Angesichts dessen, dass die Wall Street Allzeithochs verzeichnet und die US-Wirtschaft im nächsten Monat einen neuen Rekord aufstellt, scheint die Verzweiflung der Finanzmärkte Ende letzten Jahres eine Ewigkeit her zu sein. Die Rezessionsängste konnten völlig entkräftet werden, und Investoren, die die Ende Januar hier geäußerte Ansicht geteilt haben, die Märkte gingen lediglich durch eine Phase irrationaler Angst, konnten sich über den besten Jahresbeginn seit 1998 freuen.
Zumindest rückblickend ist die Achterbahnfahrt des Marktes leicht zu erklären. Letztes Jahr waren die Investoren – verständlicherweise – über vier Risiken besorgt: eine zu enge US-Geldpolitik; die Eskalation des Handelskonflikts zwischen den USA und China; explodierende Ölpreise (auf 100 USD pro Barrel oder noch höher); und eine weitere Eurokrise, die durch die neuartige populistische Links-Rechts-Koalition in Italien hätte ausgelöst werden können. Bis zum Jahresende jedoch waren all diese Risiken abgeklungen: Die Fed verhielt sich zahm und machte eine Kehrtwendung, der US-chinesische Handelskrieg beruhigte sich, und der Haushaltszusammenstoß zwischen Italien und der Europäischen Kommission löste sich in einen ziemlich harmlosen Waffenstillstand auf.
Angesichts dieser Entwarnung war der Anstieg der Wertpapierpreise ab Januar verständlich und sogar vorhersagbar. Die Frage ist nun, ob diese Wende nur vorübergehend ist oder ob sich der Bullenmarkt fortsetzt.
Meiner Ansicht nach wird der Bullenmarkt, obwohl er bereits rekordverdächtig lang anhält, weitergehen. Auch das US-Wirtschaftswachstum wird, wenn es im Juni in sein elftes Jahr geht, historische Rekorde brechen. Dies liegt vor allem an der Verbindung sehr niedriger Inflation mit starker wirtschaftlicher Aktivität, die die Weltwirtschaft seit 2008 prägt. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass diese zu Ende gehen könnte.
Diese rosige Aussicht scheint zwei Konzepten zu widersprechen, die seit der Finanzkrise die ökonomischen Kommentare prägen: der „säkularen Stagnation“ und der „deflationären neuen Normalität“. Beide haben sich als irreführend und verwirrend erwiesen. Zumindest die „säkulare Stagnation“ ist als Beschreibung der weltweiten Wirtschaftsaktivität einfach falsch. Seit dem Ende der Rezession Mitte 2009 lag das globale Durchschnittswachstum bei jährlich 3,7% und damit sogar etwas höher als der Durchschnittswert der 30 Jahre vor 2008 von 3,6%. Und in diesem Jahrzehnt gab es kein einziges Jahr, in dem das globale Wachstum unter 3% gefallen ist.
Wie konnte dies geschehen, obwohl sich das Wachstum in Europa, den Vereinigten Staaten und China seit der Krise verlangsamt hat? Dafür gibt es eine einfache arithmetische Erklärung: China und die anderen Schwellenländer haben heute einen erheblich größeren Anteil an der Weltwirtschaft als in früheren Jahrzehnten. Ihre zunehmende Dominanz erzeugt einen Basiseffekt, der die Verlangsamung ihrer nationalen Wachstumsraten mehr als ausgleicht. Beispielsweise trug Chinas BIP-Wachstum von 6,5% im letzten Jahr – von einer Basis von 14 Billionen Dollar – doppelt so stark zur Zunahme der globalen Produktion bei wie im Jahr 2007, als die Wirtschaft des Landes von einer Basis von 3,5 Billionen Dollar aus um 14% wuchs.
Diese Berechnung ist nicht nur eine statistische Kuriosität. Das robuste und stetige BIP-Wachstum hat sich in wachsender globaler Nachfrage nach Rohstoffen, Energie sowie realen Produkten und Dienstleistungen widergespiegelt, die wiederum robuste und stetig wachsende Unternehmensgewinne zur Folge hatte. Andererseits ist das Konzept einer deflationären „neuen Normalität“ durchaus gültig, wenn wir nicht das Wirtschaftswachstum betrachten, sondern die Inflation. In den OECD-Ländern ging die durchschnittliche Inflation von 6,2% (in den 30 Jahren vor 2007) auf nur 1,9% (seit 2008) zurück.
An der Wall Street ist die Kombination aus mäßigem Wirtschaftswachstum und sehr niedriger Inflation allgemein als „Goldlöckchen-Szenario“ bekannt – nach dem Märchen über ein Mädchen, das seinen Brei „nicht zu heiß und nicht zu kalt“ haben will. Aber eine wichtige Eigenschaft dieser Goldlöckchen-Wirtschaft wird von Investoren, Ökonomen und sogar Zentralbankern häufig missverstanden: der offensichtliche Widerspruch zwischen hohen Aktienkursen, die eine starke wirtschaftliche Aktivität vorwegzunehmen scheinen, und fallenden Anleiheerträgen, die laut allgemeiner Ansicht eher eine globale Rezession oder säkulare Stagnation erwarten lassen.
Die meisten Ökonomen scheinen zu glauben, dass die Aktienmärkte überoptimistisch sind und falsch liegen, während die Anleihemärkte angeblich „zukünftige Probleme sehen“ und damit richtig liegen. Andere argumentieren genau umgekehrt. Was aber beiden Seiten entgeht, ist die Tatsache, dass in einer Welt dauerhaft moderaten Wachstums und dauerhaft niedriger Inflation scheinbar optimistische Aktienmärkte und scheinbar pessimistische Anleihenmärkte keinen Widerspruch darstellen. Rekordverdächtige Aktienkurse und niedrige Anleiheerträge weisen ganz einfach auf völlig verschiedene Themen hin.
Aktienkurse werden von der Aussicht auf reale wirtschaftliche Aktivitäten und die entsprechenden Unternehmensgewinne getrieben. Anleihenpreise hingegen hängen von den Inflationsaussichten und den daraus resultierenden Zinsen ab. In der Welt vor der Krise bedeutete starkes Wirtschaftswachstum fast unweigerlich auch höhere Inflation und damit auch höhere Zinsen. Aber während des letzten Jahrzehnts ist die Verbindung zwischen wirtschaftlicher Aktivität, Inflation und Geldpolitik, die noch in den 1980ern und 1990ern für selbstverständlich gehalten wurde, völlig zusammengebrochen. Das Vorkrisendogma, Inflation sei „immer und überall ein monetäres Phänomen“, hat sich als Unsinn herausgestellt – zumindest in den Industriestaaten, wo die Zentralbanken Geld ohne Ende gedruckt haben, ohne dass die Inflation darauf reagiert hat.
Dass die alten Verbindungen zwischen Wachstum und Inflation verschwunden sind, könnte an der Globalisierung, der Technologie, der Demografie, der Schwächung organisierter Arbeit oder anderen Gründen liegen. Aber was auch immer dafür verantwortlich sein mag, die Folgen für die Finanzmärkte sollten jetzt klar sein: Wird die Kombination aus stetigem Wachstum und niedriger Inflation nicht ernsthaft gestört, werden die Aktienkurse viel höher und die Anleihenerträge viel niedriger sein als das, was vor der Krise als normal betrachtet wurde. Früher oder später wird das glückliche Gleichgewicht aus robustem weltweiten Wachstum und niedriger Inflation zweifellos zerstört werden, wie es bereits durch US-Präsident Donald Trumps Handelskriege und Ölsanktionen im letzten Jahr beinahe geschehen wäre. Bis ein solcher Schock allerdings eintritt, können sich die Investoren ruhig zurücklehnen und ihren Brei genau so genießen, wie sie ihn gern hätten.
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Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
Anatole Kaletsky ist führender Ökonom und Mitvorsitzender von Gavekal Dragonomics sowie der Verfasser von Capitalism 4.0, The Birth of a New Economy.