Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das Eurasische Wirtschaftsforum in Verona fand nun zum zwölften Mal statt. Wie hat sich die Veranstaltung innerhalb der letzten zwölf Jahre entwickelt?
Antonio Fallico: Das Forum begann als bescheidene, bilaterale italienisch-russische Veranstaltung mit sehr begrenzten Themen, wie z.B. der Vorbereitung der Olympischen Spiele in Sotschi, zielte aber immer auch auf Geschäfte ab. Schon bald erkannten wir zwei Dinge.
Erstens, dass es in der italienischen und europäischen Geschäftswelt ein großer Hunger nach praktischen Wirtschaftsinformationen über Russland gab. Welche Möglichkeiten gibt es? Wie geht man vor, wenn man verkaufen, investieren, Partner finden will? Einige interessierte Unternehmer hatten gar keine Ideen oder gar konkrete Projekte. Sie wollten sich nur informieren, Leute treffen, "den Puls nehmen", wie sie sagen. Dies führte dazu, dass das Forum immer mehr Teilnehmer begrüßen konnte und sowohl die Zahl behandelten Themen als auch die Dauer der Veranstaltung schnell von einem halben Tag auf zwei Tage anstieg.
Zweitens haben wir erkannt, dass es notwendig ist, von einer bilateralen zu einer größeren Veranstaltung überzugehen, und weitere eurasische Länder einzubeziehen. Man denke etwa an diejenigen, die später der eurasischen Wirtschaftsunion beigetreten sind, aber nicht nur an sie.
Jetzt können wir über alle wichtigen wirtschaftlichen Fragen zu Energie, Finanzen, Infrastruktur usw. für den gesamten Raum vom Atlantik bis zum Pazifik und darüber hinaus debattieren. Bei der letzten Ausgabe des Forums, die gerade zu Ende gegangen ist, sahen wir 1200 Teilnehmer aus 41 Ländern. Dabei versteht sich das Forum als eine Plattform für den wirtschaftlichen Dialog, der nicht von Konkurrenzdenken geprägt ist.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die freundliche Atmosphäre des Forums steht im Gegensatz zu den angespannten Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten, insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union auf der einen Seite und der Russischen Föderation auf der anderen Seite. Was sind die wahren Gründe für die Konfrontation zwischen dem Westen und Russland?
Antonio Fallico: Sicherlich nicht die, die von offizieller Seite vorgebracht werden. Vorwände für Sanktionen hätte man so oder so gefunden: Wenn es nicht die aktuellen, dann wären es andere gewesen. Der tiefer sitzende Grund dafür liegt in dem Übergang von einer unipolaren in eine multipolare Welt. Zur Konfrontation kam es, als sich Russland nach den in sozialer, wirtschaftlicher, politischer aber auch menschlicher Hinsicht katastrophalen 1990er Jahren wieder stabilisierte, und dann damit begann, wenn auch zögerlich, eigene Interessen zu formulieren und an der Gestaltung der internationalen Politik mitwirken wollte. Dies hat der Westen, der keine Konkurrenten dulden und sich nicht mit dem Verlust des Weltmonopols abfinden will, nicht akzeptiert.
Diese zunächst lokale russische Episode hat dann auch globale Entwicklungen mitbestimmt, in denen man heute Handelskonflikte zwischen den USA und China, zwischen den USA und der Europäischen Union, Konfliktsituationen in verschiedenen Regionen der Welt, denken Sie an Lateinamerika, echte Kriege und interne Krisen, viele bewaffnete Konflikte sieht.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Glauben Sie, dass die Welt in zwei Blöcke geteilt wird, einen westlichen und einen eurasischen? Und wenn ja, wäre die Europäische Union gezwungen, einem der beiden Blöcke, vermutlich dem amerikanischen, beizutreten? Und würde das bedeuten, dass die EU ihre östlichen Märkte, ihre strategischen Optionen und ihren Handlungsspielraum aufgeben muss?
Antonio Fallico: Ich versuche, die Welt nicht aus dieser Perspektive zu betrachten. Angesichts des gegenwärtigen Chaos und der Fragmentierung der Politik in der Welt, angesichts einer wachsenden Unvorhersehbarkeit ist es notwendig, nach Punkten der Übereinstimmung und nicht nach Konflikten zu suchen. Die Europäische Union darf nicht gegen die Amerikaner, Russen, Chinesen und andere sein. Sie muss mit ihnen übereinstimmende Punkte finden, um die Situation zu stabilisieren. Aber sie muss ihre eigenen Interessen verteidigen – politische, wirtschaftliche und andere.
Dazu müssen die Europäer ihre Interessen ersteinmal verstehen und den politischen Willen und die Möglichkeit haben, diese dann zu verteidigen. Jetzt sind wir genau in diesem Moment. Europa beginnt, sich ein besseres Bild von den Realitäten um sich herum und seinen eigenen Interessen zu machen. Der Handelskonflikt mit den USA hilft sehr, dies zu verstehen. In Verona spürt man Anzeichen einer Veränderung. Die Dialogbereitschaft steigt. Das ist ein gutes Zeichen. Es geht darum, integrative und keine exklusiven Lösungen zu finden. Die Hauptakteure, die USA, die EU, die eurasische Wirtschaftsunion mit Russland, China, Indien und alle anderen, müssen Vereinbarungen treffen und keine Konflikte schüren. Es wird sich zeigen, was wir tun können.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In Ihren Schlussworten sprachen Sie von der Wirtschaftsdiplomatie. Können Sie erklären, was Sie mit diesem Begriff meinen?
Antonio Fallico: Die klassische Diplomatie ist in der heutigen schwierigen geopolitischen Situation nicht in der Lage, ihre Aufgaben vollständig zu erfüllen. Sie bleibt zu sehr an ideologische Überlegungen, an das Konzept der politischen Korrektheit gebunden. Infolgedessen werden nationale Wirtschaftsinteressen, vor allem die Interessen von Unternehmen, nicht angemessen gefördert. Ich möchte hinzufügen, nicht nur die nationalen Interessen der Unternehmen eines Landes, sondern in unserem Fall auch auf supranationaler Ebene: Ich denke an die Europäische Union. Aus diesem Grund muss die Wirtschaft die Initiative in eigener Regie ergreifen, insbesondere in dem riesigen eurasischen Raum, der vom Atlantik bis zum Pazifik reicht.
Einerseits muss sie Druck auf ihre Politiker ausüben, damit bei der Ausarbeitung der Außenpolitik die Interessen der Unternehmen vollständig berücksichtigt werden. Dies bedeutet, in dem heute unübersichtlichen geopolitischen und geoökonomischen Kontext den Dialog und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern und nicht die Konfrontation zu suchen.
Andererseits muss die Wirtschaft auch international aktiv sein, ohne zu sehr auf die klassische Diplomatie zu setzen. Das bedeutet, neue Kontakte zu knüpfen, Dialoge zu führen, neue Partner zu finden, Gemeinsamkeiten zu schaffen, Projekte zum gegenseitigen Nutzen. Dabei muss sie mit verschiedenen Institutionen, vor allem regionalen und lokalen, Organisationen, Studienzentren usw. zusammenarbeiten, um ein neues Gefüge der wirtschaftlichen Zusammenarbeit aufzubauen, das für beide Seiten vorteilhaft ist. Erfolg bedeutet hier nicht nur Wachstum und Reichtum, sondern auch die soziale und menschliche Entwicklung von Hunderten von Millionen Menschen. Wenn man darauf wartet, dass alle Schwierigkeiten von selbst verschwinden, verpasst man Gelegenheiten und erzielt keine Ergebnisse. Das nenne ich Wirtschaftsdiplomatie.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In einer der Sitzungen des Forums wurde die soziale Ungleichheit diskutiert. Sie sprachen auch über die Verantwortung der Banken. Nicht nur den Aktionären gegenüber, sondern auch den Bürgern. Aber kann es sich eine Bank wie die Banca Intesa leisten, dies zu tun? Würde sie nicht die Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu anderen Banken verlieren?
Antonio Fallico: Nein. Die zivile und soziale Verantwortung, der Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung sind ein zunehmend sichtbarer Bestandteil der Politik der Bank, die darauf abzielt, sich an die Bedürfnisse der sich verändernden Welt anzupassen.
Lassen Sie mich Ihnen nur ein Beispiel nennen. Inzwischen gibt es im Euroraum Negativzinsen. Einige Geschäftsbanken beginnen, sie auf die Sparer abzuwälzen, die ihnen ihre Ersparnisse anvertraut haben. Intesa Sanpaolo hat beschlossen, dieser Praxis nicht zu folgen, auch wenn das bedeutet, dass sie innovativ sein muss, um den Kunden ihre Einlagen nicht in Rechnung zu stellen.
Dann muss man bedenken, dass in einer stabilen sozialen Situation auch die Bank stabiler und die Aktionäre glücklicher werden. Es ist ein bisschen wie das, was ich Ihnen vorher gesagt habe. Wir müssen nach erfolgreichen Lösungen für alle suchen. Ich möchte auch hinzufügen, dass wir gerade in Zeiten großer Volatilität soziales Denken brauchen.