Die Region Kaliningrad ist etwa so groß wie Nordirland mit fast einer Million Einwohnern und vom Rest Russlands getrennt. In der Sowjetzeit war sie eine geschlossene Militärzone. Die russische Exklave befindet sich zwischen Polen und Litauen. Kaliningrad war Teil Deutschlands, bis es nach dem Zweiten Weltkrieg von Russland annektiert wurde.
Seit geraumer Zeit treibt Militär-Analysten die Sorge um, dass im Baltikum eine ähnliche Situation wie auf der Halbinsel Krim im Jahr 2014 entstehen könnte. Dabei rückt der sogenannte Suwalki-Korridor ganz besonders in den Fokus.
Im Zusammenhang mit Kaliningrad spielt der Suwalki-Korridor eine sehr kritische Rolle. Er trennt das Territorium der russischen Exklave von Weißrussland und bildet das polnische Grenzgebiet zu Litauen. Die US-Denkfabrik CEPA führt aus: “Der Suwalki-Korridor, ein 65 Kilometer breiter Landstreifen, der Polen mit Litauen verbindet, ist der anfälligste Engpasspunkt der Nato entlang seiner Ostflanke. Im Falle eines Konflikts zwischen Russland und der Nato könnte das russische Militär, das von der Exklave in Kaliningrad und von Weißrussland aus operiert, versuchen, den Suwalki-Korridor zu schließen und die Nato als Sicherheitsdienst für ihre drei baltischen Mitglieder außer Gefecht zu setzen (...) Die drei baltischen Länder - Litauen, Lettland und Estland - teilen eine 1.400 Kilometer lange Landgrenze zu Russland und Weißrussland, sind aber durch einen schmalen Landkorridor mit Polen auch mit dem Rest der Allianz verbunden. Dieser Landstreifen hat nur zwei Straßen und eine Eisenbahnlinie. Wenn russische Streitkräfte die Kontrolle über den Suwalki-Korridor erringen würden, würde das die baltischen Staaten vom Rest der Nato abschneiden und ihre Verstärkung auf dem Landweg in ein schwieriges Unterfangen verwandeln. Die Verteidigung von Suwalki ist daher wichtig für die Glaubwürdigkeit der Nato und für den Zusammenhalt des Westens.”
Da es keine Landbrücke zwischen Kaliningrad und dem russischen Verbündeten Weißrussland gibt, sprechen russische Geopolitiker oftmals von einer “unglücklichen” Situation, da die Exklave über den Luft- oder Seeweg versorgt werden muss. Russland hat ein Interesse daran, eine Landbrücke zwischen Kaliningrad und Weißrussland zu schaffen, wodurch sich Polen und die baltischen Staaten bedroht fühlen. Dieser russische Ansatz ist nicht neu. Im Jahr 1996 kam es zu enormen Spannungen zwischen Polen und Russland, da Moskau die Errichtung eines Transportkorridors zwischen Kaliningrad und Weißrussland vorschlug. Warschau will die Schaffung einer Landbrücke zwischen Weißrussland und Kaliningrad verhindern, da dieser Vorstoß nicht nur zwangsläufig die Souveränität Polens einschränken, sondern auch Polens Landverbindung zum Baltikum kappen würde.
Im Baltikum ist die Angst vor der Schaffung einer Landbrücke zwischen Weißrussland und Kaliningrad allgegenwärtig. Seit 2012 operiert der Voronezh-Radar (Frühwarnradar zur Überwachung des Luftraums) in der Nähe des Dorfes Pionerski. “Es überwacht den gesamten Luftraum über der Ostsee und Nordeuropa, könnte sogar das gesamte Gebiet zwischen den Azoren und Grönland überwachen", zitiert Charter97 den litauischen Analysten Aleksandras Matonis. Zudem befinden sich in Kaliningrad das Raketensystem des Typs Iskander und die Luftabwehrsysteme S-400 und S-500.
Verschiedene Szenarien der Eskalation
Radiodienst.pl wörtlich: “Die meisten Fachleute gehen davon aus, dass ein Krieg Russlands gegen die baltischen Staaten mit Provokationen seitens der russischen Minderheiten in Estland (30 Prozent der Bevölkerung) und Lettland (26 Prozent) beginnen würde. Ein Aufruhr in diesen Staaten könnte Moskau als Vorwand dienen, unmittelbar einzugreifen. Wahrscheinlich kämen am Anfang, als ortsansässige ,Partisanen’ getarnt, ,grüne Männchen’, kleine russische Spezialeinheiten ohne Abzeichen, zum Einsatz. Danach reguläre Truppen. Der Angriff auf Litauen, wo keine nennenswerte russische Minderheit lebt, könnte der schnellen Errichtung eines Landkorridors zwischen Weiβrussland und dem Kaliningrader Gebiet dienen. Generell würde Russland schnell vollendete Tatsachen schaffen wollen, und die Nato durch die Androhung eines Atomwaffeneinsatzes vom Handeln abzuhalten versuchen. Deswegen ist in den russischen Plänen ein völliges Abschneiden des Baltikums von der Auβenwelt vorgesehen: durch den ,Riegel’ zwischen Kaliningrad und Weiβrussland, die Seeblockade und die volle Kontrolle über den Luftraum, wozu sich die mobilen S-300 und S-400 Luftabwehrraketen sehr gut eignen.”
Die polnische Zeitung Rzeczpospolita berichtet: "Dies ist keine imaginäre Bedrohung. Estland, Lettland und Litauen sind ständig dem russischem Informations-Einfluss ausgesetzt und werden zum Ziel von Propaganda-Operationen, die darauf abzielen, das Vertrauen in staatliche Institutionen und die Nato zu untergraben und Hass zwischen verschiedenen sozialen und nationalen Gruppen zu schüren."
Die Fokussierung der Nato und der "US Army Europe" auf das Baltikum hängt direkt mit dem Suwalki-Korridor zusammen. “Auf dem Suwalki-Korridor laufen die vielen Schwächen der Nato-Strategie (...) zusammen”, führt der ehemalige Oberbefehlshaber der US Army Europe, Ben Hodges, gemeinsam mit Janus Bugajski und Peter B. Doran in einem Bericht aus.
Die russische Onlinezeitung Utro bestätigt, dass der Suwalki-Korridor einer der am stärksten gefährdeten Orte der Nato ist. “Daher ist der Westen sehr daran interessiert, dass die Polen so bald wie möglich sowjetische Ausrüstung und Waffen durch Ausrüstung und Waffen westlicher Hersteller ersetzen. Und Warschau erfüllt diese Wünsche (...) Die Nato betrachtet Polen zu Recht als das Hauptglied bei der Verteidigung Osteuropas, und Warschau versteht dies gut. Die Behörden des Landes haben bereits einer US-Militärbasis in Polen - für die sie selbst die Kosten sparen - zugestimmt und sich auch für F-35-Kampfjets entschieden”, so das Blatt. Ukro zufolge hätte die Nato schlechte Karten bei der Rückeroberung des Suwalki-Korridors und des Baltikums, falls Russland im Rahmen eines Szenarios eine erfolgreiche Offensive durchführen sollte. Polens Armee räumt das Blatt wenig Chancen ein, weshalb Utro Polen als “europäisches Selbstmordattentats-Land” umschreibt.
Eine ähnliche Situation wie im Jahr 2014 auf der Krim muss nicht eintreten, zumal die USA und Russland kein Interesse an einer Eskalation haben. Doch die Spannungen um Kaliningrad herum werden fortbestehen.
Die wirtschaftliche Situation in Kaliningrad
Kaliningrad hatte am 1. April 2016 den Status der Sonderwirtschaftszone (SEZ) verloren und gezeigt, dass es nicht in der Lage ist, die wachsenden wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen. Unterdessen zwangen Überschwemmungen und widrige Wetterbedingungen gegen Ende des Jahres 2017 die lokalen Behörden, den Kreml um zusätzliche finanzielle Unterstützung zu bitten.
Am 5. Dezember 2017 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein Dekret, mit dem die SEZ Kaliningrad wieder eingesetzt wurde. Die anfänglichen Erwartungen, dass diese zwischen Polen und Litauen eingeklemmte russische baltisch-Küstenexklave bald zu einem Gebiet mit vorrangiger Entwicklung (“Territoria Operezhayushego Razvitiya”) werden würde, wurden jedoch schnell zerstört, als die Einzelheiten der neuen Gesetzgebung veröffentlicht wurden. Anstatt neue Subventionen und einen privilegierten Status (einschließlich visumfreier Einreise für Ausländer) anzukündigen, verschlechterte das neue Gesetz die Bedingungen der Wirtschaft Kaliningrads.
Infolgedessen wird das SEZ-Regime in Kaliningrad anstelle von 2095 nur bis 2045 in Kraft bleiben, wodurch langfristige Investitionen für externe Investoren praktisch sinnlos werden. Zweitens führte das neue Gesetz eine Änderung ein, die die Zusammenarbeit zwischen lokalen Einzelhändlern und Produzenten landwirtschaftlicher Produkte und Waren erheblich erschwert. Dies hatte die Einheimischen angesichts der aktuellen Wirtschaftslage am meisten bestürzt. Die Preise für Grundnahrungsmittel waren in den folgenden Monaten um 18 bis 24 Prozent gestiegen, berichtet New Kaliningrad.
Doch sogenannte kleine und mittlere Unternehmen (KMU) waren nicht die einzigen Verlierer des neuen Gesetzes. Auch große Unternehmen leiden darunter. BaltAgroKorm, ein Unternehmen der Agro-Industrie, das früher wie eine Erfolgsgeschichte für “ländlichen Wohlstand” in Kaliningrad aussah, ist bankrott gegangen. Das Scheitern von BaltAgroKorm zeigte auf, dass das lokale Wirtschaftsmodell weitgehend ineffizient ist, solange es keine weiteren Subventionen und Finanzspritzen aus Moskau erhält.
Angst vor "schleichender Germanisierung"
Auch politisch überschlagen sich die Ereignisse in Kaliningrad. Seit dem Herbst 2017 ist die Region einer neuen Welle der Hysterie über die sogenannte “schleichende Germanisierung” ausgesetzt. Die Kampagne wurde Ende September 2017 gestartet, als Anna Alimpiewa, Professorin für Soziologie an der Baltischen Bundesuniversität Immanuel Kant (BFU), beschuldigt wurde, Studenten einer Gehirnwäsche unterzogen zu haben und eine LGBT-Agenda unter Jugendlichen vor Ort zu fördern, berichtet Vesti Kaliningrad. Zudem soll sie propagiert haben, dass Kaliningrad ohne Russland “besser dran” wäre. Ihr wurde somit auch die Förderung des Kaliningrader Separatismus vorgeworfen.
Daraufhin organisierte die Kaliningrader Vertretung des "Russian Institute for Strategic Studies" (RISS) eine Reihe von Konferenzen, auf denen “anti-deutsche” und “anti-westliche” Ansichten vertreten wurden. Rugrad.eu zufolge nahmen renommierte Redner an den Konferenzen teil. Staatliche Stellen unterstützten die Kampagne gegen eine angebliche “Germanisierung” Kaliningrads, was auch zur Schließung des Deutsch-Russischen Hauses führte.
Russlands Angst vor dem Aufstieg einer separatistischen Bewegung in Kaliningrad ist groß. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Angst vor dem Separatismus ausgerechnet mit einer “schleichenden Germanisierung” in Verbindung gebracht wird. Dabei ist diese Angst völlig unbegründet. Nur 0,4 Prozent der Bevölkerung Kaliningrads sind deutscher Abstammung.
Im Jahr 1937 betrug die Einwohnerzahl Kaliningrads, damals Königsberg, 372.000. Bis zum 9. April 1945 ging die Bevölkerungszahl auf 110.000 zurück. 1945 lebten nur etwa 5.000 Sowjetbürger auf dem Territorium. Zwischen Oktober 1947 und Oktober 1948 wurden rund 100.000 Deutsche, die die indigene Bevölkerung bildeten, gewaltsam aus der Kaliningrad/Königsberg vertrieben. In dieser Zeit kamen rund 400.000 Sowjetbürger in das Gebiet.
Die aktuelle Bevölkerung Kaliningrads, die sich auf etwa 438.000 Personen beläuft, setzt sich zu 87,4 Prozent aus Russen, zu vier Prozent aus Ukrainern, zu 3,8 Prozent aus Weißrussen und zum Rest aus sonstigen Gruppen zusammen.