’, die Kolonisation von außen – nicht mit militärischer, sondern mit ökonomischer Macht. Früher gab es unzählige Briten, die als Repräsentanten oder unter dem Schutz dieser Kolonialmacht im Ausland zu Einkommen und Vermögen gekommen sind. Das ist in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen jener Zeit nicht enthalten.

Jetzt ist der Trend eher umgekehrt. Ein bedeutender Teil der Einkommen und Einkommenszuwächse wird von einer vergleichsweise kleinen Schicht von hochbezahlten Berufsleuten – Spitzenmanager, Finanzspezialisten, Beratern, Kreativen, IT-Ingenieuren, Fußballer – sowie von Superreichen eingestrichen, wobei der Ausländeranteil unter diesen sehr hoch ist. Noch krasser tritt dies bei den Unternehmensgewinnen auf, die von ausländisch beherrschten Unternehmen erzielt werden. Das statistische Amt (ONS) hat eine Studie veröffentlicht, dass rund 1 Prozent der britischen Unternehmen ausländisch beherrscht ist. Doch dieses 1 Prozent erzeugte im Jahr 2012 29 Prozent der gesamten Bruttowertschöpfung aller Unternehmen im Vereinigten Königreich. Natürlich können sie zusätzlich die Gewinne teilweise mit Buchhaltungs-Tricks in Steuerparadiese verschieben.

Das britische Steuersystem und die Britischen Steuerparadiese öffnen ihnen dazu ein weites Feld. Die erfolgreiche Steuervermeidung ist allerdings kein Privileg ausländischer Unternehmen. Vor zwei Jahren wurde bekannt, dass 6 der 10 größten im Footsie-100 vertretenen Unternehmen in Großbritannien überhaupt keine Steuern zahlen. Die makroökonomischen Zahlen, welche eine vergleichsweise günstige Entwicklung Großbritanniens zum Rest der OECD-Länder suggerieren, enthalten diese einseitige Verteilung von Einkommen und Vermögen zugunsten von in Großbritannien wohnhaften Ausländern nicht oder nur unzureichend. Das Unbehagen in der britischen Bevölkerung manifestiert sich also an vielfältigen Phänomenen, es betrifft keineswegs nur die deklassierten Arbeiterschichten in den ehemaligen Industrieregionen.

Anstelle der anvisierten Ziele des ‚Thatcherismus’, einer Angebots-Revolution, ist ein ökonomischer Abstieg und ein politischer Kontrollverlust der traditionellen britischen Eliten eingetreten. Die ausländischen Firmen, welche mit Abstand am produktivsten sind, werden vielfach von ausländischen Managern geleitet. Kontrollverlust und Unbehagen über Fremdbestimmung und über ausländische Dominanz sind Ausdruck eines komplexen Prozesses.

Doch mit der Finanzkrise, die gerade die britischen Großbanken besonders schwer traf, entschwand die Perspektive für eine britische Suprematie in der Finanzindustrie. London ist die Plattform, aber immer weniger britisch beherrscht. Deshalb gab es die Revolte der Europa-Skeptiker in der konservativen Partei in den letzten 7 Jahren.  Die Projektion auf Europa als Bösewicht reduziert die kausalen Ursachen der neuen ‚britischen Krankheit’ natürlich in unzulässiger Weise. Unter dem Titel ‚Brexit' können die Tories problemlos vom gescheiterten Thatcherismus - Deregulierung und Angebotspolitik - Abschied nehmen, den sie als Partei verkörpern, ohne dies eingestehen oder überhaupt thematisieren zu müssen. Sie vermögen so das Scheitern externen Faktoren – Europa – anzulasten und die innere Abkehr als Anpassung an die neuen Gegebenheiten zu verkaufen. Das steckt unter anderem hinter dem Entscheid für einen harten Brexit – neben anderen Faktoren.


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