Volkswagen hat die Entscheidung über eine neue Autofabrik in der Türkei vor dem Hintergrund der türkischen Militäroffensive gegen die Kurden im angrenzenden Syrien verschoben. "Die endgültige Entscheidung für das neue Werk wurde vom Vorstand der Volkswagen AG vertagt", erklärte ein Unternehmenssprecher am Dienstag. Der Autobauer beobachte die gegenwärtige Lage sorgfältig und blicke mit Sorge auf die aktuelle Entwicklung.
Volkswagen hatte monatelang über das Werk verhandelt und einen Vertragsabschluss für Anfang Oktober in Aussicht gestellt. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil geht angesichts der aktuellen Lage derzeit nicht vom Bau eines neuen VW-Werkes nahe Izmir aus. "Die Bilder, die wir aus Nordsyrien sehen, sind entsetzlich", sagte der SPD-Politiker, der auch im Volkswagen-Aufsichtsrat sitzt, am Dienstag in Hannover. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass Volkswagen unter diesen Bedingungen in der Türkei eine Milliardeninvestition vornimmt", sagte Weil. Er gab zu verstehen, dass es im Moment um einen Aufschub und keine komplette Absage der VW-Pläne in der Türkei gehe. "Die Verhandlungen sind zu dem Vorhaben nach wie vor nicht final abgeschlossen." Er hoffe, dass sich die Verhältnisse in der Türkei normalisierten. Die nächste Aufsichtsratssitzung sei für Mitte November geplant.
Konzernchef Herbert Diess hatte Insidern zufolge direkt mit Erdogan über das neue Werk gesprochen. Ende August hatte der VW-Aufsichtsrat bereits eine Grundsatzentscheidung für die Mehrmarken-Fabrik getroffen. Laut Insidern soll für rund eine Milliarde Euro in Manisa nahe Izmir im Westen Anatoliens ein Werk mit einer geplanten Jahreskapazität von 300.000 Fahrzeugen und rund 4000 Beschäftigten entstehen. Ende 2020 sollte mit dem Bau begonnen werden, der Produktionsstart wäre für 2022 vorgesehen. Vom Band laufen sollen dort der VW Passat und der baugleiche Skoda Superb mit Verbrennungsmotoren. Die bisherigen Fertigungsstandorte dieser Modelle Emden und Kvasiny sollen neue Modelle produzieren - Emden wird auf E-Autos umgestellt, das tschechische Skoda-Werk soll künftig SUVs bauen.
Für den Standort Türkei sprechen die niedrigeren Lohnkosten und die im Vergleich zu anderen südosteuropäischen Ländern qualifizierten Arbeitskräfte. Doch wegen der Verletzung von Grundrechten in der Türkei war die Entscheidung schon länger politisch umstritten, wenngleich die Bundesregierung oder das an VW beteiligte Land Niedersachsen keine Bedenken geäußert haben sollen. VW erklärte vor einigen Wochen, sich der politischen Lage bewusst zu sein. Doch die Türkei sei weiterhin Beitrittskandidat zur Europäischen Union und eine entwickelte Marktwirtschaft. Der Autobauer wolle in dem Werk die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und die Achtung von Menschenrechten sicherstellen. Die Türkei lockte VW nach Informationen von Konzernkennern auch mit staatlichen Fördermitteln. Über deren Höhe schweigt VW.
Die US-Regierung hatte jedoch zu Wochenbeginn angekündigt, Zölle auf den Import von türkischem Stahl deutlich zu erhöhen, Gespräche zu einem neuen Handelsabkommen abzubrechen und gegebenenfalls Sanktionen gegen Einzelpersonen zu erheben. Damit sowie mit möglichen Reaktionen anderer Handelspartner steht nun nicht mehr nur hinter der politischen Stabilität der Region ein großes Fragezeichen, sondern auch hinter der wirtschaftlichen Perspektive der Türkei.
Das kommt den Wolfsburgern sehr ungelegen. In einem Monat steht die neue Planungsrunde auf der Tagesordnung für den Konzernaufsichtsrat. In dieser legt Volkswagen sein milliardenschweres Investitionsbudget für die kommenden fünf Jahre fest. Regelmäßig ist auch die Werksbelegung mit Modellen und die Auslastung der Werksverbundes Thema. Die Planungen sind komplex: Weltweit hat Volkswagen mehr als 130 Werke. Ob die Situation sich bis Mitte November beruhigt und eine Investition in der Türkei dann sowohl wirtschaftlich als auch politisch weniger riskant sein kann, ist mindestens fraglich.