Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Professor Böttger, die Probleme bei der Deutschen Bahn nehmen überhand. Wie kommt das? Was ist passiert?
Christian Böttger: Ja, die Bahn steckt in Schwierigkeiten. Aber bevor ich auf diese zu sprechen komme, möchte ich erstmal darlegen, was ganz ordentlich funktioniert.
Das ist - viele werden jetzt überrascht sein - der Personenverkehr. Immer wieder treten Journalisten an mich heran, die eine Horrorstory über Verspätungen, Zugausfälle oder überfüllte Waggons schreiben wollen und mich um einen Kommentar dazu bitten. Ich sage Ihnen dann immer, dass die Lage skandalisiert wird und die immer wieder breit getretenen Schreckensnachrichten ein verzerrtes Bild ergeben. Verglichen mit dem Chaos auf der Autobahn, geht es auf der Schiene entspannt zu. Und basierend auf den Erzählungen anderer und nicht zuletzt aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen, dass die Bahn nicht unzuverlässiger ist als die Lufthansa. Natürlich könnte es besser laufen, aber insgesamt ist die Bahn in Hinblick auf die Personenbeförderung deutlich besser als ihr Ruf.
Jetzt zur Frage, wie sich die Bahn in ihre schwierige Lage hineinmanövriert hat beziehungsweise in sie hineinmanövriert wurde.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wir sind gespannt.
Christian Böttger: Mit der Bahnreform von 1994 wurden die westdeutsche Bundesbahn und die Reichsbahn der ehemaligen DDR
zusammengeführt und das neugeschaffene Konstrukt in eine Aktiengesellschaft überführt, deren Ziel es war, Gewinne zu erwirtschaften. Prinzipiell eine gute Idee. Aber dann wurde die „dritte Stufe der Bahnreform“ - bei der die Infrastruktur getrennt werden sollte von den Transportgesellschaften, die Personen- und Güterverkehr betreiben - doch nicht realisiert. Stattdessen wurde der „integrierte Konzern“ beibehalten. Das führte zu einer grotesken Situation: Den Transportverkehr betreibt die Bahn marktorientiert. Gleichzeitig ist sie fürs Schienennetz verantwortlich und muss Mitbewerbern auf Verlangen Trassen zur Verfügung stellen - hierbei spielen marktwirtschaftliche Prinzipien jedoch überhaupt keine Rolle, weil laut Grundgesetz der Bund das Netz aufrechterhalten muss. Was zu dem Ergebnis führt, dass die Bahn danach trachtet, mit dem Bahnbetrieb möglichst viel Geld zu verdienen und ins Schienennetz möglichst wenig zu investieren.
Vor etwa 20 Jahren entwickelte der neue Vorstand um Hartmut Mehdorn die Vision des globalen Mobilitäts- und Logistik-Konzerns. Während in die Eisenbahn in Deutschland nur das Notwendigste investiert wurde, wurden alle freien Mittel in internationale Geschäfte gesteckt, schätzungsweise etwa zwölf Milliarden Euro. Die größten Blöcke davon sind die weltweit agierende Spedition „Schenker“ sowie „Arriva“, ein britisches Unternehmen, das Personenverkehr mit Bus und Bahn außerhalb Deutschlands betreibt. Leider sind diese Sparten nicht besonders profitabel, in einigen sind sogar furchtbare Verluste entstanden. Seit Jahren schon empfehlen Verbände und Fachleute sowie der Bundesrechnungshof und die Monopolkommission, die Auslandsinvestitionen zu verkaufen, aber der Bahnvorstand, die Gewerkschaft und das Verkehrsministerium wehren sich vehement. Aufgrund der hohen Verschuldung wurde jüngst beschlossen, sich doch von „Arriva“ zu trennen, dann wurde die Entscheidung jedoch wieder zurückgenommen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns erläutern, wie es um die einzelnen Bereiche der Bahn bestellt ist?
Christian Böttger: Was den Personenverkehr anbelangt: Im Regionalverkehr („DB Regio“ - Anm. d. Red.) läuft es ordentlich, er trägt circa acht Milliarden zu den insgesamt rund 45 Milliarden Euro Umsatz des Gesamtkonzerns bei. Allerdings nimmt die Umsatzrendite stark ab; betrug sie vor drei Jahren noch 15 Prozent, sind es heute nur noch acht Prozent. Mit der Bahnreform haben sich im Regionalverkehr die Regeln geändert. Früher hat die „DB Regio“ alle Verkehrsleistungen gefahren, der Bund hat die dabei entstehenden Verluste ausgeglichen. Seit der Bahnreform stellt der Bund den Ländern Geld für den Regionalverkehr zur Verfügung. Die Länder entscheiden über das Verkehrsangebot und suchen dann per Ausschreibung einen Betreiber für diesen Verkehr. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Unternehmen, die im Wettbewerb zur DB Regio Angebote machen, sie fahren heute fast ein Drittel der Verkehrsleistung. Entsprechend hat DB Regio verloren; für die verbliebenen Leistungen sind die Gewinnmargen durch den Wettbewerb gesunken.
Der Bereich Fernverkehr läuft auch gut. Einer der Gründe sind die verstopften Straßen, die viele Autofahrer dazu bewegen, auf die Schiene umzusteigen. Ein Problem ist, dass die Bahn in diesem Bereich lange nicht mehr in neue Züge investiert hat, weshalb sie allmählich an ihre Grenzen stößt. Der Bau neuer Fernverkehrszüge wurde jahrelang verschleppt. Jetzt sind hunderte neuer Züge geordert. Das wird die Engpässe lindern, geht andererseits aber auch zu Lasten des Gewinns.
Was die Güterverkehrssparte der „DB AG“, die „DB Cargo“, angeht: Sie ist ein absolutes Fiasko. Die Sparte hat in den letzten fünf Jahren fünf Vorstandsvorsitzende verschlissen. Während die Wettbewerber deutliche Zuwächse vermelden, stagniert der Umsatz bei DB Cargo seit Jahren. Trotz gleicher Transportmengen und Neuinvestitionen ist die Sparte immer weniger in der Lage, die Verkehre zu fahren, die dem Kunden versprochen sind. Inzwischen fallen jeden Tag über 100 Züge aus. Ich bin ratlos, was die Gründe angeht. Seit Jahren verdienen sich Beratungsfirmen eine goldene Nase mit einem Sanierungskonzept nach dem anderen, aber die Verluste werden immer größer. Kurios ist die Tatsache, dass sich Waggons, Lokomotive und Lokführer immer wieder am falschen Ort befinden. Hier mal ein - konstruiertes, aber nichtdestotrotz absolut realistisches - Beispiel: Ein Unternehmen aus der Chemie-Branche möchte eine Güterladung Schwefel von Schwarzheide in der Lausitz nach Ludwigshafen transportieren lassen. Was passiert? Der Auftrag platzt, weil sich der Lokführer in Flensburg befindet und die Lok in Berchtesgaden. Ich habe kürzlich die Rede eines Betriebsrats-Mitglieds gehört: Der Mann macht sich ehrlich Sorgen, weil die Management-Strukturen offenbar nicht funktionieren - und das kann ich sehr gut verstehen. Für einen Teil des Verkehrs will die „DB AG“ jetzt offenbar Staatshilfe fordern.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie sprachen von Investitionen im Ausland mit teilweise hohen Verlusten. Können Sie das konkretisieren?
Christian Böttger: Die DB Cargo erzielt einen erheblichen Teil ihres Umsatzes im europäischen Ausland. Insbesondere in England und Spanien sind in den letzten Jahren erhebliche Verluste entstanden. „Arriva“ ist ein auf dem halben Kontinent agierendes Tochterunternehmen der Deutschen Bahn mit Sitz in Großbritannien, das immerhin fünf Milliarden Euro Jahresumsatz generiert, aber kaum Gewinn abwirft. Jahrelang hat die „DB AG“ behauptet, „Arriva“ sei eine „Ertragsperle“ und „Geldmaschine“ - Politiker und Journalisten haben dies nachgeplappert. Jetzt hatte sich der Aufsichtsrat dazu durchgerungen, „Arriva“ zu verkaufen, um die steigende Schuldenlast des Konzerns zu lindern. Der einzig verbliebene Bieter wollte dem Vernehmen nach nur 2,5 Milliarden Euro zahlen. Beim Verkauf hätte dieser Milliardenverlust angezeigt werden müssen. Diese Blamage wollten sich Vorstand und Aufsichtsrat ersparen, der Verkauf ist gerade abgeblasen worden.
All diese Auslandsinvestitionen wurden, wie schon gesagt, mit Geld finanziert, das in Deutschland verdient worden war. Teilweise kam der Gewinn dadurch zustande, dass der Staat der „DB Netz“, also der Sparte Schienennetz, einen Gewinn garantiert. Unglaublich - der deutsche Staat garantiert einem Aktienunternehmen einen Gewinn, und dieser wird dann von dem Unternehmen im Ausland investiert und - teilweise - verpulvert.
Prof. Dr. Christian Böttger lehrt Wirtschaftsingenieurwesen an der "Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin" (HTW). Der 55-Jährige gilt als renommiertester Bahn-Experte Deutschlands.
Lesen Sie am Sonntag den zweiten Teil des großen DWN-Interwiews zum Zustand der Deutschen Bahn. Erfahren Sie:
- Wie die Bahn staatswirtschaftlich betrieben wird
- Wie der Bahn Millionen an Arbeitsstunden verloren gehen
- Wofür sich die Lobbyisten der Bahn stark machen - und wofür nicht