Politik

Staaten bilden gemeinsame Abwehrfront: Ist Corona der entscheidende Schritt zur europäischen Einigung?

Lesezeit: 3 min
12.07.2020 11:00
DWN-Gastautor Daniel Gros stellt eine provokante These auf: Das Projekt "Europa" habe durch Corona an Fahrt gewonnen - schließlich habe der Umgang mit der Krise gezeigt, wie ähnlich sich die einzelnen Staaten seien.
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Hannover: Ein Roller in den Farben der italienischen Flagge. (Foto: dpa)
Foto: Ole Spata

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Noch vor ein paar Monaten sah es aus, als könne die COVID-19-Pandemie, im Verbund mit der durch sie verursachten Wirtschafts- und Finanzkrise, die Europäische Union zerbrechen. Die Mitgliedsstaaten hatten ihre nationalen Grenzen geschlossen und jede Abstimmung untereinander abgelehnt; einige stoppten sogar die Ausfuhr dringend benötigten medizinischen Geräts in EU-Partnerländer. Inzwischen jedoch sind die EU-Binnengrenzen wieder offen, medizinische Geräte können ohne Einschränkungen über Ländergrenzen transportiert werden, und die Mitgliedsstaaten haben sich auf beispiellose Maßnahmen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie geeinigt. Worauf ist diese bemerkenswerte Wende zurückzuführen?

Die EU wird häufig als bunter Haufen kleiner bis mittelgroßer Länder dargestellt, die unfähig sind, sich über irgendetwas zu einigen. Doch die Entwicklung wirtschaftlicher und epidemiologischer Kennzahlen während der COVID-19-Krise verlief länderübergreifend bemerkenswert ähnlich, was nahelegt, dass sie sich, wenn grundlegende politische Entscheidungen anstehen, doch nicht so stark unterscheiden.

Beginnen wir mit den epidemiologischen Daten. Zwar unterscheiden sich die COVID-19-Infektions- und Sterberaten zwischen den EU-Ländern deutlich; in Deutschland und den meisten nördlichen und östlichen Mitgliedsstaaten verlief die Entwicklung viel besser als in Italien, Spanien und Frankreich (von Großbritannien gar nicht zu reden). Doch haben nahezu alle ihre Infektionsraten auf ausreichend niedrigem Niveau stabilisiert, sodass lokale Krankheitsausbrüche unter Kontrolle gehalten werden können. Dies gelang durch die Umsetzung verbindlich vorgeschriebener Abstandsregeln, die erst aufgehoben wurden, nachdem das Virus unter Kontrolle gebracht war.

Die einzige Ausnahme ist Schweden, wo sich die Politik entschied, es der Bevölkerung zu überlassen, die erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen freiwillig zu ergreifen. Bisher hat dieser Ansatz (um es freundlich auszudrücken) wenig beeindruckende Ergebnisse hervorgebracht. Schweden weist nicht nur eine viel höhere Sterberate auf als seine nordischen Nachbarn; auch seiner Wirtschaft erging es alles andere als gut.

Selbst mit dieser Ausnahme – die weniger als drei Prozent der EU-Bevölkerung betrifft – sind die Ergebnisse europaweit sehr viel einheitlicher als beispielsweise in den USA. Dort sind zwar einige Staaten der Ostküste, darunter New York und New Jersey, dem „europäischen“ Muster gefolgt: einem steilen Anstieg der Infektions- und Todeszahlen, gefolgt von

strengen Abstandsregeln oder Ausgangssperren, durch die sich die Infektionsraten auf niedrigem Niveau stabilisiert haben. Andere Staaten jedoch – wie Arizona, Kalifornien, Florida und Texas – waren weniger bereit, strenge Abstandsregeln durchzusetzen (oder aufrechtzuerhalten), selbst als die Infektionsraten Rekordstände erreichten. Und das, obwohl die USA über eine leistungsstarke Bundeseinrichtung – die „Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention“ (CDC) – verfügen, die dem gesamten Land Orientierungshilfe bieten kann. Und das, obwohl die USA ein einheitlicher Staat sind.

Die EU dagegen hat keine „Bundesbehörde“, welche die Mitgliedsländer drängte, einheitliche Regeln zu befolgen. Und sie ist nur ein Staatenbündnis, kein einheitlicher Staat. Dennoch folgten die meisten nationalen Regierungen instinktiv einem ähnlichen Kurs, der sich an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte. Dieser Ansatz spiegelte ähnliche Perspektiven wider. Die Gouverneure der US-Einzelstaaten gingen nicht so vor; der Grund hierfür sind starke Unterschiede bei den politischen Präferenzen und Perspektiven, die sich auch auf das Vertrauen in Wissenschaft und Expertentum erstrecken.

Die gesamtwirtschaftlichen Daten erzählen eine ähnliche Geschichte. Vor der Pandemie war die Arbeitslosigkeit in den USA sowohl niedriger als auch gleichmäßiger verteilt. Jetzt nicht mehr. Im Mai stieg die landesweite Arbeitslosenquote steil auf über 13 Prozent an. Das ist fast doppelt so viel wie der EU-Durchschnitt von 6,7 Prozent, der während der Krise kaum gestiegen ist.

Noch überraschender ist, wie ungleich die Arbeitslosigkeit in den USA inzwischen verteilt ist – viel stärker als in der EU. So liegt Nevadas Arbeitslosenquote inzwischen bei 25 Prozent – die höchste aller 50 Bundesstaaten –, während Nebraskas nur etwa fünf Prozent beträgt. Das entspricht dem Unterschied zwischen Griechenland und Deutschland.

Doch so unterschiedlich das Arbeitslosenniveau in der EU auch ist: Alle EU-Länder haben es geschafft, einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu vermeiden – auch dies aus Gründen der Perspektive. Alle EU-Mitgliedsstaaten haben sich entschlossen, Subventionen für Kurzarbeit einzuführen oder auszuweiten; dabei unterstützt der Staat die Unternehmen finanziell, damit sie ihre Arbeitnehmer weiterbeschäftigen, obwohl die Produktion zurückgefahren wurde.

Das Ziel bestand darin, es mittelständischen und großen Industrieunternehmen zu ermöglichen, Fachkräfte – oder „firmenspezifisches Humankapital“ – während der vorübergehenden Erschütterung zu halten. Auf diese Weise konnten die Unternehmen die Produktion nach dem Ende der Beschränkungen und dem Einsetzen der Erholung rascher wieder aufnehmen.

Derartige Programme haben natürlich einen wesentlichen Nachteil: Es können dabei Arbeitsplätze subventioniert werden, die langfristig keine Zukunft haben. Doch geht es mir hier nicht darum, ob das die beste politische Entscheidung war. Was zählt, ist, dass jeder EU-Mitgliedsstaat dieselbe Entscheidung getroffen hat (die Arbeitsmarktregeln fallen nach wie vor in die eifersüchtig gehütete Kompetenz der Nationalstaaten, weshalb die EU ihnen keine Vorschriften hätte machen können, selbst wenn sie es gewollt hätte).

Weitere wichtige Maßnahmen auf EU-Ebene sind mittlerweile eingeleitet. Die jüngste deutsch-französische Vereinbarung zur Einrichtung eines Wiederaufbau-Fonds im Umfang von 500 Milliarden Euro ist dabei ein „Game Changer“, denn sie erlaubt es der EU, erstmals Schulden aufzunehmen und die bedürftigsten Länder durch Transferleistungen zu unterstützen.

Diese Vereinbarung wäre schon für sich genommen ein bedeutender Fortschritt. Doch sollte man sie nicht bloß als Reaktion auf eine verzweifelte Lage auffassen, sondern als Reflektion weithin geteilter Werte und Ansichten. Trotz der damit verbundenen Tragödie hat die COVID-19-Krise eine grundlegende Wahrheit über die EU aufgezeigt: Ihre gemeinsamen Bande reichen deutlich über Verträge und die Eigeninteressen der Mitgliedsstaaten hinaus.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Daniel Gros ist Direktor des "Centre for European Policy Studies".

Copyright: Project Syndicate, 2020.

www.project-syndicate.org

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Daniel Gros ist Direktor des "Centre for European Policy Studies".


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