Politik

Nach Wahl: Verbleib Großbritanniens in der EU wieder denkbar

Lesezeit: 3 min
10.06.2017 00:57
Auch wenn es heute unwahrscheinlich erscheint: Ein Verbleib Großbritannien in der EU könnte schon in einigen Monaten ein Thema werden.
Nach Wahl: Verbleib Großbritanniens in der EU wieder denkbar

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Die unklaren Machtverhältnisse nach der Wahl zum britischen Unterhaus haben die Möglichkeiten eines Verbleibs des Landes in der EU erhöht – auch wenn dies von den meisten Kommentatoren derzeit als unwahrscheinlich dargestellt wird. Die Konservative Partei von Premierministerin Theresa May büßte ihre absolute Mehrheit ein, die sie eigentlich mit der Abstimmung ausbauen wollte. Zwar wurden die Tories stärkste Kraft, aber sie mussten deutlich Federn lassen. Dagegen konnte die Labour Partei ihre Präsenz im Parlament ausbauen. Eine absolute Mehrheit erreichte aber keine der beiden Parteien, was eine Hängepartie bei der Regierungsbildung zur Folge haben dürfte. In die Verhandlungen zum Austritt aus der EU dürfte das Land nun eher geschwächt gehen.

Zwar hatte May von Königin Elisabeth II. den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten. Ob die von ihr angestrebte Koalition mit der nordirischen Unionist Party zu Stande kommt, ist allerdings noch unklar.

Da nur Mays Konservative überwiegend für einen harten Schnitt im Verhältnis zur EU eintreten, sind die Chancen auf grundlegende Änderungen der Austrittsmodalitäten und sogar des Austritts selbst gestiegen. Die Konservative Partei könnte zwar mit der nordirischen DUP eine Regierung bilden – mit der sie in vielen Fragen übereinstimmt – doch selbst die DUP hat andere Vorstellungen vom Austritt und fordert einen „weichen“ Austritt. „Niemand bei uns will einen harten Brexit. Was wir wollen ist ein pragmatischer Plan zum Austritt aus der EU und darum ging es auch beim Referendum“, wird DUP-Chefin Arlene Foster vom EUObserver zitiert.

Andere Beobachter äußern sich deutlicher. Der Chef der britischen Liberaldemokratischen Partei, Tim Farron, hält ein zweites Brexit-Referendum für nicht mehr ausgeschlossen. Die Argumente dafür würden nach der Wahlschlappe der konservativen Premierministerin Theresa May stärker, sagte Farron am Freitag in London. Zugleich sprach er sich dafür aus, die Gespräche zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union über den Austritt auszusetzen. Formell sollen die Verhandlungen am 19. Juni aufgenommen werden. Der Austritt ist für März 2019 vorgesehen. Angesichts der unklaren Lage in London nach der Unterhauswahl steht der Zeitplan aber infrage.

Die Chefin der schottischen Nationalisten, Nicola Sturgeon, kündigte an, alles dafür zu tun, damit Schottland und das Vereinigte Königreich im EU-Binnenmarkt verblieben. Die Pläne der Konservativen, auch einen sogenannten harten Brexit ohne Abkommen mit der EU durchzusetzen, müssten aufgegeben werden. Zugleich sagte Sturgeon, sie werde mit anderen Parteien zusammenarbeiten, um die Konservativen von der Macht fernzuhalten.

„Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Exit vom Brexit eintritt, liegt nach meiner Meinung jetzt bei 60 Prozent mit zunehmender Tendenz“, sagte Folker Hellmeyer, Chef-Analyst der Bremer Landesbank. „Der harte Brexit wurde gestern abgewählt“, betonte Commerzbank-Volkswirt Peter Dixon. „Damit ist eine Einigung mit der EU auf längere Sicht wahrscheinlicher geworden. Aus diesem Grund halten sich die Verluste des britischen Pfunds in Grenzen. Trotz aller Unsicherheit herrscht zumindest Zuversicht, dass der Kollisionskurs von Theresa May gestoppt werden kann – und zwar selbst für den Fall, dass es May gelingt, eine Regierung unter konservativer Führung zu bilden.“

Während eine Sprecherin von Kanzlerin Angela Merkel die Wahl nicht kommentieren wollte, machte Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) keinen Hehl aus seiner Genugtuung über die Schlappe der Konservativen: „Ich finde, die britischen Bürger haben gezeigt, dass sie nicht mit sich spielen lassen wollen.“ Die Briten sollten nun nochmal über die Art und Weise des Austritts in der EU nachdenken. Deutschland wolle das Land in den Verhandlungen so nah wie möglich an der Europäischen Union halten.

Sicher erscheint, dass die unklaren Machtverhältnisse in Großbritannien den für 19. Juni angesetzten Start der Verhandlungen verschieben werden. Die Konservativen setzten auf einen harten Schnitt mit der Europäischen Union, benötigten dafür aber eine klare Mehrheit im Parlament und darauf basierend ein klares Verhandlungsmandat. Die ist nun nicht mehr gegeben. Alle anderen Parteien im Parlament sind gegen einen „harten Brexit“ oder sogar gegen den EU-Austritt. Elmar Brok, Brexit-Beauftragter der EVP im Europaparlament, sagte unmittelbar nach der ersten Prognose, er erwarte bei einem solchen Ausgang erschwerte Brexit-Gespräche. „Dieses Ergebnis bedeutet, dass überhaupt keiner Kompromisse machen kann. Das wird für die Brexit-Verhandlungen sehr große Erschwernisse mitbringen.“ Zudem werde es bei den Konservativen einen heftigen Kampf um Mays Nachfolge geben. Auch EU-Kommissar Oettinger erwartet nach dem Ausgang der Wahl mehr Unsicherheit bei den Brexit-Verhandlungen. Unklar sei, ob diese wie geplant am 19. Juni beginnen könnten, sagte er dem Deutschlandfunk.

EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici erklärte im französischen Radio, dass der Zeitplan für die Brexit-Verhandlungen, die laut EU-Verträgen im März 2019 abgeschlossen sein müssen, nicht optimal sei. Eine Verlängerung der Verhandlungen kann es nur mit Zustimmung aller EU-Staaten geben. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte wiederholt den Zeitplan wegen der komplexen Themen als sehr ambitioniert bezeichnet und darauf verwiesen, dass eine Einigung bereits im Herbst 2018 stehen muss. Denn das Verhandlungsergebnis muss noch von den Regierungen, den nationalen Parlamenten und dem EU-Parlament abgesegnet werden.

Die höchsten Chancen für eine Rückabwicklung des Austritt gäbe es wahrscheinlich bei einer Koalition zwischen Labour, den schottischen Nationalisten und den Liberalen. Insbesondere die Schotten hatten sich für ein zweites Referendum zur Frage ausgesprochen und wollen mehrheitlich in der EU verbleiben. Diese Möglichkeit besteht, dürfte jedoch schwer umzusetzen sein. Corbyn hatte sich mehrfach unterschiedlich zum Austritt geäußert. „Wenn Jeremy Corbyn morgen eine Koalition zusammen mit der Schottischen Nationalpartei formt, dann erwarte ich in den kommenden zwei Jahren ein erneutes Referendum zum Austritt“, sagte der ehemalige Vorsitzende der nationalen UKIP-Partei, Nigel Farage. Der finanzpolitische Sprecher der Labour Partei, John McDonnell, hatte am Freitag eine Koalition mit den Konservativen ausgeschlossen. Die Partei habe vor, eine Minderheitsregierung zu bilden, sagte er am Freitag in London.


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