Saudi-Arabien steckt aktuell in der tiefsten Krise seit seiner Staatsgründung 1932. Wie groß die Probleme sind, zeigte sich am vergangenen Wochenende an drei aufeinanderfolgenden Tagen.
Zunächst stufte am Freitag die Ratingagentur Moody’s die Aussichten für die Staatsfinanzen von stabil auf negativ herab. Am Samstag dann verkündete Finanzminister al-Dschadan, im Staatshaushalt würden neun Milliarden Dollar fehlen, weswegen er gezwungen sei, die Ausgaben „scharf zu reduzieren“ und bis zu sechzig Milliarden US-Dollar Schulden aufzunehmen. Am Sonntag schließlich stürzte die Börse in Riad um knapp sieben Prozent ab.
Die Aussichten für das einst wohlhabendste Land der Erde haben sich seit Jahresbeginn dramatisch verschlechtert. Die Wirtschaft wird in diesem Jahr möglicherweise zweistellig schrumpfen, es droht ein Rekorddefizit in Höhe von 112 Milliarden Dollar. Durch den Sturz des Ölpreises im März sind die staatlichen Öl-Einnahmen um mehr als die Hälfte gesunken, die Devisenreserven der Zentralbank nehmen zurzeit um 27 Milliarden Dollar pro Monat ab.
Auch der Lockdown infolge der Corona-Pandemie fordert seinen Preis, da alle Pilgerreisen seit Wochen ausgesetzt sind. Der Kurs des erst im Dezember 2019 an die Börse gegangenen Staats-Konzerns Saudi-Aramco ist innerhalb von vier Monaten um circa 15 Prozent gefallen und sorgt unter Investoren zunehmend für Unbehagen.
Die grundlegenden Probleme existieren schon länger
Das aber sind nur die aktuellen Probleme Saudi-Arabiens. Den Verantwortlichen bereitet der langsame Niedergang des Landes bereits seit Jahren Kopfzerbrechen. Da Riad zur Deckung seiner Haushaltskosten einen Ölpreis von etwa 74 US-Dollar pro Barrel braucht – ein Wert, der in den vergangenen fünf Jahren nur an wenigen Tagen erreicht wurde – und sich die Reserven in den kommenden Jahrzehnten ohnehin erschöpfen werden, versucht die saudische Führung seit Längerem mit aller Macht, sich aus der Abhängigkeit vom Öl zu befreien.
Das aber gestaltet sich aus mehreren Gründen schwierig. Zum einen befindet sich das Land in der Hand eines diktatorisch herrschenden, verschwendungssüchtigen Königshauses, dessen führende Vertreter sich in den letzten Jahren immer offenere Machtkämpfe liefern und folglich keinen einheitlichen politischen Kurs einschlagen können. Zum anderen hat sich vor allem unter der jüngeren Bevölkerung eine Opposition gebildet, die nicht einsieht, dass sie das mittelalterliche Regime noch länger dulden soll und die deshalb mit Nachdruck auf eine Demokratisierung nach westlichem Muster pocht.
Zwar ist es dem Königshaus bisher immer gelungen, soziale Proteste aller Art durch finanzielle Zugeständnisse an seine Untertanen aufzufangen, doch angesichts der sich verschlechternden Haushaltslage wird diese Politik immer schwieriger. Das liegt nicht nur am Ölpreis und der Corona-Krise, sondern auch an den explodierenden Ausgaben für den Jemenkrieg, der das Land seit 2015 Unsummen kostet und ganz offensichtlich nicht zu gewinnen ist.
Um aus diesem Dilemma herauszukommen, hat der derzeit regierende Prinz Mohammed bin Salman 2017 versucht, das Zukunftsprojekt „Neom“ auf den Weg zu bringen. Auf einem Gebiet von der Größe Mecklenburg-Vorpommerns soll bis 2030 im Rahmen einer unabhängigen Wirtschaftszone ein gigantischer Technologiepark entstehen, der über ein eigenes Rechts- und Steuersystem verfügt und für den Investitionen in Höhe von 500 Milliarden US-Dollar geplant sind.
Bisher ist allerdings noch wenig Konkretes passiert, denn neben den eigenen finanziellen Problemen gibt es einen weiteren Faktor, der dem Herrscherhaus seit Längerem erheblich zu schaffen macht: die Geopolitik und das daraus resultierende zunehmende politische und weltwirtschaftliche Ungleichgewicht.
Der Petrodollar-Deal
Im Sommer 1974 hatten US-Präsident Nixon und sein Außenminister Henry Kissinger ein Geheimabkommen mit dem saudischen Königshaus abgeschlossen, das die beiden Nationen noch enger als zuvor zusammenschweißte. Während die USA sich zu unbegrenzten Waffenlieferungen und zum Schutz Saudi-Arabiens vor seinen Erzfeinden Israel, Iran und der libanesischen Hisbollah verpflichteten, sagten die Saudis damals zu, innerhalb der OPEC dafür zu sorgen, dass Öl – die meistgehandelte Ware der Welt – künftig nur noch in US-Dollar gehandelt würde.
Der Deal, der erst Jahre später bekannt wurde, brachte beiden Seiten erhebliche Vorteile: Den USA nützte er, da er den US-Dollar nach der Abkoppelung vom Gold 1971 und dem Zerfall des Bretton-Woods-Systems sowie der Aufgabe fester Wechselkurse 1973 wieder an einen realen Wert band und ihm so auch weiterhin den Status der weltweit wichtigsten Reservewährung sicherte.
Den Saudis verhalf der Deal zu riesigen Mengen an US-Dollars, die es ihnen ermöglichten, überall auf der Welt zu investieren und sich von amerikanischen Rüstungsfirmen mit den modernsten Waffensystemen ausstatten zu lassen.
Die für beide Seiten profitabelste Vereinbarung bestand jedoch darin, dass die Saudis einen Großteil der Dollars, die ihnen die USA für ihr Öl zahlten, in die USA zurückfließen ließen, indem sie amerikanische Staatsanleihen kauften. Auf diese Weise halfen sie Washington, die kostspieligen US-Kriege im Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien zu finanzieren.
Die Win-win-Situation hielt über Jahrzehnte an. Doch dann änderte sich die geopolitische Landschaft, weil mit der VR China ein neuer globaler Wirtschaftsgigant entstand, der seinerseits strategische Interessen anmeldete und dessen unaufhaltsames Wachstum zu einer immer größeren Bedrohung für die globale Vormachtstellung der USA wurde.
Hinzu kam für die Saudis ein weiteres Problem, denn mit der Jahrtausendwende setzte in den USA ein immer größerer Boom im Bereich des Fracking ein, der dazu führte, dass der große Verbündete sich nach und nach vom Öl-Importeur zum Öl-Exporteur entwickelte und nicht mehr auf Nachschub aus Saudi-Arabien angewiesen war.
Die Neue Seidenstraße als Bedrohung der globalen US-Hegemonie
Die wichtigste Veränderung aber nahm ab 2013 ihren Lauf, als China mit dem größten Wirtschaftsprojekt in der Geschichte der Menschheit begann – dem Bau der Neuen Seidenstraße. Innerhalb weniger Jahre zeichnete sich ab, dass die Vereinigung Asiens, des Nahen Ostens und Europas zu einem einzigen großen Wirtschaftsraum das weltweite Machtgefüge von Grund auf verändern würde.
Während die USA sich dem Projekt unter Präsident Barack Obama mit ihrer Politik des „Pivot to Asia“ (Hinwendung zu Asien) entgegenstemmten und versuchten, es durch ständige wirtschaftliche und militärische Provokationen zu torpedieren, setzte sein Nachfolger Donald Trump zunächst auf die Erhebung von Zöllen und Tarifen und versuchte das Projekt vor allem dadurch zu stören, dass er den Atomvertrag mit dem Mullah-Regime im Iran kündigte und sich demonstrativ an die Seite Israels stellte. Hintergrund war die strategische Überlegung, dass es sich beim Iran um den neuralgischen Punkt des Seidenstraßen-Projektes handelt, da das Land einerseits als Nadelöhr zwischen dem Kaspischen Meer und dem Persischen Golf liegt und andererseits wegen seiner Erdöl- und Erdgasvorräte zu seinem wichtigsten Energielieferanten werden soll.
Doch Trumps Plan ging nicht auf. Im Gegenteil: Er trieb den Iran noch fester in die Hände seines neuen Verbündeten China, der im Sommer 2019 damit begann, dem Mullah-Regime größere Mengen Erdöl abzukaufen, diese in Yuan zu bezahlen und dem Petrodollar so ganz offen den Rücken zu kehren. Und nicht nur das: Während die US-Regierung im März mit dem Lockdown zu kämpfen hatte und erste Versuche unternahm, China die Schuld für das Virus in die Schuhe zu schieben, schraubte das Regime in Beijing die Erdölimporte aus Saudi-Arabien zurück und erhöhte stattdessen die Importe aus Russland um dreißig Prozent.
Versucht China, einen saudischen Kurswechsel zu erzwingen?
Bedenkt man, dass China 2018 und 2019 auch schon saudisches Öl in Yuan bezahlt und dem Königreich so zu verstehen gegeben hat, dass es an einer Partnerschaft interessiert wäre, drängt sich der Gedanke auf, dass hinter der Reduktion der Importe aus Saudi-Arabien eine klare Absicht stecken könnte. Sollte Beijing vielleicht versuchen, Prinz Mohammed bin Salman zu einem Zeitpunkt, da er ohnehin mit riesigen Problemen zu kämpfen hat, unter Druck zu setzen, um ihn zu veranlassen, sich aus dem Bündnis mit den USA zu verabschieden und sich der Volksrepublik zuzuwenden?
Ob das tatsächlich der Fall ist und was in den kommenden Wochen und Monaten geschehen wird, kann momentan niemand mit Bestimmtheit sagen. Aber das Säbelrasseln der USA und die immer lauteren Kriegsdrohungen gegen China und den Iran dürften dafür sorgen, dass dem saudischen Herrscherhaus nicht allzu viel Zeit bleibt, sich zu überlegen, für welche der beiden Seiten es sich entscheiden soll. Wie auch immer diese Entscheidung ausfallen wird - sie trägt einen für den Nahen Osten und den Rest der Welt zukunftsweisenden Charakter.