Politik

Viele Regionen wollen neue Ordnung in Europa

Lesezeit: 4 min
30.10.2017 17:10
In Europa fordern zahlreiche Regionen die Zentralregierungen heraus. Der Trend ist nicht nur für die jeweiligen Länder, sondern auch für die EU problematisch.
Viele Regionen wollen neue Ordnung in Europa

Mehr zum Thema:  
Europa >
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Europa  

+++Werbung+++

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Mehrere US-Denkfabriken führen in ihren Analysen aus, dass die Unabhängigkeitsbestrebung der katalanischen Regionalregierung in eine generelle Entwicklung von sezessionistischen Tendenzen in Europa eingebettet sei. Diese Bestrebungen seien insbesondere nach der Finanzkrise 2007/08 und der Euro-Krise erstarkt.

Geopolitical Futures (GF) zeigt auf einer Karte Regionen mit starken nationalistischen Bestrebungen in Europa. Dazu gehören neben Schottland, Katalonien, Wallonien und Flandern auch Bayern, Sizilien, Südtirol, die Lombardei, Andalusien, die Normandie, Korsika, das Elsass und weitere Regionen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die heutige politische Karte Europas in den nächsten 50 Jahren unverändert bleiben werde, sei äußerst gering. Nationalismus sei Teil der Zersplitterung Europas und ein Teil der Krise der EU, schreibt GF.

Das Council on Foreign Relations (CFR) hat eine kritische Sicht auf die aktuelle Unabhängigkeitsbestrebung Kataloniens. Die Bestrebung sei nicht legitim. Erstens sei das Referendum in Katalonien „schockierend undemokratisch” gewesen. Der Oppositions-Block des katalanischen Parlaments sei vollständig ignoriert worden und nahm an der Abstimmung zum Referendumsgesetz nicht teil. Zudem sei ein Entscheid des spanischen Verfassungsgerichts ignoriert worden, welches das Referendumsgesetz für ungültig erklärte. Es würden klare Verstöße gegen die Regeln der Venedig-Kommission des Europarates vorliegen.

Das American Enterprise Institute (AEI) führt in einer Analyse mit dem Titel „die katalanische Glocke läutet für Europa” aus, dass die Katalonien-Krise zu einem ungünstigen Zeitpunkt für die EU komme, zumal im kommenden Jahr Parlamentswahlen in Italien stattfinden. Die Märkte müssten sich auf weitere Anzeichen europäischer, separatistischer Tendenzen konzentrieren. AEI wörtlich: „Alle Oppositionsparteien Italiens haben mehr oder weniger das wachsende Unbehagen über das europäische Projekt zum Ausdruck gebracht. Um ihre Unzufriedenheit mit dem Euro im Besonderen zu unterstreichen, gehen zwei wichtige italienische politische Parteien, die Fünf-Sterne-Bewegung von Bepe Grillo und Silvio Berlusconis Forza Italia, mit der Idee in den Wahlkampf, eine Parallel-Währung für Italien einzuführen. Eine Atmosphäre erhöhter politischer Unsicherheit in Spanien und Italien könnte ein Risiko für die Erholung der europäischen Wirtschaft darstellen, indem das Vertrauen der Anleger in Europa untergraben wird. Das sollte Mario Draghi, den Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), daran hindern, einen vorzeitigen Ausstieg aus der ultra-lockeren Geldpolitik der EZB einzuleiten. Die zunehmenden Anzeichen europäischer politischer Spannungen sollten die Trump-Regierung sensibilisieren, um europäische separatistische Tendenzen nicht zu ermutigen – wie dies bereits in diesem Jahr im Zusammenhang mit der Brexit-Frage der Fall gewesen ist.”

Nach einem Bericht des Atlantic Council würde eine Abspaltung Kataloniens keinen negativen Effekt auf die NATO oder die US-Sicherheitspolitik haben. Ganz im Gegenteil. Katalonien könnte eine wichtige Rolle im maritimen Bereich spielen, wenn es um die Sicherung des Mittelmeers gehe. „Die militärischen Pläne Kataloniens sind etwas vage, aber als das Problem 2014 aufkam, betonten die Katalanen die Gründung einer eigenständigen Marine. Mit hervorragenden Häfen in Barcelona und Tarragona ist Katalonien als eine kleine Seemacht gut positioniert, nämlich „mit dem Mittelmeerraum als unserem strategischen Umfeld und der NATO als unserem Rahmen“, wie das katalanisch-nationalistische Think Tank „Help Catalonia” argumentiert. Eine Loslösung von der NATO kommt für die Katalanen nicht in Betracht.

Das Atlantic Council wörtlich: „Die groben Pläne verlangten zunächst eine Sicherheitsgruppe an der Küste von einigen hundert Matrosen. Nach ein paar Jahren würde Katalonien als ,Hauptakteur im Mittelmeerraum’ Verantwortung übernehmen – mit landgestützten Seepatrouillen-Flugzeugen und kleinen Kriegsschiffen. Schließlich kann der nationalistische Ehrgeiz eine Expeditionsgruppe mit einem leichten Angriffsträger und Hunderten von Marineinfanteristen umfassen, um eine ernsthafte Rolle in der kollektiven Sicherheit (Anm. d. Red. der NATO) zu spielen. Das wäre für die Allianz eher hilfreich als Madrids Fokus auf Panzer und Artillerie, um Ceuta und Melilla vor einer marokkanischen Invasion zu verteidigen.”

Das Mises Institute argumentiert im Rahmen einer Analyse, dass Europas „Sezessionsproblem” nicht mehr verschwinden werde. Ausschlaggebend seien unter anderem die Finanz- und Steuerpolitik der einzelnen Staaten innerhalb der EU. „Wie Katalonien – und anders als Schottland – gehören die italienischen Regionen Lombardei und Venetien zu den reichsten Regionen und entsenden enorme Steuereinnahmen nach Rom. Die südlichen Regionen Italiens, die deutlich ärmer sind als Norditalien, haben vom Reichtum der Reichen profitiert, seit die Italiener Ende des 19. Jahrhunderts alle in einen einzigen Nationalstaat gezwungen wurden. Dies wurde nie von Italienern aus Venetien vergessen, von denen viele 2014 an einem Referendum teilnahmen, um die Unabhängigkeit zu erklären. Natürlich hat die italienische Regierung in Rom die Abstimmung für ungültig erklärt”, so das Mises Institute.

Die europäischen Nationalstaaten würden dem Rest der Welt seit Jahrzehnten predigen, wie wunderbar doch die Demokratie und die Achtung des Willens des Volks seien. Doch wenn die Mehrheit des Volks in einer bestimmten Region für die Unabhängigkeit stimmt und die Zentralregierung das verhindern will, stelle sich die Frage, ob dann jene Mehrheit einfach ignoriert werden dürfe?

Carnegie Europe führt in einer Analyse aus dem Jahr 2014 aus:

„In Katalonien zum Beispiel, wo 80 Prozent der Wähler im November 2014 in einer unverbindlichen Umfrage die Unabhängigkeit unterstützten, verstärkt die wirtschaftliche Kluft (Anm. d. Red. zwischen den Regionen) den Nationalismus, da die Bewohner der reichen, spanischen Region nicht bereit sind, ihre Zentralregierung und ärmere Regionen des Landes zu unterstützen. Auch wenn es kein Allheilmittel für diese Tendenzen gibt, sollten die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten zwei mutige strukturelle Veränderungen vornehmen, um ihnen entgegenzuwirken. Erstens sollte die EU ihre interne Architektur radikal überarbeiten, um der weit verbreiteten Frustration der Bürger Rechnung zu tragen. Dies erfordert die volle Akzeptanz dessen, was die EU Subsidiarität nennt. Das bedeutet, dass Entscheidungen auf der niedrigst möglichen Ebene eigenständig innerhalb der Mitgliedstaaten getroffen werden. Zweitens und im Wesentlichen sollte die EU die Mechanismen des Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten umsetzen.”

Bereits im Jahr 2012 führte Stratfor in einer Analyse aus, dass seit der Finanzkrise 2007/08 und der Euro-Krise nicht nur nationalistische Strömungen innerhalb der EU, sondern auch sezessionistische Bewegungen innerhalb der EU-Staaten einen Aufstieg erlebt hätten. So habe die „europäische Krise” auch den katalanischen Nationalismus verschärft. Katalonien erwirtschaftet 20 Prozent des spanischen Bruttoinlandsprodukts und ist somit die reichste Region Spaniens. Allerdings gehört Katalonien nach Angaben von Stratfor auch zu jenen Regionen mit den höchsten Schulden.


Mehr zum Thema:  
Europa >

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Halbzeit Urlaub bei ROBINSON

Wie wäre es mit einem grandiosen Urlaub im Juni? Zur Halbzeit des Jahres einfach mal durchatmen und an einem Ort sein, wo dich ein...

DWN
Technologie
Technologie Petrochemie: Rettungsleine der Ölindustrie - und Dorn im Auge von Umweltschützern
24.04.2024

Auf den ersten Blick sieht die Zukunft des Erdölmarktes nicht rosig aus, angesichts der Abkehr von Treibstoffen, wie Benzin und Diesel....

DWN
Politik
Politik Sunaks Antrittsbesuch bei Kanzler Scholz - strategische Partnerschaft in Krisenzeiten
24.04.2024

Rishi Sunak besucht erstmals Berlin. Bundeskanzler Scholz empfängt den britischen Premierminister mit militärischen Ehren. Im Fokus...

DWN
Finanzen
Finanzen Bundesbank-Präsident: Zinssenkungspfad unklar, digitaler Euro erstrebenswert
24.04.2024

Spannende Aussagen von Bundesbank-Präsident Joachim Nagel: Ihm zufolge wird die EZB nach einer ersten Zinssenkung nicht unbedingt weitere...

DWN
Technologie
Technologie Habeck sieht großes Potenzial in umstrittener CO2-Einlagerung
24.04.2024

Die Technologie "Carbon Capture and Storage" (CO2-Abscheidung und -Speicherung) ist in Deutschland ein umstrittenes Thema. Inzwischen gibt...

DWN
Panorama
Panorama Fahrraddiebe nehmen vermehrt teure E-Bikes und Rennräder ins Visier
24.04.2024

Teure E-Bikes und Rennräder sind seit Jahren immer häufiger auf den Straßen zu sehen - die Anzahl von Diebstählen und die...

DWN
Technologie
Technologie KI-Hype in Deutschland: Welle von neuen Startups formiert sich
24.04.2024

Obwohl die Finanzierung von Jungfirmen allgemein ins Stocken geraten ist, werden in Deutschland gerade unzählige KI-Startups gegründet....

DWN
Politik
Politik USA kündigen massive Waffenlieferungen in die Ukraine an - Selenskyj äußert Dank
24.04.2024

Der US-Kongress hat die milliardenschweren Ukraine-Hilfen gebilligt. Jetzt könnte es laut Pentagon bei der ersten Lieferung sehr schnell...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Preiskrieg in China: Volkswagen im harten Wettbewerb der Elektroauto-Branche
24.04.2024

Volkswagen, lange Zeit der unangefochtene Marktführer in China, sieht sich nun einem intensiven Wettbewerb um den Elektroautomarkt...