Deutschland

Bildungsmisere: Der Verrat an unseren Kindern hat lebenslange Folgen

Bildungspolitiker reformieren ständig die Schulen und Ausbildungsstätten der 10 bis 18-jährigen Kinder und Jugendlichen. Mit immer neuen Ideen versucht man die Probleme dieser Altersgruppe zu lösen. Die Auslöser der Schwierigkeiten werden aber zwischen 0 und 10 Jahren geschaffen. Doch in den ersten Jahren dominiert die fatale Parole „Lasst die Kleinen doch spielen!“ und die Chancen bleiben ungenützt.
28.12.2019 10:08
Aktualisiert: 28.12.2019 10:08
Lesezeit: 6 min

Bildungspolitiker reformieren ständig die Schulen und Ausbildungsstätten der 10 bis 18jährigen Kinder und Jugendlichen. Mit immer neuen Ideen versucht man die Probleme dieser Altersgruppe zu lösen. Die Auslöser der Schwierigkeiten werden aber zwischen 0 und 10 Jahren geschaffen: Die Kleinen haben unglaubliche Fähigkeiten und sind geistig reger als Erwachsene. In dieser Phase kann sich eine hohe Flexibilität entwickeln, die das ganze weitere Leben hilft, Herausforderungen zu bewältigen. Eine Eigenschaft, die gerade in der aktuellen Zeit der dramatischen Veränderungen wichtig wäre. Doch in den ersten Jahren dominiert die fatale Parole „Lasst die Kleinen doch spielen!“ und die Chancen bleiben ungenützt. Die Gehirnforschung zeigt aber auf: Ab dem 10. Lebensjahr ist es zu spät, dann gehen die kostbaren Eigenschaften verloren und in der Folge ist jedes Lernen mühsam.

Zwischen 0 und 10 kann man eine flexible Lebensfähigkeit entwickeln

Kinder zwischen 0 und 10 haben die größte Aufnahmefähigkeit und lernen daher unglaublich leicht und schnell. Diese Fähigkeit nimmt ab dem 10. Lebensjahr ab, sodass in der Folge lernen mit Mühe verbunden ist. Den Erwachsenen ist meist nur die Mühe bewusst und so ist es verständlich, wenn viele Eltern ihre Sprösslinge so lange wie möglich von der Plage des Lernens fernhalten wollen.

Auf dieser Art wird aber ein folgenschwerer Irrtum zum System gemacht. Nützt man die erstaunlichen Fähigkeiten zwischen und 0 und 10 Jahren, dann fällt das Lernen in den anschließenden Perioden und das ganze Leben lang leichter und erweist sich als weitaus weniger mühsam. Die Kinder können rechtzeitig entsprechende Techniken entwickeln, die ihnen später die Überwindung von Schwierigkeiten erleichtern, eine Fähigkeit, die gerade im aktuellen Zeitalter der Digitalisierung und der zahlreichen Veränderungen besonders wichtig ist. Hat man diese Techniken nicht, wird Vieles tatsächlich zur Mühe.

20 Prozent der 10jährigen können nicht Sinn erfassend lesen

Der Schlüssel ist die Fähigkeit Sinn erfassend lesen zu können, wodurch auch schreiben und rechnen erleichtert wird. Die im Rahmen der PIRLS/IGLU-Studie festgestellte Tatsache, dass fast 20 Prozent der 10jährigen in Deutschland und Österreich nicht Sinn verstehend lesen können und auch bei Vielen der übrigen 80 Prozent vermeidbare Defizite festzustellen sind, wird nur lautstark beklagt. Dass diese Tatsache bedeutet, dass die ersten kostbaren zehn Jahre bei Vielen ungenützt verstreichen, löst keine entsprechende Reaktion aus. Im Gegenteil: Viele Eltern, Kindergärtner und Grundschullehrer verteidigen lautstark die geübten Praktiken. Dabei gibt es keinen härteren Beweis für die Mängel als der statistisch erhobene, von den Lehrern in der ersten Klasse der Sekundarstufe und den Ausbildnern der Azubis beklagte Zustand der 10jährigen. Untersuchungen und internationale Vergleiche zeigen, dass die ausgewiesene Quote bei weitem unterschritten werden kann.

Die kindliche Phase wird bis zum 14. Lebensjahr ausgedehnt

Mehr noch: Viele Forderungen von Eltern und Maßnahmen der Bildungspolitik zielen auf eine Verlängerung der so genannten kindlichen Phase bis zum 14. Lebensjahr ab, damit erst dann der „Ernst des Lebens“ beginnt. Zu diesem Zeitpunkt muss man tatsächlich von einem mühevollen Ernst des Lebens sprechen: Die mittlerweile zu Jugendlichen herangewachsenen Kinder, geplagt vom Hormonwechsel und vom Stimmbruch, sollen ab 14 plötzlich, ohne das nötige Rüstzeug aus der Frühphase zu haben, entscheiden, wofür sie sich interessieren und sich mit ihren vagen Vorstellungen gegen Eltern, Lehrer und Lehrherren durchsetzen. Die zehn und bis zu vierzehn Jahre dauernde Aufrechterhaltung des Kind-Zustands wird als Wohltat präsentiert. In der Realität ist sie der größte Verrat an den Kindern.

Um sich zu entfalten, braucht man Informationen über die Möglichkeiten

Zur Verteidigung des falschen Umgangs mit den unter 10- bis unter 14jährigen werden Parolen strapaziert, allen voran die Behauptung, man wolle, dass sich die Kinder frei entfalten mögen, dass sich die Talente zeigen, dass lange kein Druck von außen die Entwicklung belasten möge. Der Logik-Fehler in dieser Argumentation wird nicht gesehen: Wie sollen denn die Kinder sich entfalten, wenn sie keinen Zugang zu den zahllosen Entwicklungsmöglichkeiten haben. Nur durch das Lesen lernt man die Welt kennen, nur durch das Lesen wird das Interesse für die verschiedensten Dinge geweckt. Erst, wenn die Kinder durch die Lektüre von Büchern oder Texten im Internet viele Anregungen bekommen, können sie Interessen entwickeln und ihre Talente entdecken.

Eltern verbinden mit dem Thema „Talent“ nicht selten die Hoffnung, dass sich der Nachwuchs als neuer Mozart oder Michelangelo entpuppt. Vielleicht wächst jedoch gerade ein genialer Erfinder, ein ausgezeichneter Tischler oder Mechaniker, ein Schriftsteller oder ein begnadeter Psychologe heran. Talent kann sich überall zeigen.

Es geht nicht darum, Kleinkinder in ein Korsett zu zwängen

Die Aufforderung, man möge frühzeitig dafür sorgen, dass die Kinder lesen und auch schreiben sowie einfache Rechnungen lösen können, wird mit einer Horrorvision verbunden: Man sieht die Kinder eingezwängt in eine sperrige Tisch- und Bank-Kombination, sich selbst als Mutter oder Vater in der Rolle eines strengen Lehrers, der sein geliebtes Fast-Noch-Baby mit Buchstaben quält. Dass davon keine Rede sein kann, wird vorsorglich ausgeblendet. Lesen ergibt sich aus einer Kombination vieler, durchaus vergnüglicher Tätigkeiten: Die Kombinationsspiele von „welches Schaf schaut in die falsche Richtung“ über Puzzles bis hin zum Nachsagen von Reimen stärken die Kombinationsgabe. Plakatwände mit übergroßen Lettern sind hilfreich. Das gemeinsame Lesen von Kinderbüchern rundet das vielfältige Programm der Möglichkeiten ab. Angesichts der raschen Auffassungsgabe der Kinder nimmt das Lesen-Lernen nur wenig Zeit in Anspruch und zum unverzichtbar wichtigen Spielen bleibt ausreichend Zeit.

Die Möglichkeiten der Volksschule werden nicht genützt

Mit der Unterstützung von Eltern, aber auch ohne diese Hilfe können die Kitas und die Grundschulen in der langen Periode bis zum 10. Lebensjahr ausgiebig mit den Kindern spielen, das Sozialverhalten entwickeln, Exkursionen machen und das durchaus vielfältige und abwechslungsreiche Programm absolvieren – aber dennoch bis zum Abschluss dafür sorgen, dass alle in die nächste Stufe mit einer soliden Lese-Fähigkeit starten.

Bewusst wird hier angemerkt, dass das Programm auch ohne Hilfe der Eltern gelingen kann. Meist werden problematische Ergebnisse von Studien mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten der Kinder von Migranten und Asylanten zur Seite geschoben. Das mag in manchen Bereichen stimmen. In den Kitas und Grundschulen sind aber nur kleine Kinder, die genau die gleichen Eigenschaften haben wie alle Altersgenossen und daher in der Gruppe nicht zurückbleiben müssen.

Mit dem „Schreiben nach Gehör“ wird eine Schreibweise gelernt, die in der Folge wieder verlernt werden muss. Charakteristisch für die Tendenz, das Kind-Sein in der Grundschule fortzusetzen, ist die starke Verbreitung des „Schreibens nach Gehör“. Die Kinder wählen eine beliebige Schreibweise, die weit von der Orthographie entfernt ist. Somit bauen sie sich eine eigene Rechtschreibung, die allerdings für den regulären Gebrauch nicht taugt und in der Folge verlernt werden muss, um die üblichen Regeln lernen zu können. Eine Bonner Studie, die die Lernerfolge von 3.000 Kindern in Nordrhein-Westfalen untersucht hat, zeigt, dass die traditionelle Fibel-Methode deutlich bessere Ergebnisse hervorbringt. Dabei werden die Kinder schrittweise mit Buchstaben und Wörtern vertraut gemacht. Die Interessenvertretung der Volksschullehrer, der Grundschulverband, hält dennoch am „Schreiben nach Gehör“ oder „Lesen durch Schreiben“ fest.

Noch mehr in Frage gestellt ist das langsame und mühsame Heranführen der Kinder an das Lesen durch Untersuchungen, die die bemerkenswerten Fähigkeiten der Kleinkinder aufzeigen. Bereits 1959 erklärte der führende Linguistiker des 20. Jahrhunderts, Noam Chomsky, „es kommt zwar kein Kind auf die Welt, das bereits eine Sprache spricht, aber alle werden mit der Fähigkeit zum Spracherwerb geboren, die es sogar gestattet, in wenigen Jahren gleich mehrere Sprachen geradezu aufzusaugen.“ Chomsky hat schon 1959 von den angeborenen Fähigkeiten gesprochen, die die Neugeborenen und Kleinkinder in die Lage versetzen, abstrakte, von erklärenden Zeichnungen unabhängige Schriftzüge und Zeichnungen zu verstehen. Der Linguist ging davon aus, dass eine universelle Basis-Grammatik in jedem Menschen vorgegeben sei.

Chomsky durch die Studie von Rebecca Treiman bestätigt

Seit Chomsky stellen Psychologen immer wieder die unglaublichen Kapazitäten der Kinder fest. Für einen Höhepunkt dieser Entwicklung sorgte die US-amerikanische Wissenschaftlerin Rebecca Treiman gemeinsam mit einer Reihe von Kollegen durch eine Serie von Experimenten, deren Ergebnisse 2016 veröffentlich wurden. Im Gegensatz zur früheren Untersuchungen zeigt die Treiman-Studie „Young Children’s Knowledge of the Symbolic Nature of Writing“, dass Kinder zwischen 3 und 5 Jahren die vollen Voraussetzungen haben, um lesen zu können. „We were able to demonstrate that children possess some of the most basic conceptual knowledge of the symbolic nature of printed words prior to being able to read.“

Das dramatische Ergebnis der Gehirnforschung: Nach dem 10. Lebensjahr ist es zu spät

Im deutschen Kita-Handbuch hat der Pädagoge und Psychologe Martin Textor entscheidende Ergebnisse der Gehirnforschung zusammengefasst. Wir zitieren auszugsweise:

Das Baby kann schon alle Laute jeder Sprache dieser Welt unterscheiden, das Kleinkind alle Phoneme korrekt nachsprechen. Die sensible Phase für den Spracherwerb dauert bis zum 6. oder 7. Lebensjahr. Allerdings: Innerhalb weniger Lebensjahre werden die Synapsen eliminiert, die diese Leistung ermöglichen, aber nicht benötigt werden, da sich das Kind in der Regel ja nur eine Sprache mit einer sehr begrenzten Zahl von Phonemen aneignet. Deshalb kann ab dem Schulalter, insbesondere ab der Pubertät, eine neue Sprache nicht mehr perfekt erlernt werden.

Das Gehirn eines Dreijährigen ist mehr als doppelt so aktiv wie das eines Erwachsenen

Etwa ab vier Jahren verbessert sich die Kommunikation zwischen linker und rechter Hirnhälfte, also zwischen der analytischen und der intuitiven Seite des Kindes. Es kommt zur Integration der beiden Bereiche. Das Kind kann nun zwischen Schein und Wirklichkeit unterscheiden. Es erkennt die Andersartigkeit der Gedanken und Beweggründe anderer Menschen und kann sich in Rollen hineinversetzen.

Ab dem 10. Lebensjahr gewinnt dann das Prinzip des „Use it or loose it“ (Benutze es oder verliere es) eine überragende Bedeutung: Das Gehirn wird optimiert: Diejenigen Synapsen, die häufig gebraucht werden, bleiben erhalten; die anderen werden eliminiert. Die Struktur des Gehirns spiegelt zunehmend die vorherrschenden Aktivitäten und Beschäftigungen des jeweiligen Menschen wider.

Angesichts dieser Erkenntnisse ist nicht nur die Vernachlässigung der großartigen Begabungen der Kleinen zu beenden. Auch die Forderung nach einer Gesamtschule der 10 bis 14jährigen um das Kind-Sein zu verlängern, erweist sich als Fehler. Man kann die Defizite der Phase zwischen 0 und 10 nicht von 10 bis 14 aufholen. In der schwierigen von der Pubertät überschatteten Periode von 10 bis 14 geht es darum, den Geist der Kinder wach zu halten und dafür zu sorgen, dass sie aus dem „Use it or loose it“ ein „Use it and develop it“ machen. Ohne Zweifel eine mindestens so große Herausforderung wie der Unterricht in einer Grundschule.

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Ronald Barazon

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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