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Corona setzt WM-Ausscheidungsturnier in Russland ein Ende: Letztes Sport-Ereignis von Weltniveau abgebrochen

Die letzte sportliche Veranstaltung von Weltniveau, das Ausscheidungsturnier zur Schachweltmeisterschaft in Jekaterinburg, ist abgebrochen worden. Der Grund: Ab dem heutigen Freitag gibt es keinen Flugverkehr mehr zwischen Russland und dem Ausland.
27.03.2020 15:29
Aktualisiert: 27.03.2020 15:29
Lesezeit: 3 min
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Corona setzt WM-Ausscheidungsturnier in Russland ein Ende: Letztes Sport-Ereignis von Weltniveau abgebrochen
Schachweltmeisterschaft 2018 in London: Der Norweger Magnus Carlsen (r) kann seinen Titel gegen den Amerikaner Fabiano Caruana in einem äußerst hart umkämpften Match ganz knapp in der Verlängerung verteidigen. (Foto: dpa) Foto: Fredrik Varfjell

Der internationale Schachverband FIDE hat das sogenannte Kandidatenturnier in Jekaterinburg am gestrigen Donnerstag abgebrochen. Der Grund ist eine Verfügung der russischen Regierung. Sie besagt, dass ab dem heutigen Freitag, null Uhr, jedweder Flugverkehr zwischen Russland und dem Ausland auszusetzen sei. Fide-Präsident Arkadi Dworkowitsch (von 2008 bis 2012 Berater des damaligen Präsidenten von Russland, Dmitri Medwedew) sagte, das Turnier werde unterbrochen, um den Spielern noch die rechtzeitige Heimreise zu ermöglichen.

Schon im Vorfeld hatte es Diskussionen darüber gegeben, ob die Veranstaltung nicht besser abgesagt werde sollte. Die Veranstalter wiesen dies zurück mit der Begründung, Corona stelle in Russland im Allgemeinen und vor allem in Jekaterinburg (bis 1991 Swerdlowsk) keine große Gefahr dar. Jekaterinburg liegt östlich des Uralgebirges, rund 1.800 Kilometer von Moskau entfernt, und ist mit 1,48 Millionen Einwohnern die viergrößte Metropole des Landes.

Das Turnier war von Anfang an von der Corona-Krise bestimmt gewesen: Zuschauer waren nicht zugelassen, Journalisten waren nur wenige vor Ort, darunter nur einer, der nicht aus Russland stammt. Dieser, der Spanier Leontxo Garcia von der Zeitung „El Pais“, wurde – obwohl negativ getestet – gleich nach seiner Ankunft in Quarantäne gesteckt, das heißt, er durfte sein Hotelzimmer nicht verlassen.

Die Spieler verbrachten die meiste Zeit auf ihren Hotelzimmern, verlassen durften sie diese nur für die Dauer der Partie. Viele hatten durch Corona schon bei der Anreise Probleme; besonders schwer traf es den Chinesen Liren Ding: Erst musste der 27jährige zwei Wochen in der Wohnung seiner Eltern in Wenzhou verbringen, anschließend zwei Wochen in Quarantäne in der Nähe von Moskau (je nach Quellenlage in einem Sanatorium oder einer Datscha). Die Unannehmlichkeiten bekamen dem Mitfavoriten übrigens schlecht: Er belegt den geteilten letzten Platz.

Der aus Moskau stammende Turnierteilnehmer Alexander Grischuk (Nummer vier der Weltrangliste) forderte schon nach wenigen Tagen den Abbruch der Veranstaltung: „Das Turnier sollte gestoppt werden. Die gesamte Atmosphäre ist feindlich. Jeder trägt eine Maske und dann das gesamte Sicherheitspersonal (…) Ich will eigentlich nicht spielen oder hier sein.“

Auf Anfrage der Deutschen Wirtschaftsnachrichten bewertete der Berliner Schachverleger und Fernschach-Spieler von Weltklasse, Arno Nickel, Grischuks Aussage folgendermaßen: „Es ist mutig von ihm, seine Meinung zu sagen. Eine oppositionelle Geste erkenne ich aber nicht – es ging um Schach.“

Der Politikwissenschaftler Prof. Michael Dreyer aus Jena, selbst ein starker Schachspieler, sagte den DWN: „In einer ´gelenkten Demokratie´ oder in einer Diktatur sind alle sportlichen Großveranstaltungen immer auch politisch aufgeladen. Es soll immer etwas bewiesen werden, sowohl der eigenen Bevölkerung wie auch dem Ausland. Der russische Schachverband ist nicht unpolitisch, ebenso wenig wie das russische Olympische Komitee oder der russische Fußballverband. Andererseits ist Russland natürlich auch nicht irgendein Schachland. Weltmeisterschaften in Russland hat es zur Zeit des Zaren gegeben (Moskau 1896), in der Zeit der Sowjetunion und in der postsowjetischen Zeit. Kein Land hat eine stolzere Schachtradition als Russland, und so ist es nur natürlich, dass große Schachereignisse auch immer wieder dort stattfinden. Auch die Unterbrechung ist nicht völlig ungewöhnlich. Bereits der Wettkampf zwischen Steinitz und Zuckertort wurde 1886 in drei verschiedenen Städten ausgetragen. Das WM-Turnier 1948 begann in Den Haag, und nach einer Pause von zwei Wochen wurde es in Moskau fortgesetzt. Die Unterbrechung des Kandidatenturniers 2020 ist bedauerlich, aber es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die zweite Hälfte nicht erfolgreich durchgeführt werden kann, und hoffentlich schon bald.“

Der emeritierte Historiker Prof. Eckhard Freise, ebenfalls ein Schachexperte, sagte den DWN, bevor die Entscheidung, das Turnier abzubrechen, bekannt wurde: „Natürlich geht es bei einer solchen Veranstaltung ums Prestige. Die Veranstalter wollen das Turnier durchziehen. Die nehmen von jedem Spieler vor jeder Partie die Temperatur. Ich sag´s mal so: ´Zeigt das Thermometer unter 100 Grad Fahrenheit an, darf gespielt werden´ (100 Grad Fahrenheit entspricht knapp 38 Grad Celsius – Anm. d. Red.).“

Der Schachgroßmeister und Chef-Redakteur der renommiertesten deutschen Schachzeitschrift, „Schach“, Raj Tischbierek, sagte den DWN: „Die Schachwelt streitet sich darüber, ob es richtig war, das Turnier nicht von Anfang an abzusagen. Die einen weisen darauf hin, dass im hinteren Ural Corona wohl kein so großes Problem darstellte, wie in anderen Teilen dieser Welt. Und die Veranstalter haben sich wohl auch peinlich genau an die Sicherheitsbestimmungen gehalten. Andere sagen, das Turnier hätte niemals unter solchen Bedingungen gestartet werden dürfen. Schließlich stand das ganze Turnier-Geschehen unter dem Eindruck von Corona – es herrschte wahrlich eine gespenstische Stimmung.“

In Russland war Corona von offizieller Seite zunächst nicht als ernsthafte Bedrohung bezeichnet worden. Präsident Wladimir Putin hatte letzte Woche noch von einer „relativ geringen Gefahr“ gesprochen; Regierungsbeamte warnen allerdings schon seit mehreren Tagen davor, dass die Zahl der Erkrankten höher ist als die von den Behörden angegebene. Mittlerweile hat ein Umdenken stattgefunden; unter anderem hat Putin ab kommenden Montag eine arbeitsfreie Woche für das ganze Land angeordnet.

Das Turnier hatte am 16. März begonnen und sollte eigentlich bis zum 4. April dauern. Der Sieger qualifiziert sich für einen Titelkampf mit dem derzeitigen Schach-Weltmeister, Magnus Carlsen aus Norwegen. Drei der insgesamt acht Teilnehmer stammen aus Russland, zwei aus China und je einer aus den USA, Frankreich und den Niederlanden. Der Austragungsmodus ist jeder gegen jeden, und zwar doppelrundig. Am Mittwoch wurde die erste Hälfte des Turniers beendet, es führen mit jeweils 4,5 Punkten (für einen Sieg gibt es einen Punkt, für ein Unentschieden einen halben) der Franzose Maxime Vachier-Lagrave und der Russe Jan Nepomnjaschtschi. Die zweite Hälfte soll zu einem noch nicht bekannten Zeitpunkt nachgeholt werden.

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