Deutschland

Rotkäppchen und der Wolf: Das Drama von Thüringen wird ungeahnte Folgen haben

Lesezeit: 2 min
06.02.2020 18:41  Aktualisiert: 06.02.2020 18:41
Im Zusammenhang mit den Ereignissen rund um die Landtagswahl in Thüringen hat DWN-Leser Georg F. Colin uns einen Brief geschrieben, den wir in voller Länge abdrucken. "In Thüringen spielen sich Dinge ab, die in seinem Ablauf dem Drama von Rotkäppchen und dem Wolf ähneln. Dieses Drama wurde von Anfang an geplant, ohne dass es jemand geahnt hätte."
Rotkäppchen und der Wolf: Das Drama von Thüringen wird ungeahnte Folgen haben
Rotkäppchen und der Wolf. (Foto: dpa)
Foto: Oliver Berg

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Die Opferrolle ist zu einem der wichtigsten Pfeiler der Identitätspolitik in Deutschland geworden. Die unterschiedlichsten Bewegungen, Parteien und Organisationen, aber auch Einzelpersonen, bedienen sich dieser Rolle und fühlen sich in ihr ausgesprochen wohl.

Sie ist heute ein zentrales Mittel, um sich als politischer Akteur zu definieren. In der Tat scheint die Opferrolle zu einem Status geworden zu sein, der festgelegt werden muss, bevor politische Ansprüche geltend gemacht werden können. Das Opfer verkörpert die Behauptung, dass es durch Fehlentscheidungen des “Systems” Leid ertragen muss. Im politischen Diskurs wird deshalb auch gezielt das Wort “System-Parteien” oder “Alt-Parteien” genutzt - schließlich sind die mächtig und deshalb in der Lage, kleineren, noch nicht so etablierten Parteien, Leid zuzufügen.

Neue Bewegungen und Parteien haben sich in der deutschen und europäischen Geschichte immer wieder einer Opfer-Rhetorik bedient, in deren Kern in Wirklichkeit oftmals narzisstisch-nationalistische oder pseudo-religiöse, aber vor allem selbstgerechte Elemente versteckt waren. Der Ruf nach grenzenloser Meinungsfreiheit diente im Regelfall immer dem Ziel, das Unsagbare sagbar zu machen, was am Ende regelmäßig von der Wort- zur Tatgewalt führte. In der letzten Konsequenz kam es zur Etablierung der politischen Macht, um schlussendlich jener beanspruchten grenzenlosen Meinungsfreiheit, die man zuvor so rigoros eingefordert hatte, scharfe Grenzen im Eigeninteresse zu setzen, was nicht selten in der Verfolgung politischer Gegner mündete und in der Katastrophe endete.

Es ist nichts Neues, Ungewöhnliches oder Unerwünschtes an Politikern und Parteien, die ihre Identität offensiv vertreten, aber warum ist die ständige Wiederholung von Volksidentität und die Ausnutzung der Opferrolle für die Etablierung einer öffentlichen Stimme von entscheidender Bedeutung geworden?

Diese Identitäten sind Platzhalter für oftmals völlig unpolitische private Leiden und dienen als Zeichen der Gerechtigkeit der eigenen Sache. Privileg - und mit ihr die Privilegierten - ist die Sünde, die überprüft werden muss, damit die “Ausgegrenzten” ihren langen Marsch fortsetzen können. In einer einfühlsamen Gesellschaft werden Opfer und Ohnmacht zu einer eigenen Art von Macht.

David Shaw hat in einer Ausgabe der theologischen Fachzeitschrift “Primer” das Opferdreieck (Dramadreieck) von Stephen Karpam herangezogen, um die Dynamik einer Opferkultur zu beschreiben. In dem Märchen vom Rotkäppchen gibt es drei Hauptrollen: Rotkäppchen, Wolf und Holzfäller. Die Geschichte bietet eine mächtige symbolische Welt, die von einem Opfer, einem Verfolger und einem Retter bevölkert wird. Shaws Standpunkt ist, dass wir in einer Kultur der Opfer ständig unser gemeinsames Leben um dieses Dreieck organisieren und alles kreativ neu zuordnen, um sie unseren eigenen Zwecken anzupassen.

Diese Perspektive verschafft beispielsweise einer politischen Partei einen Rechtfertigungsgrund, um ihre “ungerechten” Gegner hartnäckig zu bekämpfen. Ein ehrlicher Dialog ist bei dieser Konstruktion völlig unmöglich. Wäre ein konstruktiver Dialog zwischen Rotkäppchen und dem Wolf möglich? Wir erkennen diese Denkstruktur nicht nur bei der AfD, aber vor allem bei ihr.

Wenn Sie Opfer werden, haben Sie das Recht, Ihren Verfolger zu strafen und einen “Retter” zu ernennen. Überrede jemanden, dass er ein Opfer ist, und lade ihn ein, dich zu seinem “Retter” zu machen. Wenn du es schaffst, das “Verfolgerabzeichen” an jemanden zu heften, ist dieser moralisch und emotional aus dem Spiel.

In Thüringen werden wir in den kommenden Wochen dieses Muster beobachten können. Nun obliegt es dem Beobachter herauszufinden, wer bei der anstehenden Inszenierung das Rotkäppchen (Opfer), der Wolf (Verfolger) und der Holzfäller (Retter) sein werden. Rotkäppchen wird auf jeden Fall als Siegerin aus diesem politischen Märchen hervorgehen. Wer das “Verfolgerabzeichen” angeheftet bekommt, lässt sich schon jetzt erahnen.

So wurde dieses Drama von Anfang an geplant, aber keiner hat es durchschaut!


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Halbzeit Urlaub bei ROBINSON

Wie wäre es mit einem grandiosen Urlaub im Juni? Zur Halbzeit des Jahres einfach mal durchatmen und an einem Ort sein, wo dich ein...

DWN
Technologie
Technologie Ocean Cleanup fischt 10 000 Tonnen Plastikmüll aus Ozeanen und Flüssen
23.04.2024

Ein Projekt fischt Tausende Tonnen Plastik aus dem Meer und aus Flüssen. Eine winzige Menge, weltweit betrachtet. Doch es gibt global...

DWN
Technologie
Technologie Astronaut Alexander Gerst rechnet mit permanenter Station auf dem Mond
23.04.2024

Eine feste Basis auf dem Mond - das klingt für viele noch nach Science Fiction, soll aber schon bald Realität werden. Für Astronaut...

DWN
Politik
Politik Zeitungsverlage mahnen von Politik zugesagte Hilfe an
22.04.2024

Der Medienwandel kostet Zeitungshäuser viel Kraft und Geld. Von der Politik fühlen sie sich dabei im Stich gelassen. Sie erinnern die...

DWN
Immobilien
Immobilien Stabilere Aussichten für deutschen Gewerbeimmobilienmarkt nach Volatilität
22.04.2024

Die Nachfrage insbesondere nach Büros im deutschen Gewerbeimmobiliensektor war verhalten im Jahr 2023. Das Segment ist stärker als andere...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Iran-Konflikt: Israels mutmaßlicher Angriff und Teherans Machtspiele
22.04.2024

Ein möglicher israelischer Luftangriff gegen den Iran kennzeichnet die bisherige Spitze der Eskalation im Nahostkonflikt. Dennoch bleibt...

DWN
Politik
Politik Steinmeier reist mit Dönerspieß und Imbissbesitzer in die Türkei
22.04.2024

Zehn Jahre ist es her, dass ein Bundespräsident der Türkei einen Besuch abgestattet hat. Jetzt reist Frank-Walter Steinmeier an den...

DWN
Technologie
Technologie Auftakt der Hannover Messe: Industrie mahnt Reformen an
22.04.2024

In Hannover hat wieder die traditionelles Messe für Maschinenbau und Elektrotechnik begonnen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eröffnete...

DWN
Politik
Politik Parteiensympathie unterscheidet sich zwischen Stadt und Land
22.04.2024

Wie unterschiedlich ticken die Menschen politisch auf dem platten Land und in der Großstadt? Eine Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung...