Finanzen

Anatomie einer Jahrhundert-Blase, Teil 2: Wie Wirtschaft und Gesellschaft in den 2000er-Jahren in Schieflage gerieten

Lesezeit: 16 min
01.12.2019 13:00
Mit Beginn der Jahrtausendwende begann für Millionen Menschen in den westlichen Gesellschaften der Kampf gegen den sozialen Abstieg.
Anatomie einer Jahrhundert-Blase, Teil 2: Wie Wirtschaft und Gesellschaft in den 2000er-Jahren in Schieflage gerieten
Eine spiegelnde Kunst-Installation auf dem New Yorker "Times Square". (Foto: dpa)

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Liebe DWN-Leser, heute erhalten Sie den zweiten Teil unserer großen Serie „Anatomie einer globalen Jahrhundert-Blase“. Lesen Sie über die brennendsten Probleme der Weltwirtschaft – globale Konjunktur-Schwäche, irrationale Überbewertungen von Vermögensmärkten, Geldpolitik, Absinken der Mittelklasse, Vermögenskonzentration, desolat werdende Situation der Rentenkassen, Altersarmut und globale Umweltverschmutzung. Unser Autor Michael Bernegger verfügt über mehr als 25 Jahre Erfahrung im Zentralbankwesen und der Finanzindustrie, unter anderem als Analyst, Konjunktur-Experte und Chef des Asses-Managements eines großen europaweit tätigen Lebensversicherers. Jeder Artikel baut auf den vorhergehenden auf – ist jedoch komplett eigenständig und daher für sich allein absolut verständlich.

Das Gesamtbild der letzten beiden Jahrzehnte

In der Nachkriegszeit gab es Jahrzehnte der Prosperität, des Fortschritts, des Optimismus, in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, dies vor allem in den westlichen Industrieländern. Hohe Investitionen vergrößerten und modernisierten den Kapitalstock, was anhaltend hohe Produktivitätsgewinne und ein starkes, breit basiertes Wirtschaftswachstum ermöglichte. Die Realeinkommen legten während Jahrzehnten stark zu. Begleitet war dies vom Kalten Krieg, der amerikanischen Suprematie, von der Überwindung jahrhundertelanger Kriege innerhalb Europas und von bürgerlich-demokratischen politischen Regimes mit vorher unbekannten individuellen Freiheiten und Möglichkeiten.

In den 2000er Jahren ist diese Gesamtkonstellation verrückt. Nicht nur hat sich das Wirtschaftswachstum gegenüber den Jahrzehnten zuvor markant abgeschwächt. Darüber hinaus sind seine Früchte - die Zunahmen von Produktivität und Realeinkommen - noch sehr ungleich verteilt. Gemäß der offiziellen Statistik stagnieren die durchschnittlichen Reallöhne in den Vereinigten Staaten seit Beginn der 1970er Jahre, in Italien und in Spanien seit 1990. In Japan sind sie seit Mitte der 1990er Jahre rückläufig. In Deutschland stagnierten sie zwischen 1992 und 2013, haben aber in den letzten Jahren wieder etwas angezogen. Unter den großen Ländern in Europa sind sie nur im Vereinigten Königreich und in Frankreich kontinuierlich, aber gegenüber der Vergangenheit stark abgeschwächt angestiegen. Im Vereinigten Königreich sind sie seit der Großen Finanzkrise deutlich gefallen. Das sind teilweise Trends über eine (Japan, Italien, Spanien, Deutschland) bis zwei (USA, Frankreich) Generationen von Beschäftigten. Der Bruch oder Knick in der Nachkriegszeit geht aus den folgenden Graphiken schön hervor.

Graphiken: Indizes der Reallöhne fortgeschrittener Industrieländer 1960 - 2018

Die Reallöhne sind definiert also die ausbezahlten Nettolöhne pro Zeiteinheit, immer auf Vollzeit-Äquivalent-Basis. Sie drücken also die Kaufkraft des Netto aus, bereinigt um den Anstieg des Verbraucherpreisindex. Hinzu kommen natürlich noch die in den Nettolöhnen nicht enthaltenen Sozialleistungen wie Sozialversicherungsbeiträge etc. Werden diese berücksichtigt, so sind natürlich die Löhne nach ca 1970/1980 stärker gestiegen als die Reallöhne.

Auch die Durchschnittszahlen zeigen nicht alles, sie verbergen erkleckliche Unterschiede. Typischerweise haben die Reallöhne unterer Einkommensgruppen abgenommen, der Median ungefähr stagniert, und die Zuwächse konzentrieren sich auf die obersten 25 und erst recht die obersten 10 Prozent der Reallöhne. Bei diesen Gruppen können die Zuwächse teilweise ganz erheblich sein. Der Median ist jener Wert, bei dem 50 Prozent der Reallöhne über und 50 Prozent unter ihm liegen.

Typisch ist ferner, dass die Löhne nach Geschlechtern unterschiedlich gestiegen sind. Bei Männern sind sie viel weniger als bei Frauen gestiegen, bei Letzteren natürlich von einem viel tieferen Ausgangsniveau aus.

Zwar hat sich auch das Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum abgeschwächt. Aber in den letzten 20-30 Jahren ist die Wirtschaft in all diesen Ländern doch ganz ordentlich gewachsen. Es öffnet sich also eine wachsende Schere zwischen Reallohn- und Produktivitätswachstum über lange Zeiträume. Neben den Einkommensgruppen kommen altersspezifische Muster hinzu. Früher partizipierten alle Altersgruppen am Produktivitäts-Fortschritt. Heute erreicht etwa in Deutschland der durchschnittliche Beschäftigte zwischen 40 und 45 Jahren bereits sein höchstes Einkommen. Dieses stagniert dann für den Rest des Berufslebens, was häufig nur bei Karriere-Fortschritt individuell anders sein kann. In Japan fallen die Realeinkommen bereits ab der Spitze 45-Jährige. Kommt hinzu: Diese Daten über Reallöhne basieren auf den offiziellen Statistiken. Wir werden diese noch vertieft analysieren und dadurch noch verdeckte Muster erkennen können

Wesentliche Teile der westlichen Gesellschaft partizipieren also gar nicht mehr am gesamtwirtschaftlichen Wachstum, die Mittelklasse kämpft verbissen, aber zunehmend aussichtslos gegen den Abstieg. Ganze Bevölkerungsschichten, Regionen und Länder sind von Armut, Dauerarbeitslosigkeit und Hoffnungslosigkeit bedroht. Zu diesem Bild gehört, dass es neben der ausgewiesenen Arbeitslosigkeit eine, nach Ländern allerdings recht unterschiedliche, hohe verdeckte Arbeitslosigkeit gibt. Sie äußert sich etwa in der reduzierten Erwerbsquote von Männern im besten Erwerbsalter (25- bis 54-Jährige). Oder auch in der Tatsache, dass die Definition von Arbeitslosigkeit erheblich verändert worden ist. Es genügt, einige Stunden Teilzeit-Arbeit leisten zu können, aber im Kern eine Vollzeit-Beschäftigung anzustreben - in einem solchen Fall wird ein Beschäftigter in der Statistik nicht als arbeitslos angesehen

Diesem eher düsteren Bild für erhebliche Bevölkerungsteile steht eine in der Nachkriegszeit beispiellose Explosion der Einkommen und Vermögen der 10 -, 5- und im Kern 1-Prozent der Gesellschaft gegenüber. Wir haben dies für Deutschland in verschiedenen Artikeln thematisiert. Bei den Einkommen in Deutschland hat eine weit reichende Verschiebung von den Lohnempfängern zu Selbständigen und Unternehmern stattgefunden. Auch zu den Gutverdienenden zählen die Beamten. Bei den Selbständigen erzielt aber eine Minderheit wirklich hohe Einkommen, die große Mehrheit muss sich mit Durchschnittlichem oder auch mit weniger durchschlagen. Bei den Vermögen sind die Land- und Immobilien-Preise sowie die Aktienkurse die ganz großen Glücksbringer - dort partizipiert ebenfalls nur eine dünne Elite wirklich daran

Was für Deutschland gilt, trifft plus minus weltweit zu. Die selben oder ähnliche Trends sind weltweit wirksam. Was außerhalb Deutschlands hinzukommt, ist der massive Rückgang der Industrie, der viele ehemalige Industrieländer prägt. Ganze Regionen sind wirtschaftlich im Verfall, eine ganze Schicht von Facharbeitern und ihren Familien im Aus. Eine interessante Statistik wird, auch in diesem Zusammenhang, durch die folgende Graphik abgebildet. Sie zeigt die Anteile des reichsten Prozents (1-Prozent) der Bevölkerung am gesamten Volksvermögen der Vereinigten Staaten, verglichen mit demjenigen der untersten 80 Prozent der Bevölkerung.

Hinter der nüchternen Realität dieser Durchschnittszahlen kommen zusätzliche Faktoren hinzu. Die Form der Anstellung hat sich in den letzten 30 Jahren gewaltig geändert. Früher war die lebenslange Festanstellung, oft beim gleichen Arbeitgeber, die Norm, abgesehen von einer längeren Einsteigerphase in das Berufsleben, in der die Beschäftigten oft die Stelle wechselten. Heute ist die Festanstellung auf dem Rückzug, sie kommt nur noch bei einem Teil der Beschäftigten vor. Zeitarbeitsverträge, mehrere Teilzeit-Jobs, Arbeit auf Abruf, Selbstständigkeit auch in der Form von Scheinselbständigkeit sind eine völlig neue, in vielen Ländern weit verbreitete Realität am Arbeitsmarkt. Und selbst bei den Festangestellten kommt es nicht selten so, dass bei Besitzer-, Management- oder Vorgesetztenwechsel keineswegs nur Kader oder Direktionsmitglieder, sondern auch Arbeiter und Angestellte gehen müssen. Eine grundlegende Unsicherheit über den individuellen Lebenslauf legt sich wie ein Schatten über die berufliche Entwicklung.

Der Ausblick: Zappenduster

Noch darüber hinaus sind in den letzten 20-30 Jahren völlig neue, wenig optimistisch stimmende Zukunftsperspektiven hinzugekommen:

Die Altersvorsorge-Systeme sind mehr oder weniger weltweit unterfinanziert. Die Wahrheit kommt nur scheibchenweise und in homöopathischen Dosen an das Tageslicht. Man erkennt sie heute erst daran, dass sogenannte Experten erklären, die Beschäftigten müssten nun nicht mehr bis 65, sondern bis 67, 68 oder eigentlich sogar bis 70 Jahren arbeiten. Das durchschnittliche Lebensalter habe ja auch entsprechend zugenommen. Dabei will kaum ein Arbeitgeber Personen in dieser Altersgruppe (Über 65-Jährige) weiter beschäftigen oder erst recht neu anstellen, schon gar nicht in Zukunftsbranchen, oder in etablierten Branchen, wo eine technologische Disruption etwa durch die Digitalisierung stattfinden wird. Aber selbst dort, wo ältere Beschäftigte ihre Tätigkeit noch ausüben könnten, sind sie zumeist nicht mehr erwünscht. Sie passen nicht ins Unternehmen oder in die gewünschte Kultur. Je nach Vorsorgesystem erscheinen sie auch als zu teuer.

Die Löcher in den Altersvorsorge-Systemen betreffen sowohl staatliche umlagefinanzierte Rentensysteme wie auch solche, die auf Kapitaldeckungsverfahren beruhen. Bei Umlageverfahren werden durch die Beitragszahlungen laufende Renten finanziert. Bei Kapitaldeckungsverfahren wird durch die Beitragszahlungen ein Kapitalstock gebildet, aus dessen Erträgen die Renten ausgeschüttet werden sollten. Typischerweise sind diese Beitragssätze wesentlich höher als bei Umlageverfahren, weil ein großer Kapitalstock aufgebaut werden muss. Zu solchen Kapitaldeckungsverfahren gehören staatliche oder betriebliche Pensionskassen, oder auch Lebensversicherungen, eine in Deutschland und weiteren wichtigen europäischen Ländern weitverbreitete Form der Altersvorsorge.

Die Löcher in diesen Altersvorsorge-Systemen sind immens angewachsen. Eine kürzlich veröffentlichte Studie der G-30 beziffert sie auf rund 15.8 Billionen (15’800 Milliarden) US-Dollar für 21 fortgeschrittene Länder im Jahre 2050, zu heutigen Preisen. Bei unveränderter Finanzierung und Leistungen würden diese Systeme bis 2050 ‚zersetzt‘, heißt es im Bericht. Das betrifft keineswegs nur staatliche, sondern auch privatwirtschaftliche Systeme, also etwa betriebliche Pensionskassen, und es betrifft in veränderter Form auch Lebensversicherungen, für Deutsche eine häufige Form der Altersvorsorge. Die G-30 geben eine Reihe von Empfehlungen, die nicht unproblematisch sind

Nicht nur die Altersvorsorge-Systeme stehen vor einer unerfreulichen Zukunft, sondern auch andere Sozialversicherungssysteme. Das Gesundheitswesen erlebt eine enorme, scheinbar durch nichts zu bremsende Kostenexplosion. Die Bevölkerung altert, und immer größere Teile sind - keineswegs nur altersbedingt - von chronischen Krankheiten gezeichnet. Übergewicht und Fettleibigkeit, diese beiden dominant gewordenen Zivilisationsmerkmale der westlichen Gesellschaft, fordern zunehmend ihren Tribut, längst auch bei Kindern und jungen Erwachsenen. Sie äußern sich in einer starken Zunahme nicht-übertragbarer chronischer Erkrankungen - Diabetes, Nierenkrankheiten, Krebs, Herz-/Kreislauf-Erkrankungen. Über 50-Jährige haben häufig bereits mehrere chronische Erkrankungen. Diese chronischen Erkrankungen machen den Löwenanteil der explodierenden Gesundheitskosten aus, vor allem in den letzten Lebensjahren. Die Tatsache, dass heute schon Jugendliche und Personen im besten Erwerbsalter verbreitet deutlich übergewichtig sind oder sogar unter Adipositas leiden, lässt erahnen, dass die chronischen Krankheiten in den nächsten Jahrzehnten explosionsartig zunehmen werden. Wir haben dies früher in verschiedenen Artikeln für die USA thematisiert, wo diese Trends viel früher einsetzten und viel weiter fortgeschritten sind.

Doch auch für völlig gesunde jüngere Beschäftigte sieht es schlecht aus. Die Altersvorsorgesysteme wie Sozialversicherung, Pensionskassen und Lebensversicherungen zahlen im Prinzip angesichts der effektiven Unterdeckung viel zu hohe Leistungen an die die heutigen Rentner aus. Die jüngeren Beschäftigten können wegen der ultra-niedrigen Zinsen weder in diesen Versicherungsgefäßen noch individuell durch private Anlagen genügend Vorsorgekapital bilden. Was sie gewiss sein können: In der Zukunft werden sie durch den zeitlich konzentrierten Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge immer mehr für die zukünftigen Rentner und deren Leistungen abliefern müssen.

Zu den unterfinanzierten Sozialwerken, deren Netto-Verbindlichkeiten üblicherweise nicht in die Staatsrechnung integriert sind, auch insofern es sich um staatliche Vorsorgewerke handelt, gesellen sich die bereits aufgelaufenen Staatsschulden. Und hier sieht es weltweit schlecht aus. Große Industrieländer haben typischerweise bereits jetzt eine Staatsschuldenquote von 70 bis 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Tendenz steigend. Ganz besonders gilt dies für Japan (250 Prozent des BIP), aber auch für China, wo die sehr hohen Schulden des Unternehmenssektors einesteils staatliche Unternehmen und Zweckverbände betreffen, die aber nicht konsolidiert, d.h. in die Staatsrechnung integriert werden. Eine geradezu explosive Schuldendynamik kennzeichnet auch die Vereinigten Staaten. In Europa gibt es einzelne Länder mit ungünstiger Position - die bekannten Krisenländer der Eurozone. Immerhin ist der Schuldanstand einigermaßen stabilisiert worden, wovon bei den erwähnten anderen großen Industrieländern nicht die Rede sein kann. Noch einmal: Die aufgelaufenen Staatsschulden sind nur ein Teil der Verbindlichkeiten. Hinzu addieren sich noch eine ganze Armada von ungedeckten Verbindlichkeiten, die in den offiziellen Staatsrechnungen gar nicht ausgewiesen sind. Sie haben in den letzten 20 bis 30 Jahren noch viel stärker zugelegt als die ausgewiesenen Staatsschulden. Auf diesen Punkt werden wir detailliert eingehen in unserer Serie.

Schulden sind eines, Aktiven etwas Anderes. Was die Schuldendynamik viel kritischer macht, ist die Tatsache, dass mit den Budgetdefiziten und Schulden nicht etwa eine moderne Infrastruktur oder ein erstklassiges Bildungswesen finanziert worden ist, im Gegenteil. Mit einer hochmodernen Infrastruktur und einer auf allen Stufen hochqualifizierten Erwerbsbevölkerung würden oder könnten sich Erfolge im Wirtschaftswachstum einstellen. Die Infrastrukturen in den Vereinigten Staaten und in weiten Teilen Europas sind geradezu vernachlässigt worden, in großen Ländern wie den USA, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, Italien haben sie Jahrzehnte von aufgestautem Modernisierungsbedarf. In China ist umgekehrt eine hochmoderne Infrastruktur geschaffen worden, allerdings mit dem Makel, dass viel zu viel und in erheblichem Maß ins Niemandsland gebaut worden ist.

Neben den Staaten haben auch private Unternehmen und Haushalte teilweise sehr hohe Schulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt angehäuft. Dabei gibt es allerdings sehr große Differenzen zwischen verschiedenen Ländern und Ländergruppen. Doch der globale Trend ist aufwärts, scharf aufwärts. Wiederum trifft dies für China und die Vereinigten Staaten im besonderen Ausmaß zu, die beiden Motoren der Weltwirtschaft. In China können aufgrund der immensen Leerbestände im Immobiliensektor viele Unternehmen aus dem Bau- und Immobiliensektor wie auch deren Zulieferer die Zinsen nicht mehr bezahlen. Gleiches gilt auch für Staatsbetriebe inklusive der für den Infrastrukturbau ausgegliederten Zweckgesellschaften. Diese nicht-geleisteten Zinsen werden einfach zu den Schulden addiert. Diese Form der Kreditexpansion hat insofern auch keine stimulierende Wirkung auf die Wirtschaftsaktivität mehr. Sie verhindert nur eine akute Finanzkrise des völlig unterkapitalisierten Bankensystems. Generell ist es so, dass die angelsächsischen Länder (UK, Australien, Kanada) besonders hohe Schulden der privaten Haushalte und auch der Unternehmen kennzeichnen. Das hängt vor allem auch mit der Rolle und dem System der Hypotheken-Finanzierung von Wohneigentum zusammen. Auch kleinere Länder wie die Niederlande, Dänemark, die Schweiz, ferner einige Peripherie-Länder der Eurozone haben sehr hohe Schulden der privaten Haushalte aus der Finanzierung von Wohneigentum.

Diese globalen Trends sind also keineswegs auf Deutschland beschränkt oder besonders ausgeprägt, gewisse Elemente fehlen sogar hierzulande schlicht. So sind die privaten Haushalte und die Unternehmen in Deutschland vergleichsweise wenig oder sogar gering verschuldet. Diese Trends haben auch nicht hier ihren Ursprung. Es sind die angelsächsischen Länder - USA und das Vereinigte Königreich -, welche in den 1980er Jahren die Vorreiter dieser Trends waren. Was aber auch für Deutschland gilt, sind gemeinsame Trends, dies auf verschiedenen Ebenen.

In der Literatur werden die Trends mit dem Durchsetzen neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschafts-Konzepte in Verbindung gebracht, mit der Deregulierung von Produkt-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkten, mit der Privatisierung von Staatsbetrieben, mit Serien von Steuersenkungen für Wohlhabende und für Unternehmen und politisch gestartet mit Thatcher und Reagan. Als wichtiges Element wird auch der ‚shareholder capitalism‘ genannt, das heißt die Orientierung der Unternehmensführungen auf die Maximierung des Aktionärswerts.

In einer zweiten Stufe, ab den 1990er Jahren, wird die Globalisierung, das heißt die Produktionsauslagerung von erheblichen Teilen des Industrie- und zunehmend auch des Dienstleistungssektors aus den westlichen Industrieländern in Schwellenländer als wichtiger Treiber angesehen. Daneben hat es eine neue Welle der internationalen Migration und Internationalisierung auf dem Arbeitsmarkt gegeben. In Zukunft noch stärker wirksam werden dürfte die globale Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, da durch die Digitalisierung neben der Migration auch die Auslagerung von spezialisierten Teil-Arbeitsschritten Einzug halten wird oder kann, ohne dass Migration oder ganze Produktionsverlagerungen nötig wären.

In Europa hat das noch heute gültige Projekt der Europäischen Union von Jacques Delors, in den frühen 1990er Jahren aufgegleist, in vielen Teilen diese Trends ermöglicht und unterstützt. Die Europäische Union orientierte sich sehr stark an der Agenda von Reagan und Thatcher, sie tut es in kritikloser und naiver Weise bis heute. Ein wichtiger zusätzlicher Faktor für Westeuropa war und ist die aus politischen Gründen vorangetragene Integration der ehemals kommunistischen Länder in Ost-Mitteleuropa in die EU, welche einen Lohndruck und die Abwanderung der Industrie aus Westeuropa beschleunigt hat. In Deutschland sind diese Trends etwas verspätet eingeleitet worden Sie sind in den 1990er Jahren mit der Wirtschaftspolitik der Kohl-Regierung vorbereitet und mit der Agenda 2010 von Kanzler Schröder breit und hart durchgesetzt worden.

Überhaupt keine bzw. falsche Rezepte zu bestehen scheinen gegenüber der langsamen, aber stetigen Aushöhlung der Sozialwerke. In vielen Ländern werden die Sozialwerke sehenden Auges oder mit geschlossenen Augen, Ohren und Nase langsam, aber sicher in den Abgrund gefahren, hoffend, dass die Krise erst später manifest wird und erst die nächste Generation den Scherbenhaufen kehren muss - ‘oui le déluge, mais après nous'.

Dieselbe Mentalität herrscht gegenüber einer anderen großen Herausforderung der jüngeren Vergangenheit, der Gegenwart und erst recht der Zukunft vor. Klimawandel und globale Umweltverschmutzung werden zwar als real oder zumindest als Risiko wahrgenommen, teilweise eine ambitiöse Agenda bis 2050 aufgezeigt. Doch für die Gegenwart und die nächsten Jahre werden nur Trippelschritte oder halbherzige Maßnahmen in Angriff genommen. Die beiden globalen Hauptverursacher - die Vereinigten Staaten und China - haben beide eine Agenda, die eine weitere Klimaerwärmung auslösen werden, die USA mit ihrem Projekt der ‚globalen Energie-Dominanz‘, China mit der ‚Belt and Road‘-Initiative. In Tat und Wahrheit werden Klimaerwärmung und Umweltverschmutzung im globalen Maßstab unvermindert weitergehen oder sich sogar beschleunigen. Die ökonomischen Anreize sind so gesetzt - von politischen Interessen, davon abgeleitet vom Markt resp. von völlig falsch gesetzten Preisen im Inland der Volkswirtschaften und im Außenhandel.

Politisch wird die Einkommens- und Vermögenskonzentration je nach Standpunkt und politischem Lager als ganz offen okay und gut, oder als zwar unschön, aber unvermeidlich, als ungerecht und korrekturbedürftig oder als ineffizient und scharfe Eingriffe des Staates erfordernd, oder sogar als Grund für einen völligen Systemwechsel bezeichnet. An dieser Stelle möchte ich meine eigene Meinung unterdrücken. Sie würde wohl Ökonomen sämtlicher Denkschulen und politischer Standpunkte konsterniert und ratlos zurücklassen oder vor den Kopf stoßen. Am Ende der Serie wird sie besser begreiflich werden.

Das unerkannte, fehlende Glied: Die Geldpolitik der wichtigen Notenbanken, ihre Inflations-Definition und -messung

Es gibt einen Faktor, der wirklich wichtig oder sogar dominant für diese globalen Trends ist – das Abrutschen der Mittelklasse in die Verarmung, die Unterdeckung von umlagefinanzierten Rentensystem sowie von kapitalgedeckten Pensionskassen und anderen Institutionen der Altersvorsorge wie Lebensversicherungen, mit der Konsequenz zunehmender und massenhafter Verarmung und besonders einer sich ausbreitenden Altersarmut. Oder umgekehrt für den ungeheuren Reichtum der obersten 1%. Dieser Faktor ist völlig unerkannt und wird in der wissenschaftlichen Forschung wie in den Medien überhaupt nicht oder kaum diskutiert. Dies obschon er wohl um einiges wichtiger als die erwähnten neoliberalen Politiken und die sie vertretenden Interessengruppen zusammen ist. Es ist die seit den 1990er Jahren veränderte Geldpolitik der Zentralbanken.

Auf den ersten Blick mag dies absurd klingen. Doch die massiven Effekte werden in der Öffentlichkeit und wohl auch von den Repräsentanten dieser Institutionen selbst verkannt oder unterschätzt.

Die Geldpolitik der Zentralbanken betrifft drei Kernpunkte, was diese sozio-ökonomischen Trends anbetrifft. Der erste Punkt umfasst die Definition der Preisstabilität der Zentralbanken. Auf diesen Punkt konzentrieren wir uns im Rest dieses Artikels. Er erhält noch massiv erhöhte Relevanz und Durchschlagskraft durch die ungelösten strukturellen Probleme der Inflationsmessung und durch die Modifikationen der Inflationsmessung im Verbraucherpreis-Index, die in den 1990er Jahren vorgenommen wurden. Beide Faktoren kombiniert führten zu einer völlig veränderten Geldpolitik führender Notenbanken der Welt, die sich in viel niedrigeren nominellen und realen Zinsen als je zuvor niederschlugen.

Die Rolle der Geldpolitik zu thematisieren wird in diesem Zusammenhang gerne tabuartig gemieden. Es betrifft Institutionen, die seit Jahrzehnten als Horte der Stabilität und der Vorsicht gelten. In ihrer Außendarstellung in Broschüren, Büchern. Reden und Habitus versichern Zentralbankiers immer mit Haltung und ernster Miene, dass Preisstabilität selbstredend oberstes Gebot ihres Handelns sei.

Ihre Repräsentanten treten gerne in mehr oder weniger bescheidenen Posen, Kleidern und trockenen, für Laien eher langweiligen Pressekonferenzen auf. Gebetsmühlenartig und mit sorgfältig abgewogenen, nur selten variierenden Worten werden dort die scheinbar wichtigen Entscheidungen kommuniziert. Diese Kommunikation über Zentralbank-Entscheide wie Zinsveränderungen werden in den Medien und vor allem in der Finanzpresse breit dargestellt und ausgewalzt.

Viel wichtiger aber sind die fundamentalen Zielgrößen und die konzeptuellen Grundlagen der Geldpolitik. Über diese wird kaum berichtet, und sie werden nicht lange und ausführlich diskutiert und hinterfragt. Sie gelten gemeinhin als Expertensache. Die Expertise wird monopolartig bei der Zentralbank konzentriert vermutet. Inflationsmessung und konzeptuelle Grundlagen der Geldpolitik sind so weitgehend außerhalb des Fokus der Medien und erst recht der Öffentlichkeit. Dabei sind die wesentlichen Zusammenhänge auch für Laien gut verständlich darstellbar. Beginnen wir mit dem Mandat für die Geldpolitik und seiner Umsetzung.

Für die Geldpolitik sind die Definition und die Messung der Inflationsrate zentrale Anliegen. Von ihrem Mandat in Verfassung oder Gesetzen her sind Zentralbanken heute primär der Preisstabilität verpflichtet. Diesen Auftrag sollten sie ernst nehmen. Er repräsentiert ihre Kernaufgabe. Seit den 1990er Jahren wird die Preisstabilität von den Zentralbanken zunehmend mit einer Jahresveränderungsrate des Verbraucherpreis-Index von exakt 2% oder leicht darunter festgelegt. Schon das erscheint merkwürdig. Jährlich 2% Inflationsrate soll Preisstabilität sein? Bis in die 1990er Jahre galt eine Inflationsrate von Null als Preisstabilität. Es hat zuvor Jahrzehnte mit praktisch Nullinflation gegeben. So etwa in den 1950er Jahren. Eine zweiprozentige Zunahme des Verbraucherpreis-Indexes entsprach im allgemeinen Verständnis und im Selbstverständnis der Zentralbankiers immer leichter Inflation.

Was genau ist die Begründung für diese Verniedlichung von 2 Prozent Inflationsrate? Was ist dann eine dreiprozentige Wachstumsrate gemessen am Verbraucherpreis-Index? Ein Prozent Inflation? Und eine Wachstumsrate von 4 Prozent? Entspricht dies dann 2 Prozent Inflation? 5 Prozent ist immer noch nicht schlimm. Macht ja nur 3 Prozent Inflation aus usw.

Schon bei der Art und Weise, wie die Gralshüter der Preisstabilität die Zielgröße für ihr Mandat festlegen, müssen für jeden wachen Menschen mit intakten Reflexen orange Lampen aufleuchten. Doch durch Medien und die Einheits-Kommunikation der Zentralbanken sind die Leser und Zuschauer abgestumpft. Sie werden nicht hellhörig. Wenn ihnen jemand 2 Prozent als Null verkauft und diesen Erfolg als Produkt und Kern seiner Aktivität darstellt, empfinden sie das anscheinend als normal.

Außerhalb der Zentralbank versteht dies niemand so. Wenn Ihnen Ihr Chef pünktlich auf den Jahresbeginn den Lohn um 2 Prozent kürzt und ungerührt verkündet, damit bleibe er unverändert, würden Sie mindestens hellhörig. Wenn dies Jahr für Jahr passiert, und nach 10 Jahren kumuliert rund 18 Prozent weniger pro Monat als am Anfang auf Ihr Gehaltskonto überwiesen werden, müssten Sie ihren Lebensstil vermutlich empfindlich anpassen. Sie würden den Effekt direkt und massiv spüren.

Auch bei anderen Institutionen wird diese Sichtweise der Zentralbanken nicht geteilt. Die Statistik-Behörden, welche die Verbraucherpreise erheben und den Index berechnen, gehen ganz eindeutig von Null Prozent als Preisstabilität aus – bei der Berechnung der Reallöhne, der Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts und anderer Wirtschafts- oder Sozialindikatoren. Reallöhne werden errechnet, indem die nominellen Lohnserien mit dem Verbraucherpreis-Index (VPI) deflationiert bzw. um Preiseffekte bereinigt werden. Bei 2 Prozent Lohnzuwachs und 2 Prozent VPI-Inflationsrate ist der Reallohn unverändert. So wird er in den Graphiken am Anfang des Artikels berechnet.

Fazit: Diejenigen Institutionen, deren zentrale Funktion die Erhaltung von Preisstabilität ist und die dafür den gesetzlichen Auftrag haben, gehen neuerdings praktisch als einzige in der Gesellschaft davon aus, dass 2 Prozent Inflation in Tat und Wahrheit Null sei. Das muss stutzig machen. Wie wird diese wundersame Umdeutung von den Zentralbanken kommuniziert? Kaum jemandem unter der Leserschaft, generell dem Publikum dürfte das bekannt sein. Es wird nämlich als Thema tunlichst gemieden und nur in Fachartikeln mit Codewörtern kurz abgehandelt. Es wird argumentiert, dass der Verbraucher-Preisindex die effektive Teuerung wohl überzeichne, um rund einen Prozentpunt. Evidenz? Zusätzlich wollen die Notenbanken einen Puffer als Risikovorsorge gegen Deflation von rund einem Prozent. Das heißt, sie wollen schon lange vor effektiven Deflationsrisiken mit den Zinsen tiefer gehen können, um die Entwicklung Japans in den 1990er Jahren zu vermeiden. Die beiden Argumente werden in unserer Serie noch zerlegt werden.

Der effektive Zwick ist ganz einfach: Nur dieser Trick erlaubt den Zentralbanken, die Zinsen viel niedriger als in der Vergangenheit zu halten. Das wahre Ziel ist diese Vorgabe. Und man macht eine Umdeutung des Auftrages und sucht eine passende Rechtfertigung.

Doch es ist wie im richtigen Leben. Die kleinen Lebenslügen, nicht mit bösen Absichten vorgenommen, kombinieren sich mit verdeckten, komplexeren Sachverhalten, die den Akteuren selber gar nicht bewusst sind. Erst dadurch erhalten sie die volle Brisanz und Wirkung. So ist nicht nur die Definition der Preisstabilität in diesem Zusammenhang wichtig. Sie ist klar und transparent von den Zentralbanken selber vorgenommen respektive in Eigenregie abgeändert. Aber sie ist nur der Ausgangspunkt der Verzerrungen. Auch die Messung der Preisstabilität durch die Statistikbehörden hat ihren Anteil. Dieser ist sogar noch viel grösser, darum multiplizieren sich die Effekte.

Um auf den Anfang des Artikels zurückzukommen. Wir haben gesehen, dass der Lebensstandard bzw. der durchschnittliche Reallohn gemäß den offiziellen Statistiken in den westlichen Industrieländern seit Jahrzehnten stagniert, mit unterschiedlichen nationalen Ausprägungen. Umgekehrt haben die Einkommen und vor allem die Vermögen der Wohlhabendsten enorm zugelegt, konzentriert auf das oberste Prozent der Bevölkerung. Nun haben wir eine erste Evidenz, warum dies so ist. Die Neuinterpretation dessen, was Inflation ist, durch die wichtigen Notenbanken hat zu viel tieferen Zinsen als in der Vergangenheit geführt. Davon profitieren vor allem die Reichsten. Sie besitzen konzentriert Immobilien und Aktien, die beiden wichtigsten Vermögenswerte, die von ultraniedrigen Zinsen profitieren. Doch - hier ein Ausblick - es gibt zusätzliche Effekte durch die Verzerrungen des Verbraucher-Preisindexes. Und die haben die Wirkung, dass die Reallöhne nicht stagniert haben, sondern gefallen sind, teilweise sogar hart und scharf. Das ist das Thema der nächsten Artikel in unserer Serie.

Die ultraniedrigen Zinsen zerfressen auch die Vorsorgewerke wie Sozialversicherung, Pensionskassen und Lebensversicherungen. Sie führen dazu, dass unweigerlich die Leistungen bzw. Renten drastisch gekürzt und die Beitragssätze massiv erhöht werden müssen. Ökonomisch gesprochen ist dies nichts anderes als eine zusätzliche massive Reallohnsenkung für lange Zeiträume in der Zukunft. Auch auf diesen Wirkungs-Mechanismus werden wir später in der Serie umfänglich eingehen.

Hier finden Sie Teil 1 der Serie.


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