Indien ist ein Staat, den viele Beobachter für einen ambitionierten Tigerstaat halten, welcher mit überdurchschnittlichen Wachstumsraten seiner Volkswirtschaft für internationale Anleger und Investoren besonders lukrativ ist. Doch beginnt das Wachstum der indischen Wirtschaft, die weltweit mit einer jährlichen Leistung von 2,7 Billionen Dollar auf dem siebten Platz liegt, sich immer mehr zu verlangsamen.
In der jüngsten Vergangenheit hat sich zudem fast unbemerkt von der Weltpresse eine Kreditkrise ausgebreitet. Diese könnte die gesamte Wirtschaft infizieren und sich als ernstes Problem für den Subkontinent herausstellen.
So hat die US-Ratingagentur Moody’s am vergangenen Montag ihre Prognosen für das Wachstum des indischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) für das Geschäftsjahr 2019/ 2020 gesenkt. Die Agentur geht jetzt nur noch von einem Plus von 4,9 Prozent aus. Zuvor hatten die Volkswirte von Moody’s noch mit 0,9 Prozentpunkten mehr gerechnet – also mit einer Steigerung um 5,8 Prozent. Die Analysten begründeten ihre Entscheidung damit, dass der Verbrauch der privaten Haushalte schwach ausgefallen sei.
„Obwohl wir mit einem moderaten Wachstum im kommenden Jahr rechnen, wird die Steigerung geringer als in den vergangenen Jahren ausfallen,“, erklärten die Volkswirte. „Dies wird negative Auswirkungen auf die indischen Kreditgeber in einer ganzen Reihe von Wirtschaftszweigen haben“, sagten die Experten und wiesen damit darauf hin, dass die Konsumenten immer weniger in der Lage sein werden, ihre Kredite zurückzuzahlen.
Wirtschaft wächst so langsam wie seit 23 Jahren nicht mehr
Diese Verlangsamung hatte sich schon im dritten Quartal bemerkbar gemacht, als das BIP nur noch um 4,5 Prozent zugelegt hatte. Der Grund: Der Output der Industrie war rückläufig gewesen. Zwölf Monate zuvor hatte es noch ein Wachstum um fünf Prozent gegeben. Die Steigerung im dritten Quartal war die langsamste Steigerung seit 23 Jahren.
In der Industrie leidet besonders die Autobranche – wie überall auf der Welt. So werden insbesondere die Autohändler von der schwachen Nachfrage und der geringen Zahlungsfähigkeit der Kunden belastet. „Obwohl noch kein wesentlicher Zahlungsverzug zu sehen ist, könnte sich die Kreditentwicklung verschlechtern, wenn sich die Gesamtwirtschaft für einen längeren Zeitraum weiter verlangsamt“, schrieben die Volkswirte von Moody’s.
Sehr viele faule Kredite belasten die Banken
Hintergrund: In Indien ist eine inländische Kreditkrise zu beobachten, die sich nur im Land selbst bemerkbar macht. Allerdings hat sie noch kein internationales Ausmaß angenommen wie bei früheren größeren Krisen. Das bedeutet, es gibt massive Probleme, in Indien das Geld der Sparer in Kredite umzusetzen. Besonders wichtig ist, dass die Banken derzeit sehr viele faule Kredite in ihren Portfolios haben, die überwiegend an Kunden aus der Immobilienwirtschaft vergeben worden ist.
Der Bau- und Immobiliensektor ist ein wichtiger Wirtschaftszweig, der sehr eng mit anderen Schlüsselindustrien verbunden ist. Dazu gehören die Zement-, Stahl-, Metallindustrie als Lieferanten und der Kohlsektor als Energielieferant für diese Branchen, die sehr viel Energie benötigen.
Wenn die Immobilienwirtschaft massive Probleme bekommt, dann wirkt sich dies sehr schnell auf die anderen Wirtschaftszweige aus, wodurch die gesamte Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen werden kann. Von hier aus entsteht rasch eine Art Flächenbrand, der die gesamte Ökonomie Indiens anstecken kann.
Sogar Schattenbanken bekommen massive Probleme
Da die zumeist staatlichen Banken schon länger nicht mehr in der Lage waren, neue Kredite zu vergeben, sind die Schattenbanken eingesprungen. Jetzt bekommen aber auch diese Parabanken massive Probleme. Ein weiteres wichtiges Problem ist, dass die Parabanken oft auch die Konsumkredite für den Kauf von Autos bereitstellen. Dies können sie aber auch nicht mehr leisten. Deshalb können immer weniger Kunden Autos kaufen. Das lässt sich klar an den Absatzzahlen für den September ablesen. So haben sich in diesem Monat 2019 nur rund 2,2 Millionen Inder einen Neuwagen zugelegt. Das waren ein Fünftel weniger als noch zwölf Monate zuvor.
Die Krise ist nicht zuletzt deswegen verdeckt, weil sich die indischen Börsen derzeit gut entwickeln. Niemand denkt, es könne den Indern schlecht gehen. Allerdings decken die offiziellen Statistiken über die volkswirtschaftliche Entwicklung oft nicht die Realität ab. Denn in Indien gibt es viele Wirtschaftssektoren, die ihre Geschäfte schwarz machen, ohne dass dies der Staat kontrollieren kann. Beispielsweise sind 90 Prozent der Aktivitäten der Bauindustrie illegal. Darüber hinaus nehmen die Parabanken am Finanzsektor einen spürbaren Anteil ein.
Ein weiteres Problem ist die Korruption, die sich auch auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Das Land befindet auf dem internationalen Index von Transparency International für 2018 auf dem 78. Rang von insgesamt 180 Staaten.
Ein angesichts der latenten Bankenkrise schwerer Fehler des indischen Premiers Narendra Modi war, 2016 alle Geldscheine mit höheren Beträgen als Zahlungsmittel aus dem Verkehr zu nehmen. Offiziell war dies eine Maßnahme, um die Korruption und den Schwarzmarkt zu bekämpfen. Doch hat dies den Einzelhandel und viele Wirtschaftsaktivitäten erheblich geschädigt.