Die Staats- und Regierungs-Chefs (und –Chefinnen) der EU-Staaten wollten am Donnerstag zeigen, dass die EU eine solidarische Gemeinschaft ist und alles dafür tut, um die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen des totalen Stillstands in der Corona-Krise zu bewältigen. In beiden Fragen gab es kein Ergebnis. Wobei: Ein Ergebnis gab es genaugenommen schon. Und zwar die Aufforderung an die EU-Kommission, sich doch bitte zu überlegen, wie die Gemeinschaft aus der schon Jahre währenden Krise finden kann – als ob es im Augenblick nichts Dringenderes gäbe, nämlich, wie oben schon angesprochen, die europäische Wirtschaft vor dem Kollaps zu bewahren. Aber das wäre dann wohl doch eine zu große Aufgabe.
Ein paar Fakten wurden allerdings schon geschaffen. Genehmigt wurde das 500-Milliarden-Paket, das die Finanzminister zwei Wochen zuvor geschnürt hatten. Der große Betrag soll beeindrucken, die Details zeigen aber, dass die Wirkung sich in bescheidenen Grenzen halten wird. Dabei wären 500 Milliarden Euro für den Anfang schon eine beträchtliche Summe, angesichts der Tatsache, dass mit einem Rückgang der EU-Wirtschaftsleistung von rund 1.500 Milliarden Euro zu rechnen ist.
Es geht um den Verlust von zehn Prozent der Wirtschaftsleistung
Diese 1.500 Milliarden wollte allerdings niemand offiziell zur Kenntnis nehmen – obwohl sie einfach zu berechnen gewesen wäre (stattdessen soll die EU-Kommission feststellen, welche Summe denn tatsächlich erforderlich ist, um den diskutierten „Wiederaufbaufonds“, „Recovery-Fund“ oder „Marschall-Plan“ zu dotieren). Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU insgesamt betrug zuletzt knapp 15.000 Milliarden Euro im Jahr. Das Jahr hat 365 Tage, der Stillstand dauert schon 40 Tage, also sind schon mehr als zehn Prozent der Zeit ungenützt verstrichen. Wirtschaft und Psychologie sind ein untrennbares Paar: Würde man nun auf der Stelle zur Normalität zurückkehren, gäbe es einen Motivationsschub und vieles wäre rasch aufzuholen. Da aber der „Shutdown“, wenn auch in leicht gemilderter Form, andauert, wird jetzt nicht „wieder in die Hände gespuckt“. Stattdessen werden die Unternehmen in den nächsten Monaten eine schlimme Krise durchmachen und nur wenig von dem, was in den letzten Wochen verloren wurde, wieder aufholen. Mit zehn Prozent der Wirtschaftsleistung von 15.000 Milliarden, also mit 1.500 Milliarden Verlust zu rechnen, ist folglich sehr realistisch.
Die Details des 500 Milliarden Euro-Pakets sind ernüchternd
Somit klingen die 500 Milliarden, die die Finanzminister verkündet haben, sehr gut. Das wäre immerhin ein Drittel der insgesamt rund 1.500 Milliarden Euro Gesamtverlust. Schaut man sich die Details an, setzt allerdings rasch Ernüchterung ein.
- 200 Milliarden Euro an Krediten soll die „Europäische Investitionsbank“ (EIB), das ist die Bank der EU-Kommission, für kleine und mittelständischen Unternehmen bereitstellen. Dies kann sie aber nur über die Banken dieser Unternehmen abwickeln. Also entsteht ein komplizierter und zeitraubender Verwaltungs- und Kontrollmechanismus. Und dieser mühsame Prozess würde sich zwischen der in Luxemburg ansässigen Bank und tausenden Kreditinstituten in ganz Europa abspielen.
Es klingt wie ein Treppenwitz. Vor kurzem hat der EU-Rechnungshof in einem vernichtenden Bericht die EIB wegen der verlustreichen Abwicklung von Förder-Milliarden gerügt, und jetzt soll die Bank als Retterin der mittelständischen Wirtschaft Europas auftreten.
- 200 Milliarden Euro wird der „Europäische Stabilitätsmechanismus“ (ESM) aufbringen. Der ESM wurde nach der Finanzkrise 2008 gegründet und gibt Staaten unter strengen Bedingungen Kredite. Die Auflagen sollen nun gelockert werden, damit das Geld zügig fließen kann. Allerdings werden schon Stimmen laut, die bestimmte Bedingungen an die Vergabe der Kredite fordern, etwa, dass ihre Empfänger sie nur für Investitionen in das Gesundheitswesen verwenden dürfen oder für grüne Projekte oder für die Entwicklung der Digitalisierung. „Normale“ Unternehmen sollen in die Röhre gucken.
- Das dritte Element besteht in einem Programm der EU-Kommission, das unter dem Titel SURE den EU-Mitgliedstaaten 100 Milliarden Euro Kredite zur Finanzierung von Kurzarbeit und der Existenzsicherung von Selbstständigen bereitstellen will. SURE steht für „Support to mitigate Unemployment Risks in an Emergency“.
Fazit: Die Staaten bekommen vom ESM und von der EU-Kommission zusammen 300 Milliarden Euro an Krediten. Es ist kein besonderes Kunststück, diese Gelder den gewünschten Bereichen zuzuordnen, da ohnehin das Gesundheitswesen, der Arbeitsmarkt, der Umweltschutz und die Digitalisierung in den Staatshaushalten berücksichtigt sind. Die Unternehmen bekommen eine weitere, mühsame Förderung als Ergänzung zu den vielen bereits bestehenden nationalen und europäischen Förderungen, die sowieso bereits bestehen. Man muss sich also nicht wundern, wenn die 500 Milliarden sich als Schimäre erweisen werden.
Die Unternehmen, die Selbstständigen und die Arbeitnehmer brauchen jetzt Geld in die Hand, rasch und unkompliziert
Was die Unternehmen, die Selbstständigen und die Arbeitnehmer jetzt wirklich brauchen, ist folgendes: Geld, und zwar rasch und unkompliziert. Und zwar nicht in Form von Krediten, die die Betroffenen jahrelang belasten und den Wiederaufbau behindern, sondern in Gestalt von Zuschüssen, die nicht zurückgezahlt werden müssen. In den vergangen sechs Wochen, und es werden noch weitere Wochen folgen, sind in zahllosen Betrieben keine Umsätze zustande gekommen, auch konnten keine Löhne und Gehälter bezahlt werden. Die Abwicklung der Zuschüsse muss auf einfache und unkomplizierte Art und Weise erfolgen, und zwar über die Finanzämter und die Sozialversicherung, die beide naturgemäß ständig mit sämtlichen Betrieben und allen Arbeitnehmern in Kontakt stehen.
Eins steht außer Frage: Statt in sinnlosen Konferenzen mit Milliarden zu jonglieren, sollten die Regierungen eine Formel erarbeiten, die für die Auszahlungen an die wirtschaftlichen Opfer des „Shutdowns“ anzuwenden wäre: Da werden der vergleichbare Umsatz und der erwirtschaftete Gewinn in Vorperioden eine wichtige Rolle als Orientierungsgrößen spielen müssen, um einen fairen Schadenersatz zu leisten.
Für die Arbeitnehmer bestehen über die Kurzarbeitsbestimmungen und das Arbeitslosengeld bereits Regelungen, die dem Prinzip der nicht rückzahlbaren Zuschüsse entsprechen. Allerdings mehren sich europaweit die Klagen, dass das Kurzarbeitsgeld lange auf sich warten lässt und meist nicht genügt. Auch das Arbeitslosengeld wäre in der aktuellen Situation aufzustocken. Das wichtige Argument gegen ein hohes Arbeitslosengeld, es würde nur die Annahme eines Jobs verhindern, ist in der aktuellen Situation kaum relevant.
Es ist durchaus realistisch, dass eine derart umfassende Hilfsaktion den Einsatz von 1.500 Milliarden Euro erfordert. Diese müssten von den Staaten aufgebracht und an die Unternehmen und Bürger verteilt werden. Vielleicht gelingt es angesichts der Dimension der Wirtschaftskrise die Korruption, die Bevorzugung von Liebkindern der Mächtigen und andere üble Tricks hintanzustellen.
Europäischen Querelen über die Aufbringung und Verwendung der Mittel
Wie auch immer die Wirtschaft aus der Krise geführt werden soll, sei es über europäische oder über nationale Maßnahmen, gelöst werden muss die Frage der Finanzierung.
Zur Diskussion stehen mehrere wenig überzeugende Varianten auf europäischer Ebene. Die Länder Spanien, Italien, Griechenland und Frankreich verlangen die Ausgabe von gemeinsamen Anleihen, für die alle haften. Dagegen wehren sich Deutschland, Österreich, die Niederlande und Dänemark, weil sie nicht die Schulden anderer zahlen wollen. Diese Diskussion hat leicht groteske Züge: Für die EU-Kommission, die EIB und den ESM garantieren die Mitgliedstaaten bereits, also sind deren Anleihen im Endeffekt sowie schon gemeinsame Anleihen, also „Euro-Bonds“.
Zweite Groteske: Die Europäische Zentralbank hat bereits rund 2.000 Milliarden Staatsanleihen in ihrem Bestand und hat beschlossen, weitere 750 Milliarden zu übernehmen. Wenn die Staaten zahlungsunfähig werden, ist die EZB ruiniert und muss von den Mitgliedstaaten gerettet werden.
Wenn man vernünftigerweise vermeiden will, dass Länder in den Strudel der Pleite anderer Länder gezogen werden, hätte man also längst auf die Bremse steigen müssen. Diese Form der „Solidarität“ ist in den EU-Verträgen sogar durch die Nichtbeistandsklausel im Art. 125 verboten, doch ist diese Regel wirkungsl
Als sich zeigte, dass der Streit über gemeinsame Anleihen nicht beizulegen ist, rückte die EU-Kommission in den Vordergrund. Diese möge einen Fonds verwalten, der an das übliche Budget der EU-Kommission anzudocken wäre und aus dem Förderungen in der gesamten EU verteilt werden sollen.
Die Absurdität ist erschreckend: Man muss sich nur die Praxis der EU-Stellen bei der Abwicklung der bisherigen Förderungen ansehen, um zu erkennen, dass auf diese Art keine Ergebnisse zu erzielen sind. Von der Landwirtschaft über die Förderung der Regionen, die Anhebung des wirtschaftlichen Niveaus in den ärmeren Ländern bis hin zur Forschung, erstreckt sich eine lähmende, ineffiziente Bürokratie. Und diese soll nun den Wiederaufbau nach dem Shutdown verwalten.
Aus Brüssel kam schon ein erster Vorschlag, der allerdings zeigt, dass man sich in der Kommission über die Dimension nicht im Klaren ist. Zur Debatte steht eine Aufstockung des derzeit etwa 150 Milliarden Euro umfassenden Jahres-Budgets um weitere 150 oder 300 Milliarden; von den notwendigen 1.500 Milliarden oder, wenn man das 500 Milliarden Euro-Paket der Finanzminister ernst nimmt, von 1.000 Milliarden Euro, ist man also weit entfernt.
Am Rande bemerkt: Für alle Budgets der Kommission haften alle Mitgliedsländer, also ist auch hier die umstrittene Vergemeinschaftung gegeben. Mehr noch: Die Kommission darf für sich selbst keine Schulden machen, also müssen bei Bedarf die Mitglieder zusätzliche Zahlungen leisten.
Für die Legitimierung eines neuen Fonds, der über die Ausgabe von Anleihen finanziert werden müsste, wurde eine Stelle in den Verträgen, Artikel 122, Absatz 2, gefunden: „Bei außergewöhnlichen Ereignissen kann die Union einem Land in Schwierigkeiten Beistand leisten.“ Also kann die drei Artikel weiter, im Art. 125, verankerte Nichtbeistandsklausel ausgehebelt werden.
Die einzelnen Staaten müssen trotz der bestehenden hohen Schulden weitere Anleihen ausgeben. Die EZB ist zur Übernahme bereit.
Wollen die Regierungen ernsthaft die Krise rasch und effektiv überwinden, so müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass auf europäischer Ebene keine brauchbaren Lösungen zustande kommen. Weder das 500 Milliarden-Paket noch der vielleicht irgendwann geschaffene „Recovery-Fund“ sind brauchbaren Ansätze. Die einzelnen Staaten müssen selbst Anleihen auflegen und mit den Mitteln rasch den Unternehmen und den Arbeitnehmern das erforderliche Geld in die Hand geben.
Die Ausgabe der Anleihen wird von den überschuldeten Staaten Spanien, Italien, Griechenland und Frankreich als Problem gesehen. Durch die geforderten Euro-Bonds, die auch als „Corona-Bunds“ bezeichnet werden, soll ein weiteres Anwachsen des eigenen Schuldenbergs vermieden werden. Diese Kosmetik ist nicht durchzusetzen, also werden die Staaten in den letztlich gar nicht so sauren Apfel beißen müssen.
In der EU-Kommission hat der Eifer bei der Bekämpfung von Staatsdefiziten und Schulden im Gefolge von Corona ohnehin nachgelassen. Die EZB hat bereits die Übernahme von zusätzlichen 750 Milliarden Euro im Rahmen eines so genannten „Pandemic Emergency Purchase Programme“ beschlossen. In den bestehenden Ankaufprogrammen ist noch Spielraum, sodass die EZB 1.000 Milliarden Euro an die Staaten adressiert. Durch die Garantie aller EU-Staaten könnten diese im Markt platziert werden und müssten nicht von der EZB übernommen werden. Folglich stünden schon 1.300 Milliarden zur Verfügung, die Aufstockung auf 1.500 Milliarden sollte also keine größeren Schwierigkeiten machen.
Die Ausgabe von „ewigen Anleihen“ rückt schon seit Tagen in der Diskussion stark in den Vordergrund. Die Länder müssten nur die Zinsen bezahlen, es kommt nie zu einer Rückzahlung, die Anleger hätten einen dauernden Ertrag. Geredet wird von drei Prozent Zinsen im Jahr. Dieses Instrument wurde in Krisenzeiten schon öfter mit Erfolg angewendet.
Europa sieht sich also in einem grotesken Paradoxon gefangen. Für die an und für sich gigantische Aufgabe, die Wirtschaft nach dem Shutdown in der Corona-Krise wieder in Gang zu bringen, gibt es brauchbare und umsetzbare Lösungsansätze. Allerdings sind offenbar alle so tief in innen-und europapolitischen Querelen versunken, dass sie weder zu einer brauchbaren gemeinsamen noch zu einer brauchbaren nationalen Politik finden.