Politik

Die NATO braucht Russland als Feind, sonst ist sie überflüssig

Lesezeit: 5 min
30.11.2019 09:46
Kommenden Mittwoch findet in London die große Geburtstagsfeier der NATO statt: Die Organisation wurde vor siebzig Jahren gegründet. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron stört seit Tagen die Geburtstagslaune mit peinlichen Fragen: Was ist der Sinn der NATO heute, wer und wo ist der Feind, vor dem die NATO schützt?
Die NATO braucht Russland als Feind, sonst ist sie überflüssig

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Die NATO hatte ein klares Gegenüber, den von Russland dominierten Warschauer Pakt. Diesen gibt es seit fast dreißig Jahren nicht mehr, aber die NATO hat sich nicht verändert. Mehr noch: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg tut alles, um Russland weiter als Feind hochzustilisieren. Das Interesse des NATO-Sprechers ist offenkundig: Ohne Russland als Feind hat die NATO keine Existenzberechtigung. Macron will dieses Konstrukt beenden, mit Russland eine Partnerschaft aufbauen und die NATO neu definieren.

Verliert die Ukraine ihre Rolle als Begründung der Anti-Russland-Politik?

Herr Stoltenberg ist nun heftig in allen Staatskanzleien unterwegs, um seine NATO zu retten. Vor allem sieht er die Inszenierung rund um die Ukraine gefährdet. Seitdem Russland 2014 die Krim annektiert hat, prangert die NATO Moskau als Aggressor an. Aus den Staaten, die Jahrzehnte unter der sowjetischen Diktatur gelitten haben und sich vor einer Neuauflage fürchten, kommt verständlicher Weise Applaus unter dem Motto „2014 die Ukraine. Wann sind wir an der Reihe?“. Ohne das Ukraine-Argument hat die Russland-Kritik keine Basis. Aber nicht nur Macron rüttelt derzeit verstärkt an der Anti-Russland-Politik. Durch den seit Mai amtierenden neuen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zeichnet sich eine Entspannung der Beziehungen zwischen Kiew und Moskau ab.

Den Auslöser für die Ukraine-Krise lieferte die NATO und nicht Moskau

Von der NATO als irrelevant bezeichnet wird allerdings der von der NATO selbst verursachte Auslöser des Konflikts: Stoltenberg und schon sein Vorgänger Anders Rasmussen haben geradezu ein Liebeswerben um die Ukraine betrieben, um die Osterweiterung der NATO auszubauen. Stereotyp wird als Rechtfertigung wiederholt, dass schließlich jedes Land selbst über die Mitgliedschaft bei einer Organisation entscheiden könne.

Mit diesem Eifer musste Russland provoziert werden. Die russische Schwarzmeerflotte ist an der Krim stationiert und wäre bei einem NATO-Beitritt der Ukraine plötzlich in NATO-Gebiet gelegen. Die Ukraine grenzt an Russland an und wird seit jeher gemeinsam mit Weißrussland und Georgien von Moskau als Glacis, als Sicherheitszone gesehen. Auch ein emotionales Element spielt mit, Kiew war im neunten Jahrhundert die erste Hauptstadt Russlands.

Der Triumph der Militärs und der Waffenfabrikanten

Besonders empfänglich für die Botschaften aus dem NATO Hauptquartier war der vor kurzem abgewählte Präsident Petro Poroschenko, der sich gerne als Keks-Fabrikant präsentiert, aber die entscheidenden Militärfabriken der Ukraine besitzt und die Aufrüstung gegen Russland eifrig unterstützte.

Unter dem Druck der NATO und der osteuropäischen Staaten von den baltischen Ländern über Polen bis nach Rumänien wurde von der EU und den USA Russland zum Feind erklärt, womit nicht nur die theoretische Existenzgrundlage der NATO gerettet wurde. Ganz praktisch kam es zu einer gigantischen Aufrüstung in allen NATO-Staaten und zur Errichtung einer militarisierten Zone mit tausenden Soldaten und Raketenbasen an der EU-Ostgrenze. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und die Waffen-Fabrikanten jubelten. Der Jubel hält an: Am Freitag verkündete Stoltenberg, dass allein 2019 die Rüstungsausgaben um 4,6 Prozent gestiegen sind. Von 2016 bis 20025 werden die NATO-Staaten zusätzliche 400 Mrd. $ für militärische Zwecke ausgegeben haben.

Die Rückkehr zur Abrüstung müsste auf dem Programm stehen

In diesem Umfeld sind auch die Abrüstungsverträge aus den achtziger und neunziger Jahren in Frage gestellt. Zuletzt wurde zuerst von den USA und dann von Russland der INF- Vertrag zum Verzicht auf landgestützte atomare Mittelstreckenwaffen gekündigt. Seit August gilt diese Vereinbarung nicht mehr.

Und nun kommt Wolodymyr Selenskyj und findet eine Gesprächsbasis mit Russlands Präsident Wladimir Putin. In der EU fordert Macron eine Partnerschaft mit Russland und begrüßt den Vorschlag Russlands, eine neue Vereinbarung über den Verzicht auf atomare Mittelstreckenwaffen zu schließen. Der gekündigte Vertrag wurde zwischen den USA und Russland geschlossen, bei einem neuen Vertrag soll Europa als gleichberechtigter Partner fungieren. Schließlich, so Macron, geht es in erster Linie um die Sicherheit in Europa. Unter diesen Bedingungen werden die unter dem Eindruck der Ukraine-Krise beschlossenen und immer wieder verlängerten Sanktionen gegen Russland nicht zu halten sein.

Die EU schafft keine gemeinsame Verteidigungspolitik

Im NATO-Hauptquartier und in den Regierungen der osteuropäischen EU-Staaten läuten die Alarmglocken. Alle voran protestiert Polen heftig gegen Macron. Polen hat enge Beziehungen zu den USA und zur NATO aufgebaut, weil man in Warschau erkennt, dass die EU keine militärische Potenz hat. Auch Deutschlands Bundeskanzlerin, Angela Merkel, ist über die französische Initiative nicht erfreut. Schließlich ist sie in der DDR aufgewachsen und daher auch von der Erinnerung an die sowjetische Diktatur geprägt.

Allerdings ist auch Merkel an einer Reform der NATO interessiert: Im Bundeskanzleramt wachsen die Zweifel an der Verlässlichkeit der USA, die seit Jahrzehnten als die bestimmende Schutzmacht fungiert hat. Somit rücken eine europäische Verteidigungspolitik und die Schaffung einer europäischen Armee in den Vordergrund.

Doch da punktet Stoltenberg: Bei jedem Auftritt verkündet er mit aller Deutlichkeit - „die EU ist nicht in der Lage sich zu verteidigen“. Tatsächlich wird über eine europäische Verteidigung seit langem ergebnislos diskutiert. Immer noch hat jeder Mitgliedsstaat eine eigene Armee, die mit den anderen nur lose kooperiert. 22 sind Mitglieder der NATO, 6 nicht. Im Lissabonner Vertrag, der aktuell geltenden Verfassung der EU, wurde die NATO als entscheidendes Verteidigungsinstrument bereits 2009 festgeschrieben.

Während man in Paris und London an den USA als Partner zweifelt, pflegt man in Warschau den Kontakt zu Washington. Während man in Paris eine Übereinkunft mit Moskau sucht, ist man in Berlin zu Moskau auf Distanz. In diesem Umfeld haben die Macron-Erklärung, „wir sind eine Gemeinschaft und müssen uns selbst definieren“ und das Interesse der Kanzlerin für eine europäische Armee wenig Aussicht auf Erfolg.

Auch die NATO bietet kein Bild der Geschlossenheit

Aber auch außerhalb der EU ziehen nicht alle NATO-Mitglieder an demselben Strang. Macron kritisiert den NATO-Staat Türkei heftig wegen der mit den anderen NATO-Staaten nicht abgesprochenen Invasion von Nord-Syrien und dem Kauf von russischen Waffen.

Der am kommenden Mittwoch gefeierte siebzigste Geburtstag der NATO findet zudem in London statt, also in jenem Land, das in einem chaotischen Gezerre gerade in den BREXIT stolpert und so die EU in eine fundamentale Krise stürzt. Allerdings steht Großbritannien uneingeschränkt zu seiner Rolle als Mitglied der NATO und Partner der USA.

Alles in allem: Macrons Erklärungen sollten einen Weckruf ergeben, um die NATO neu zu definieren. Doch zu all den geschilderten Spannungen kommt ein in Europa wenig beachtetes Element hinzu. Präsident Donald Trump sendet zwar widersprüchliche Signale, indem er die Organisation manchmal für überflüssig erklärt und sie an anderen Tagen fördert, doch ist ein anderer Faktor bestimmend. In den USA gilt in der Bevölkerung nach wie vor Russland als Feind Nummer 1 und die NATO als Bollwerk. Diese Einstellung kam deutlich zum Ausdruck, als Stoltenberg am 3. April 2019 vor beiden Häusern des US-Parlaments in Washington eine Jubiläums-Rede hielt und mit minutenlangen standing ovations begrüßt wurde. Am 4. April 1949 wurde der NATO-Vertrag in Washington unterschrieben. Dass am kommenden 4. Dezember in London gefeiert wird, ist wohl durch die Spannungen in Europa bedingt.

Macron sieht die NATO als Instrument der Terror-Bekämpfung

In den Vordergrund rückt die Frage, welche Rolle die nun siebzig Jahre alte Organisation denn heute zu spielen hätte. Macron sieht eine militärische Bedrohung Europas weder durch Russland noch durch China. Die tatsächliche Gefahr komme durch den weithin unterschätzten Terrorismus zustande, der auch entscheidend die gigantischen Flüchtlingswellen auslöst. Frankreich selbst ist besonders in der Bekämpfung der islamistischen Banden in der Sahelzone im Einsatz und musste erst vor wenigen Tagen den Tod von 13 Soldaten in Mali beklagen. Die Sahelzone ist jener etwa 150 Kilometer breite Streifen, der im Süde an die Sahara anschließt. In dieser Zone sorgen bereits die klimatischen Verhältnisse durch ausgedehnte Dürreperioden und Phasen der katastrophalen Überschwemmungen für extrem schwierige Lebensbedingungen. Mehrere islamistische Organisationen, am bekanntesten ist Boko Haram, verüben Massenmorde in den Dörfern, die Überlebenden fliehen, Wellen von hunderttausenden Flüchtlingen sind die Folge.

Die französische Militäraktion gegen den Terrorismus läuft seit 2014 in Zusammenarbeit mit den Staaten Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien und Niger. Auch Deutschland hat ein Kontingent Soldaten bereitgestellt. Macron sieht die aktuelle Aufgabe der NATO in der Bekämpfung der Terrorgruppen durch militärische Einheiten, um in den Staaten eine friedliche Entwicklung zu ermöglichen. Dies müsse auch im Nahen Osten und in anderen vom Terror betroffenen Regionen geschehen. Aber auch in diesem Zusammenhang wird Skepsis laut, wenn man berücksichtigt, dass der Einsatz schon fünf Jahre dauert und die Überfälle weiterhin stattfinden.

Kriege zeigen letztlich nur das Versagen der Diplomatie

Allerdings muss man anerkennen, dass der Terror tatsächlich derzeit die eigentliche Bedrohung bildet, die nicht nur in den betroffenen Ländern wütet, sondern auch in die NATO-Staaten selbst getragen wird. Es ist auch realistischer, mit Soldaten gegen Mordbanden aktiv zu werden als bedrohten Flüchtlingen zu empfehlen, sich doch in den eigenen Ländern um bessere Verhältnisse zu bemühen. Aber wie stets können - nach Clausewitz - Kriege nur als die Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln betrachtet werden. Folglich wird wohl der Terror erst wirksam zu bekämpfen sein, wenn man mit politischen Mitteln jene Regierungen und Organisationen neutralisiert, die die Terroristen finanzieren. Das kann aber kaum die Aufgabe der NATO sein, die eine militärische Einrichtung ist.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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