Man sollte annehmen, die EU sei sich darüber im Klaren, dass sie angesichts der aktuellen Corona-Krise im Hinblick auf ihr weiteres Bestehen vor einer ernsten Bewährungsprobe steht. Aus EU-Kreisen ist dazu allerdings nicht viel zu hören oder zu lesen. Es scheint, als agiere jedes Mitglieds-Land völlig autonom bei der Verhängung und Durchsetzung immer restriktiverer Maßnahmen. Dies war zu Beginn etwa der Euro-Krise – ich schreibe "Zu Beginn", denn sie ist noch lange nicht vorüber – anders. Die Griechen können ein Lied davon singen.
Vor allem die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum, die weitgehende Aushebelung der Reisefreiheit der EU-Bürger, ist symptomatisch für die Entwicklung der Gemeinschaft. Italien – dessen Gesundheitssystem vor allem im Norden des Landes überlastet ist – erhält mehr medizinische Hilfe aus China als aus Deutschland. Die europäische „Solidarität", die vor einigen Jahren noch zwecks Euro- und Griechenland-Rettung bemüht wurde (und in Südeuropa zu Austeritäts-programmen führte, während sie den Steuerzahlern in Nordeuropa unkalkulierbare Finanzrisiken aufbürdete), ist nun im Vergleich viel weniger stark erkennbar. Der Beliebtheit der EU dürfte dies nicht zuträglich sein.
Doch es geht nicht allein um Atmosphärisches. Die Corona-Krise hat das Potential, die gesamte EU in eine Rezession zu stürzen. Und eine weitere Öffnung der Geldschleusen durch die EZB, unbegrenzte Anleihe-Käufe oder Zinsen im Negativbereich würden die bereits vorhandenen strukturellen Probleme der meisten ihrer Mitgliedstaaten nur weiter verschärfen und das Weiterbestehen der EU noch weiter in Frage stellen. Gerade Italien mit einem Schuldenstand von weit über 130 Prozent gemessen an seinem Bruttosozialprodukt, könnte der Dominostein sein, der den Staatenbund zum Einsturz bringt. Denn das Land ist zu groß für einen Bail-Out durch seine europäischen Partner. Der Euro wäre als Gemeinschaftswährung in seiner jetzigen Form nicht mehr zu halten.
Das Diktum von Frau Merkel „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa", war zu Beginn der Eurokrise falsch – die permanenten Rettungsarien haben die EU eher gespalten als geeint und im Vergleich zu anderen Wirtschaftsräumen zurückgeworfen. Anstatt über Alternativen zur Währungsunion oder zumindest ihre Reform nachzudenken, hielt man an einem Projekt fest, das von Anfang an keine Erfolgsaussichten hatte. In der jetzigen Situation aber wäre ein unkontrolliertes Auseinanderbrechen des Euro fatal. Die EU gliche dann tatsächlich einem Scherbenhaufen. Und dies in einer Zeit des Übergangs von einer uni- zu einer multipolaren Weltordnung, in der sich der Machtkampf zwischen den USA und der VR China immer weiter zuspitzt. Die EU droht dabei, zwischen den beiden Blöcken zerrieben zu werden. Insofern hat die Corona-Krise eine starke geopolitische Komponente. Sie könnte die Machtbalance auf dem Globus ein weiteres Mal verschieben, indem es die EU als potentielles Machtzentrum aus dem Spiel nimmt. Schon jetzt gehört sie auf die Intensivstation.