Weltwirtschaft

Viele Milliarden einfach weg: Wie Agrarsubventionen in Osteuropa in dunklen Kanälen versickern

Lesezeit: 6 min
08.05.2020 15:00
Die EU finanziert die Landwirtschaft Osteuropas jährlich mit Milliarden an Subventionen. Davon profitieren vor allem mafiöse Strukturen und Oligarchen, die bemerkenswerterweise politisch dem Anti-EU-Lager angehören.
Viele Milliarden einfach weg: Wie Agrarsubventionen in Osteuropa in dunklen Kanälen versickern
Die EU ist trotz allem auf die Oststaaten Tschechien und Ungarn angewiesen. (Foto: dpa)
Foto: Michal Krumphanzl

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Die Welternährungsproduktion muss sich bis 2050 verdoppeln, um dem Bevölkerungswachstum und den sich entwickelnden Ernährungsgewohnheiten Rechnung zu tragen. Es ist den Auswirkungen des Klimawandels auf die biologische Vielfalt, die Boden- und Wasserqualität und die Anforderungen des globalen Marktes ausgesetzt. Die EU-Agrarpolitik hat sich in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verändert, um den Landwirten zu helfen, sich diesen Herausforderungen zu stellen und auf die sich ändernden Einstellungen und Erwartungen der Menschen zu reagieren.

Die Agrarpolitik der EU deckt ein breites Spektrum von Bereichen ab, darunter Lebensmittelqualität, Rückverfolgbarkeit, Handel und Förderung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen der EU. Das Prinzip dahinter funktioniert in etwa so: Die EU unterstützt ihre Landwirte finanziell, fördert nachhaltige und umweltfreundliche Praktiken und investiert gleichzeitig in die Entwicklung ländlicher Gebiete.

Die EU-Institutionen kooperieren bei der Gestaltung, Umsetzung, Überwachung und Bewertung der Lebensmittel- und Agrarpolitik. Nationale und lokale Behörden setzen die auf EU-Ebene vereinbarten Gesetze um. Über den EU-Haushalt werden den Mitgliedstaaten Mittel gemäß den auf EU-Ebene festgelegten Regeln zur Verfügung gestellt. Die EU überwacht auch, wie Gesetze angewendet werden oder wie wirksam sie sind, und koordiniert Änderungen.

Die EU gibt jährlich 59 Milliarden Euro für Agrarsubventionen aus. Die Top-5 der Agrarfirmen, die bisher die höchsten Agrarsubventionen erhalten haben, sind „Varios Beneficiarios” aus Spanien (etwa 642 Millionen Euro), „Tate & Lyle Europe” aus Spanien (etwa 594 Millionen Euro), „Avebe B.A.” aus den Niederlanden (etwa 532 Millionen Euro), „Tereos” aus Frankreich (etwa 356 Millionen Euro) und „Saint Louis Sucre” aus Frankreich (etwa 287 Millionen Euro).

Die Staats- und Regierungschefs der EU wenden sich mehrheitlich gegen Einschnitte beim Budget für die Agrarsubventionen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron stemmt sich gegen allzu strikte Beschränkungen des Budgets, weil er Einschnitte bei den Subventionen für seine Bauern abwenden will, so die dpa. EU-Länder im Osten und Süden wollen aus demselben Grund ebenfalls einen höheren Gesamtrahmen. Sie bekommen besonders viel aus den Strukturhilfen zur Förderung armer Regionen aus dem sogenannten Kohäsionsfonds. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sagt, für ihn seien Mittel für die Landwirtschaft sowie die Regionalförderung wichtig. Doch an diese Hilfen knüpft sich ein weiterer Streitpunkt. Sie sollen künftig gekoppelt werden an die Rechtsstaatlichkeit in den Empfängerländern.

Während des Kommunismus arbeiteten Bauern auf den Feldern, die sich kilometerweit um die Stadt Csakvar, die sich westlich von Budapest befindet, berichtet die New York Times. Heute arbeiten ihre Kinder für eine Gruppe von Oligarchen und politischen Gönnern, die das Land durch undurchsichtige Geschäfte mit der ungarischen Regierung annektiert haben. Sie haben eine moderne Variante eines Feudalsystems geschaffen, indem sie den „Konformen” Arbeitsplätze und Hilfe geben und die „Meuterern” bestrafen.

Diese Landbarone werden von der EU finanziert und ermutigt. Der 28-Länder-Block zahlt jedes Jahr Agrarsubventionen in Höhe von 59 Milliarden Euro im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) aus, um die Landwirte auf dem gesamten Kontinent zu unterstützen und die ländlichen Gemeinden am Leben zu erhalten. Dazu kommen einige Milliarden aus der Regionalförderung und anderen EU-Fonds. Außerdem zahlen die Mitgliedstaaten direkt aus den nationalen Budgets geschätzt weitere 15 Milliarden Euro. Es geht also um Beträge in der Größenordnung von 90 Milliarden Euro. In ganz Ungarn und in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas geht der Großteil jedoch an wenige mächtige Personen. Der tschechische Ministerpräsident hat erst im vergangenen Jahr Subventionen in zweistelliger Millionenhöhe gesammelt. Subventionen haben in der Slowakei und in Bulgarien zu Landraub im Mafia-Stil geführt.

Das europäische Agrarprogramm, ein System, das maßgeblich zur Bildung der EU beigetragen hat, wird jetzt von denselben antidemokratischen Kräften ausgenutzt, die den Block von innen bedrohen und als EU-Kritiker gelten. Dies liegt daran, dass Regierungen in Mittel- und Osteuropa, von denen einige von Populisten angeführt werden, einen weiten Spielraum bei der Verteilung der von Steuerzahlern finanzierten Subventionen in ganz Europa haben.

Eine Untersuchung der New York Times, die 2019 in neun Ländern durchgeführt wurde, ergab, dass das EU-Subventionssystem absichtlich undurchsichtig ist, die Umweltziele der EU grob untergräbt und von Korruption und Eigenverantwortung durchdrungen ist. Brüssel muss diese grobe Korruption ermöglichen, um die brüchige EU zusammenzuhalten. Sollte die EU-Kommission versuchen, dieses marode System zu ändern, würden die anti-europäischen Oligarchen in Ungarn und weiteren EU-Staaten nicht mehr von den Agrarsubventionen profitieren, was sie noch aggressiver machen würde. Am Ende würde eine totale Abkoppelung dieser Länder und ihren Oligarchen stehen.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs sind sich in vielen Dingen nicht einig, aber sie alle zählen auf großzügige Subventionen und einen weiten Ermessensspielraum bei ihren Ausgaben. Wenn man sich diesem System widersetzt, um Missbräuche in neueren Mitgliedstaaten einzudämmen, würde dies den politischen und wirtschaftlichen Reichtum sowie den Wohlstand auf dem gesamten Kontinent stören. Das Agrarsubventions-Programm ist mit 40 Prozent der Ausgaben der größte Posten im Zentralhaushalt der EU. Es ist eines der größten Förderprogramme der Welt.

Einige EU-Abgeordnete geben regelmäßig zu, dass sie nicht wissen, wohin die Agrarsubventionen fließen. Eine Untersuchung der Times ergab, dass der ungarische Premier Viktor Mihály Orbán europäische Subventionen nutzt, um sein Patronagesystem zu finanzieren. Er bereichert seine Freunde, um ihre Loyalität zu garantieren. Orbán hat Tausende von Hektar an staatlichen Landwirtschaftsflächen an seine Freunde und Familienmitglieder versteigert. Diejenigen, die das Land kontrollieren, haben wiederum Anspruch auf Subventionen in Millionenhöhe aus der Europäischen Union.

„Es ist ein absolut korruptes System”, sagt József Ángyán, der einst als Orbáns Sekretär für ländliche Entwicklung fungierte. Die EU gibt jedes Jahr dreimal so viel für Agrarsubventionen aus wie die USA, aber mit der Erweiterung des Systems hat die Rechenschaftspflicht nicht Schritt gehalten. Die nationalen Regierungen veröffentlichen einige Informationen über die Empfänger, aber die größten Nutznießer verstecken sich hinter komplexen Eigentümerstrukturen. Und obwohl die Landwirte teilweise aufgrund ihrer Anbaufläche bezahlt werden, werden die Eigentumsdaten geheim gehalten, was es schwieriger macht, Landraub und Korruption zu verfolgen.

Ein vom tschechischen Premierminister Andrej Babis gegründetes Unternehmen hat im Jahr 2018 Subventionen in Höhe von mindestens 38 Millionen Euro gesammelt. „Die Europäische Union zahlt einem Oligarchen, der auch Politiker ist, so viel Geld. Und was ist das Ergebnis? Sie haben den mächtigsten Politiker in der Tschechischen Republik und er wird vollständig von der EU unterstützt“, so Lukas Wagenknecht, ein tschechischer Senator und Ökonom, der früher für Babis gearbeitet hat.

In Bulgarien sind die Subventionen zum Wohl der landwirtschaftlichen Elite geworden. Die bulgarische Akademie der Wissenschaften hat festgestellt, dass 75 Prozent der wichtigsten europäischen Agrarsubventionen des Landes in die Hände von etwa 100 Unternehmen gelangen. Im Frühjahr 2019 führten die Behörden landesweit Razzien durch, bei denen korrupte Beziehungen zwischen Regierungsbeamten und landwirtschaftlichen Geschäftsleuten aufgedeckt wurden. Einer der größten Mehlproduzenten des Landes wurde wegen Betrugs im Zusammenhang mit den Subventionen angeklagt.

In der Slowakei hat der oberste Staatsanwalt die Existenz einer „landwirtschaftlichen Mafia” anerkannt. Kleinbauern haben berichtet, dass sie misshandelt und erpresst wurden, um ihnen ihre Ländereien wegzunehmen. Der Journalist Ján Kuciak wurde im Jahr 2018 ermordet, als er italienische Gangster untersuchte, die in den slowakischen Landwirtschaftssektor eingedrungen waren, von Subventionen profitierten und Beziehungen zu mächtigen slowakischen Politikern aufbauten.

In Sizilien hat die Mafia seit 2013 unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zehn Millionen Euro eingesackt. Die Mafia beantragte Agrarsubventionen für landwirtschaftliche Flächen, die überhaupt nicht in ihrem Besitz gewesen ist, sondern dem Staat gehörten. Die Gelder wurden über ein komplexes System von Konten – unter anderem in Litauen, Malta und Bulgarien – bewegt, um die Herkunft zu verschleiern, berichtet proplanta.

Das System der EU-Agrarsubventionen wird auch weiterhin undurchsichtig bleiben, weil Brüssel auf die Gunst der ost- und südeuropäischen Länder, die durchgehend mit dem Austritt aus der EU drohen, angewiesen ist.

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Cüneyt Yilmaz ist Absolvent der oberfränkischen Universität Bayreuth. Er lebt und arbeitet in Berlin.


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