Im Verlauf der Corona-Krise konnte man in Gesprächen mit nicht wenigen Bürgern immer wieder das Argument hören, dass das Corona-Virus „nicht wirklich so schlimm“ sei, zumal sich unter den Corona-Toten vor allem Senioren befänden. Dann wird das Argument gebracht, dass der betroffene Senior nicht an, sondern „mit“ Corona verstorben sei, um anzudeuten, dass der Betroffene „ohnehin“ verstorben wäre.
Zum 2. Juni 2020 stieg die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit dem Corona-Virus in Deutschland auf 8.522. 1.553 der Verstorbenen waren zwischen 90 und 99 Jahre alt, 3.813 waren zwischen 8o und 89 Jahre alt, 1.910 waren zwischen 70 und 79 Jahre alt, 802 waren zwischen 60 und 69 Jahre alt und die restlichen 444 waren jünger, wie aus Berechnungen von Statista hervorgeht.
Die Aussage, dass es sich bei den Corona-Toten mehrheitlich um Menschen im hohen Alter handelt, ist richtig. Das Argument, dass die Corona-Pandemie deshalb „nicht wirklich so schlimm“ sei, ist hingegen nicht nur ein menschenverachtender Ansatz, sondern führt uns vor Augen, dass unsere Gesellschaft von Grund auf kaputt ist. Das Fundament ist nicht in etwa morsch, sondern schlichtweg nicht vorhanden.
Wir erleben derzeit schwere Zeiten. Es ist unklar, wie sich die Corona-Krise langfristig auf unseren Wohlstand auswirken wird. Wir wissen auch nicht, ob - vielleicht massive - Steuererhöhungen drohen.
Aber nicht soziale Armut oder wirtschaftliche Schwäche ist unser Problem, sondern Gleichgültigkeit. Das ist das Problem unserer Tage. Wie ausgeprägt diese Gleichgültigkeit ist, lässt sich an den Ansichten im Zusammenhang mit den schrecklichen Schicksalen unserer Alten und Schwachen sehen. Doch auch diejenigen, die Mitleid empfinden, tun dies mit einer gewissen Distanz – als ob irgendwo in einem fernen Land etwas Gruseliges stattfindet. Dabei sterben jene Menschen in unserer direkten Nachbarschaft weg, denen wir all unseren Wohlstand und unsere Sicherheit zu verdanken haben.
In einer Gesellschaft, in der aufgrund der Zerstörung der familiären Strukturen alte Menschen nicht selten weggesperrt werden, kann es keine Verbindung zwischen Alt und Jung geben. Und von diesem Trend ist nicht nur Deutschland betroffen. Wir sprechen hier über ein weltweites Phänomen, das überall auftritt.
Ich weiß nicht, ob es jedem bewusst ist, aber wir reißen als Gesellschaft jene wertvollen Brücken ab, die unsere Gegenwart mit unserer Vergangenheit verbinden. Diese Misere bestand auch vor der Corona-Krise. Doch ihren Höhepunkt erreichte sie während der Corona-Krise.
Das grundsätzliche Problem unserer Gesellschaft ist, dass wir unseren Alten das Gefühl geben, sie seien wirtschaftlich wertlos. Dieses Gefühl wird nicht artikuliert, doch wir zeigen es ihnen mit unseren Handlungen. Die Senioren werden nicht selten dem Zwang zur Rechtfertigung ihres Daseins ausgesetzt.
Dabei sollte es unsere Aufgabe sein, sehr viel Geduld aufzubringen, um die Vermittlung dieses Gefühls zu verhindern. Es sollte mindestens dieselbe Geduld sein, mit der sie uns aufgezogen haben.
Unsere Alten sind kein Kostenfaktor, sondern der kostbarste Faktor unseres Daseins!