Premierminister Boris Johnson hatte eine Abstimmung über die neueste Variante des schon mehrfach abgelehnten „Deals“ mit der EU angesetzt. Ein schlauer Parlamentarier stellte fest, dass noch kein Gesetz existiert, auf dessen Basis der BREXIT beschlossen werden könnte. Und plötzlich fand sich unter den zerstrittenen Abgeordneten eine Mehrheit: Man müsse zuerst dieses Basis-Gesetz beschließen, es sei gar nicht möglich, über den Deal abzustimmen. Also kam es weder zu einem Ja noch zu einem Nein. Nun versucht Boris Johnson mit einem Sitzungsmarathon bis zum 31. Oktober doch noch den Austritt Großbritanniens aus der EU zu schaffen. Als Alternative steht eine neuerliche Verschiebung des BREXIT im Raum, der allerdings alle 27 EU-Staaten zustimmen müssten.
Endlich wurde das Thema „Freihandelszone“ angesprochen
In dem Trubel ging vollends ein erstaunliches Ereignis unter: Am Freitag, nach der Einigung über die Neufassung des Deals, erklärten die Vertreter der EU, dass man nun, auf der Basis dieser Vereinbarung, in der Lage sei, über den Abschluss eines Freihandelsvertrages mit Großbritannien zu verhandeln. Seit drei Jahren steht der BREXIT auf dem Programm, seit zwei Jahren wird verhandelt, zu zahllosen Details wurden ausgeklügelte Vereinbarungen getroffen, die nun in dem 585 (!) Seiten umfassenden Deal enthalten sind, aber über die Kernfrage will man erst zu diskutieren beginnen: Wie funktioniert künftig der Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Dieser Schildbürgerstreich hat gigantische Dimensionen.
Der Freihandel ohne Zölle und ohne Kontingente mit einer praxisnahen Regelung für die Umsatzsteuer ist das dringendste Anliegen der Wirtschaft. Dabei ist das Interesse der Exporteure aus der EU sogar größer als das der britischen Unternehmer: Die Lieferungen aus Kontinentaleuropa betragen rund 360 Mrd. Euro im Jahr, während das Vereinigte Königreich in die EU etwa 265 Mrd. Euro exportiert. Ohne ein Freihandelsabkommen müssen die EU-Exporteure ab Großbritanniens Austritt aus der EU die britischen Zölle zahlen und umgekehrt treffen die britischen Unternehmen auf den EU-Außenzoll. Dies bedeutet für beide Seiten Milliarden-Belastungen, die unweigerlich für ganz Europa Verluste auslösen.
Der Freihandel würde auch das Problem der Grenze in Irland lösen
Dass dieses zentrale Thema ausgeklammert wurde, ist nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht grotesk. Der Freihandel würde auch die Streitfrage lösen, die zum Knackpunkt hochstilisiert wurde: Die Grenze zwischen Irland und Nordirland, also zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem ausgetretenen Großbritannien, wäre ohne Zölle und mit einer Umsatzsteuer-Regelung nicht spürbar.
Eine Freihandelszone schafft den unschätzbaren Vorteil, dass zwischen den Partnern sich der Handel frei entwickeln kann. Probleme gibt es allerdings durch den Handel mit Drittstaaten, der besonders geregelt werden muss. Nur: Paradoxerweise enthält die am Freitag präsentierte Neufassung des Deals zwischen EU und UK sogar die technischen Bedingungen, die auch bei einem Freihandelsabkommen zu erfüllen sind. Allerdings nur für Nordirland.
- In jedem Freihandelsabkommen muss geklärt sein, wie man mit den Importen aus Drittstaaten umgeht: Eine Ware kommt aus einem Drittstaat in ein Land, das zu einer Freihandelszone gehört und wird weiter in ein anderes Land dieser Freihandelszone geliefert. Unterliegt die Ware auf diesem weiteren Weg der Zollfreiheit oder nicht?
- Dies ist besonders kritisch, wenn das Ankunftsland mit dem Drittstaat ein anderes Freihandelsabkommen hat. Dann könnte über das Ankunftsland der Zoll umgangen werden, den das Letzt-Empfängerland gegenüber dem ursprünglichen Lieferland hat.
- Diese Problematik löst die Notwendigkeit aus,
o im grenzüberschreitenden Verkehr die Waren mit Ursprungszeugnissen auszustatten.
o Außerdem ist zu klären, ob die Ware unverändert das Ankunftsland auf dem Weg zum Zielland passiert oder
o ob eine Bearbeitung stattfindet und ab welchem Grad der Bearbeitung die Zollfreiheit der Freihandelszone gilt.
Nordirland soll eine unendlich komplizierte Bürokratie aufbauen
Und genau so eine Konstruktion wurde im Rahmen des neuen Deals vereinbart, aber nur für Nordirland, das aber noch kompliziertere Bedingungen erfüllen soll. Es geht nicht nur um die üblichen Probleme des Handels mit Drittstaaten.
- Nordirland tritt zwar als Mitglied des Vereinigten Königreichs aus der EU aus, bleibt aber in manchen Punkten Teil der EU-Zollunion.
- Nordirland muss zwischen mehreren Kategorien von Waren unterscheiden:
o Importe, die für Nordirland bestimmt sind, also Importe in das Vereinigte Königreich darstellen und daher dem britischen Zoll unterliegen, der nach dem Austritt aus der EU in Kraft tritt. Derzeit ist UK ein Teil der EU-Zollunion und kassiert an der Grenze EU-Zölle, die an die EU-Kommission abzuliefern sind.
o Lieferungen nach Nordirland aus dem restlichen Vereinigten Königreich, die also zum britischen Binnenhandel gehören.
o Lieferungen aus Drittstaaten, die über Nordirland in andere EU-Länder verkauft werden. Da muss Irland weiter so agieren, als ob es eine Außengrenze der EU-Zollunion wäre, den EU-Zoll kassieren und an die EU-Kommission abliefern. Diese Maßnahmen werden von den lokalen, also britisch-nordirischen Beamten durchgeführt. Allerdings nicht an der Grenze, sondern bei der Empfänger-Firma in Nordirland.
o Britisch-nordirische Waren, die nach Irland oder über Irland in andere EU-Staaten verkauft werden, dürfen auch keine Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland auslösen, müssen also auch von nordirischen Zöllnern im Landinneren abgefertigt werden.
Bei den Verhandlungen zwischen UK und EU wurde locker erklärt, dass die regionalen Institutionen in Nordirland die Details klären mögen. Naturgemäß ist in Belfast angesichts dieser Auflagen das blanke Entsetzen ausgebrochen. Es dürfte sogar den Verhandlungsteams gedämmert sein, welche Herausforderungen die Vereinbarung zur Folge hat: So wurde erklärt, dass Nordirland die in der Praxis auftretenden Probleme lösen möge.
Das Chaos rund um den BREXIT ist nicht zufällig entstanden
Es ist schon unverständlich, dass das wichtigste Thema, die Sicherung eines funktionierenden Handels zwischen der EU und Großbritannien, ausgeklammert wurde, aber auch der stattfindende BREXIT-Prozess selbst ist nicht nachvollziehbar.
- Schon der Termin des „Deals“ ist skurril. Die Vereinbarung endet am 31. Dezember 2020. Selbst wenn der ursprüngliche Austrittstermin am 29.März gehalten hätte, wäre die Geltungsdauer lächerlich kurz gewesen. Jetzt würden noch vierzehn Monate bleiben. Was dann geschieht, ist völlig offen.
- Unter diesen Umständen ist die von BREXIT-Anhängern wie BREXIT-Gegnern vertretene Meinung, man dürfe nicht ohne Deal aus der EU ausscheiden, nicht verständlich. Ein brauchbarer Deal müsste langfristig das Verhältnis zwischen den Partnern klären. Der vorliegende Deal unterscheidet sich nicht sehr von einem No-Deal, nur, dass London sehr viel zahlen muss.
- Bis Ende 2020 ändert sich im Verhältnis zwischen London und Brüssel auch auf Grund des geänderten Deals wenig. Vor allem bleiben alle finanziellen Verpflichtungen aufrecht, also werden im kommenden Jahr zur EU-Kommission geschätzt 15 Milliarden Euro fließen. Das britische Finanzministerium erwartet, dass die Klauseln im Deal insgesamt Zahlungen von rund 40 Milliarden Euro an die EU bis zur endgültigen Erledigung der gegenseitigen Verpflichtungen auslösen werden.
- Die Abstimmung über den Austritt im Jahr 2016 war bereits problematisch: Knapp 52 Prozent haben für BREXIT gestimmt, sodass die Bevölkerung in zwei fast gleichgroße Gruppen geteilt ist. Bei derart fundamentalen Verfassungsthemen ist in den meisten Ländern eine Zweidrittelmehrheit für eine Entscheidung erforderlich.
- Nicht nachvollziehbar ist, dass die Verhandlungen von einem Premierminister geführt werden, der im Parlament keine Mehrheit hat, also von vornherein nicht über ein brauchbares Verhandlungsmandat gegenüber der EU verfügt. Das galt schon für Theresa May, die die absolute Mehrheit der Tories bei den Wahlen 2017 verlor, und ist vollends das Problem des amtierenden Premiers Boris Johnson.
- Selbst ein Premier mit einer gut absicherten Mehrheit müsste bei einem elementaren Thema im Vorfeld einen breiten Konsens suchen, um auch die Akzeptanz der Kritiker zu gewinnen. Die Serie der Blamagen im Parlament und die Demonstrationen, die hunderttausende Bürger auf die Straße bringen, ergeben letztlich eine Staatskrise.
Der EU-Kommission ging es in erster Linie um die Milliarden aus London
Auch die Vorgehensweise auf Seiten der EU war keineswegs hilfreich.
- Auf den Beschluss des Vereinigten Königreichs, auszutreten, wurde von den EU-Spitzen, dem Präsidenten der Kommission, Jean-Claude Juncker und dem Präsidenten des Rats der Regierungen, Donald Tusk, emotional und beleidigt reagiert. Die Verhandlungen, die in der Folge von Michel Barnier geführt wurde, sollten London zeigen, welchen Fehler die Briten begehen. Erst in den vergangenen Monaten hat sich der Ton etwas gebessert.
- Neben der Emotion stand und steht das Geld im Vordergrund. Die EU-Kommission verliert durch den Austritt des United Kingdoms jährlich rund 15 Milliarden Euro, die nur schwer von den anderen Staaten übernommen werden.
- Entscheidend neben dem nicht gelösten Handels-Thema ist das Schicksal der Migranten: Hunderttausende EU-Bürger arbeiten in Großbritannien, ebenfalls tausende Briten sind in den anderen EU-Staaten tätig. Da gelang nur eine vorläufige Regelung bis 2021. EU-Bürger, die nach dem 30. Juni 2021 im Vereinigten Königreich leben wollen, müssen einen Antrag im Rahmen des „EU-Settlement Schemes“ stellen, spätestens Mitte Juni 2021. Wenn kein Deal zustande kommt, muss der Antrag vor dem 31. Dezember 2020 bei der Abteilung „UK Visas and Immigration“ des britischen Innenministeriums einlangen.
Fazit: BREXIT dürfte es nicht geben, weil 52 Prozent der Briten kein ausreichendes Ergebnis für eine grundlegende Änderung der Verfassung sein sollte, BREXIT dürfte es nicht ohne eine Freihandelszone geben, die im Interesse der EU-Firmen wie der britischen Wirtschaft unbedingt geschaffen werden müsste. Vor allem aber muss man, wie ein Ceterum Censeo, immer wieder betonen: BREXIT ist der sichtbarste Ausdruck der Unzufriedenheit mit der EU, die sich überall in Europa zeigt. Dieses zentrale Problem löst man nicht mit 585 Seiten schweren Verträgen, die zudem die entscheidenden Fragen nicht behandeln.