Die EU schickt sich an, die so genannte „Entsenderichtlinie“ zu verschärfen: Arbeitnehmer, die eine Firma in ein anderes Land zur Abwicklung eines Auftrags entsendet, müssen künftig gleich entlohnt werden wie ihre Kollegen des Gastgeberlands. Bisher ist nur die Berücksichtigung des Mindestlohns vorgeschrieben. Eine grundsätzliche Einigung zwischen Kommission, Parlament und Rat der EU-Mitgliedstaaten gibt es schon. Jetzt folgt noch ein komplizierter Prozess in den Staaten und auf EU-Ebene. Erreichen will man, dass die ausländischen Arbeiter nicht den inländischen durch „Lohn-Dumping“ Arbeitsplätze wegnehmen. In der Praxis ist allerdings das Gegenteil der Fall: Die Aktion, die bei oberflächlicher Betrachtung logisch und fair klingt, wird Arbeitsplätze vernichten, und zwar in den aufnehmenden wie den entsendenden Ländern.
Vorweg eine Groteske:
Auch mit der geplanten, neuen Entsenderichtlinie werden die Arbeitnehmer in ihren Heimatländern sozialversichert sein. Somit wird es allein durch diesen Faktor keine Gleichstellung der Kosten für inländische wie ausländische Arbeitnehmer geben. Es ist anzunehmen, dass die Sozialversicherungsbeiträge beispielsweise in Polen niedriger sein werden als in Frankreich.
Ein Missverständnis:
Entsendete Arbeitnehmer sind nur Personen, die bei einer Firma im Ausland beschäftigt sind und als solche in ein anderes Land kommen. Nicht zu verwechseln sind diese Arbeitnehmer mit Personen, die auf eigene Faust in ein anderes Land wechseln und dort auf der Basis des freien Personenverkehrs innerhalb der EU einen Job annehmen. Dass auch diese Freiheit nicht immer und überall gilt und gegolten hat, sei in diesem Bericht nur am Rande erwähnt.
Und gleich auch eine neue Bedrohung der Unternehmen:
Die EU-Kommission plant die Errichtung einer eigenen Behörde, die darauf achten soll, dass die Gleichstellung von In- und Ausländern tatsächlich erfolgt. Dafür soll es in Brüssel einen weiteren Beamtenapparat geben, der mit den nationalen Arbeitsämtern und Arbeitsmarkt-Servicestellen zusammenarbeiten würde. Zu den schon bestehenden und im Aufbau befindlichen Aufsichtsämtern für die verschiedensten Bereiche soll eine weitere Stelle kommen, die die Zahlungen an entsendete Arbeitnehmer überprüft.
Die Verschärfung der Entsenderichtlinie ist in erster Linie auf die Initiative von Frankreichs neuem Präsidenten Emmanuel Macron zurückzuführen, der auf diese Weise die hartnäckig hohe Arbeitslosigkeit in Frankreich bekämpfen will.
Der Blick auf die französischen Daten weckt einen ersten Zweifel:
- Frankreich hat 2,5 Millionen ausgewiesene Arbeitslose. Hier handelt es sich nur um die aktiven Jobsucher. Alle Erhebungen zeigen aber, dass eine enorm große Zahl von weiteren Millionen nicht in der so genannten Gruppe A erfasst ist.
- Bemerkenswert ist, das Frankreich seit Anfang 2018 die Arbeitslosendaten nicht mehr monatlich ausweist, sonder nur mehr quartalsweise.
- In der Privatwirtschaft in Frankreich sind knapp 20 Millionen Personen beschäftigt, sodass schon der Vergleich mit den 2,5 Millionen Arbeitlosen die Problematik deutlich macht.
- Und nun zu den entsendeten Arbeitnehmern: In Frankreich sind knapp 180.000 entsendete Personen im Einsatz. Würde man alle 180.000 durch französische Arbeitlose ersetzen, so wären immer noch mehr als 2,3 Millionen in Frankreich arbeitslos.
- Abgesehen davon, dass ein 1:1-Tausch ohnehin nur theoretisch denkbar ist, entsendet Frankreich selbst 140.000 Arbeitnehmer ins Ausland.
Auch ein Vergleich europäischer Daten zeigt wie fragwürdig die Aktion ist:
- Frankreich leidet unter einer hartnäckigen Arbeitslosigkeit von etwa 9 Prozent und hat 180.000 entsendete Personen im Land.
- Deutschland hat eine Arbeitslosigkeit von weniger als 4 Prozent, weist also faktisch Vollbeschäftigung aus, und beschäftigt über 418.000 aus anderen Ländern entsendete Personen. Mehr noch: Zahlreiche deutsche Baufirmen könnten aus Mangel an Mitarbeitern viele Aufträge nicht ohne ausländische Arbeitskräfte ausführen.
- Somit ist der Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit und der Entsendepraxis nicht eindeutig nachvollziehbar.
- Zur Gesamtdimension: In den Unterlagen der EU-Kommission und des Parlaments wird ausgewiesen, dass nur 0,9 Prozent aller Arbeitnehmer in der EU von diesem Thema betroffen sind, und das obwohl in den vergangenen Jahren ein Anstieg um 40 Prozent registriert wurde.
Gravierender noch als die geringe Dimension ist die Praxis:
- Die Überlegung der Akteure geht von einer gegebenen Tatsache aus. Die Durchführung von Arbeiten durch ausländische Firmen ist in vielen Fällen billiger als eine vergleichbare Leistung von Inländern. Das gilt im Besonderen für polnische Firmen. Polen ist mit über 450.000 entsendeten Personen das entscheidende Land in dieser Debatte.
- Nur: Schon der zweite Schritt in der Argumentation von Macron und den anderen Protagonisten in falsch. Die Auftraggeber in den aufnehmenden Ländern werden keineswegs alle Ausfälle durch inländische Arbeitskräfte ersetzen. Viele Projekte werden angesichts der höheren Kosten nicht durchgeführt werden.
- Man muss berücksichtigen, dass nur wenige Aufträge zur Gänze an ausländische Unternehmen vergeben werden. Die Regel ist vielmehr die Kombination von In- und Ausländern. Wenn die Kostensenkung durch die Ausländer entfällt, wird oft der Auftrag nicht vergeben und dann verlieren auch die Inländer den Arbeitsplatz.
Die frivole Rechnung mit den ortsfesten Berufen:
- Ein nur vermeintlich schlagendes Argument würde die Entsenderichtlinie rechtfertigen: Die ortsfesten Berufe müssen im Land betrieben werden. Man kann einen Bau nicht ins Ausland verlagern, ein Hotel ist an die Destination gebunden, pflegebedürftige Personen brauchen an ihrem Wohnort Pflege. Also muss die Vertreibung der entsendeten Personen den Inländern nützen.
- Auch hier ein gravierender Irrtum: Man kann einen Bau sicher nicht ins Ausland verlagern, man kann aber auf ein Projekt verzichten oder es drastisch verkleinern. Ein Hotel oder ein Restaurant ohne Belegschaft wird nicht überleben. Und Pfleglinge, die sich eine teure, inländische Betreuung nicht leisten können, werden leiden, aber keine inländischen Arbeitsplätze schaffen.
Das grundsätzliche Problem, das nicht nur in Frankreich ungelöst ist:
- Die Entsende-Debatte ist verwandt mit der elementaren Herausforderung der Globalisierung: Im weltweiten Wettbewerb können Länder mit hohen Löhnen nur bestehen, wenn ihre Produkte und Dienstleistungen durch höchste Qualität überzeugen und daher wenig preisempfindlich sind. Dann ergibt sich eine Aufgabenteilung zwischen den Industrie- und den aufstrebenden Ländern.
- Diese Struktur müsste auch in Europa funktionieren zwischen den westlichen Staaten mit hohen Löhnen und den neuen EU-Mitgliedern im Osten.
- Diese Herausforderung trifft auch die Arbeitnehmer selbst, die ebenfalls im Wettbewerb stehen und ihre hohen Bezüge nur mit entsprechender Qualifikation verteidigen können.
Die Charakteristika eines Entwicklungslandes:
- Aufstrebende Länder müssen in einer ersten Phase zur Kenntnis nehmen, dass sie im internationalen Wettbewerb nur mit billigen Löhnen, niedrigen Steuern und Abgaben und günstigen Umrechnungskursen punkten können. Sie haben, wenn auch auf finanziell niedrigem Niveau, den Vorteil einer relativ hohen Beschäftigung.
- Sie sind tatsächlich eine Konkurrenz für die Industriestaaten, die aber mit einer Qualitätsoffensive bei den Produkten, Dienstleistungen und der Qualifikation der Arbeitnehmer antworten können.
- Die Entsenderichtlinie nimmt nicht zur Kenntnis, dass hier nur eine Partnerschaft zwischen entwickelten und aufstrebenden Ländern funktionieren kann, auch wenn sich diese Partnerschaft in der Praxis ergibt und nicht institutionalisierbar ist. Protektionismus hilft den Industrieländern nicht, bremst aber die Entwicklung der aufstrebenden Regionen. Fazit: Die Entsenderichtlinie bekämpft die Arbeitslosigkeit in Frankreich nicht und erhöht die Arbeitslosigkeit in Polen.
- Zusätzliche Arbeitsplätze zeichnen sich nur in der geplanten, neuen Arbeitsmarktbehörde der EU und den entsprechenden Kontrolleinrichtungen in den Mitgliedstaaten ab.
Die Zukunft wird dem Protektionismus geopfert:
- Entwicklungsländer bleiben nicht auf Dauer Entwicklungsländer. Sehr bald werden diese Länder zu interessanten Märkten und somit zu attraktiven Partnern. Die Belastungen für die Industrie-Länder durch die niedrigen Löhne in der Anfangsphase werden nach einiger Zeit durch eine wachsende Nachfrage nach hochwertigen Produkten kompensiert.
- In der EU ist viel von Kohäsion die Rede, also von der Anhebung des wirtschaftlichen Niveaus der schwächeren Länder. Um dieses Ziel zu erreichen werden Milliarden an Fördergeldern über zahlreiche Fonds aufgewendet, deren Wirksamkeit nur schwer erkennbar ist. Das Geld, das die entsendeten Arbeitnehmer und ihre Firmen in den entwickelten Industriestaaten verdienen, trägt unmittelbar zur Stärkung der entsendenden Länder bei.
- Der Aufstieg der Entwicklungsländer zu Partnern ist nicht nur an den Beispielen China und Indien abzulesen. Auch das im Zusammenhang mit der Entsenderichtlinie angegriffene Polen baut gerade derzeit eine Forschungs- und Entwicklungsregion nach dem Vorbild von Silicon Valley auf.
Fazit: Frankreich und alle anderen Länder müssen ihre Hausaufgaben machen und für Wettbewerbsfähigkeit auf allen Ebenen sorgen. Mauern gegen entsendete Arbeitnehmer lösen die Probleme nicht, sondern vergrößern sie sogar.
***
Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.