Milton Friedman sagte 1991 in einer Rede: „Politische Freiheit hat die Tendenz, die wirtschaftliche Freiheit zu zerstören.“ Friedman (1912 – 2006) ist nicht irgendein Ökonom, ja, er ist nicht irgendein Nobelpreisträger. Als einer der Hauptarchitekten und Vordenker des heute fast weltweit verbreiteten Neoliberalismus dürfte der US-Amerikaner der einflussreichste Ökonom der letzten 50 Jahre sein. Seiner oben aufgeworfenen These soll im Folgenden nachgegangen werden, aber unter umgekehrtem Vorzeichen: Hat eine neoliberale, wenig regulierte, kaum sozial ausgeprägte Marktwirtschaft die Tendenz, die politische Freiheit und die Demokratie zu zerstören?
Demokratie und Neoliberalismus: Geht das zusammen?
Angesichts der Freiheits-Einschränkungen im Zuge der Corona-Maßnahmen stellt sich diese Frage heute sehr viel dringender als früher: Ist freiheitliche Demokratie mit neoliberaler Marktwirtschaft vereinbar? Meine Antwort: nein. Die freiheitseinschränkenden Corona-Maßnahmen zeigen wie im Vergrößerungsglas lediglich eine Entwicklung auf, die im Hintergrund schon lange im Gange war, sie beschleunigen nur diesen Trend und spitzen ihn zu. Es dürfte daher kein Zurück zum status quo ante geben, kein Zurück zu den Jahren vor 2020.
Zunächst soll der Begriff „neoliberale Marktwirtschaft“ präzisiert werden. Er wird im Folgenden im Sinne von Milton Friedman verwendet, der auch häufig schlicht von „Kapitalismus“ spricht. Damit ist eine möglichst wenig ins Marktgeschehen eingreifende Wirtschaftspolitik gemeint, was vor allem Steuersenkungen, Deregulierung und Sozialabbau bedeutet sowie für Unternehmen das ausschließliche Verfolgen des Gewinnmaximierungsprinzips (shareholder value) ohne Rücksichtnahme auf gesellschaftliche Belange durch Konzernlenker, denn das, so Friedman, „schadet den Fundamenten einer freiheitlichen Gesellschaft“. Man könnte auch vom Modell einer „Laissez-Faire-Marktwirtschaft“ sprechen.
Es ist also im Folgenden ausdrücklich NICHT die Rede von „Sozialer Marktwirtschaft“, sondern von einer Wirtschaftsordnung mit einem möglichst schwachen, möglichst wenig eingreifenden Staat, in dem so viel wie möglich privatisiert und so viel wie möglich den Marktkräften überlassen ist. Eine Wirtschaftspolitik mit dieser Grundausrichtung haben wir seit den 1980-er Jahren praktisch weltweit gesehen.
Diese Art neoliberale, kapitalfreundliche Wirtschaftsordnung führt zu Geld- und Kapitalströmen, die langfristig nicht nur unsere freiheitliche Demokratie schwächen, sondern sie zuletzt zerstören müssen. Und das geschieht auf folgende Weise.
5oo Milliarden fürs Nichtstun
In jedem Produktpreis ist ein so genannter Kapitalanteil enthalten. Ein Beispiel: Im Brotpreis steckt eine Kompensation für den Bodeneigentümer und die Kapitalgeber. Jedes Mal, wenn wir Brot kaufen, fließt ein bestimmter Anteil des Kaufpreises an die Eigentümer von Boden und Kapital (zum Beispiel für den Traktor, die Mühle, den Backofen) in Form von Pachten, Mieten, Dividenden oder Gewinnen und Zinsen. Das gilt für alle Produkte und Dienstleistungen, die wir kaufen. Der größte Teil dieser Zahlungen sind so genannte leistungslose Einkommen, also Einnahmen, die man bekommt, ohne dafür arbeiten zu müssen. Diese Einkünfte bezeichnen die Ökonomen als „Renten“; das sind Einnahmen, denen keine Arbeitsleistung gegenübersteht, also leistungslose Einkommen, die man einfach dafür erhält, dass man Vermögen besitzt.
Diese leistungslosen Einkommen belaufen sich in Deutschland auf über 500 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist sehr viel Geld. Zum Vergleich: Der deutsche Bundesfinanzminister hatte vor Corona im Jahr ungefähr 340 Milliarden Euro zur Verfügung, also deutlich weniger. Bezogen auf die Konsumausgaben der privaten Haushalte von gut 1.700 Milliarden Euro beträgt die Abgabenquote der privaten Haushalte an die Vermögens-Eigentümer beziehungsweise Rentiers also etwa 30 Prozent. Jeder von uns zahlt also täglich Dividenden, Mieten, Pachten und Zinsen in Höhe von einem Viertel bis ein Drittel des Preises der Produkte und Dienstleistungen an die Bezieher dieser leistungslosen Einkommen, auch wenn wir keinen Kredit bei der Bank aufgenommen haben und in den eigenen vier Wänden, also nicht zur Miete, wohnen.
An wen fließt dieser riesige Geldstrom von über 500 Milliarden Euro pro Jahr? Der größte Teil, nämlich etwa 80 Prozent, fließt an die wohlhabendsten 20 Prozent der Bundesbürger, denn diese besitzen etwa 80 Prozent des deutschen Nettovermögens – das ist Vermögen abzüglich Schulden –, während die unteren 50 Prozent der Bundesbürger zusammen so gut wie kein Nettovermögen haben. Das sind die offiziell von der deutschen Bundesregierung verwendeten Zahlen. Frau von der Leyen sagte 2013 als Sozialministerin, die untere Hälfte der Bundesbürger besitze ein Prozent des Gesamtvermögens. Weltweit betrachtet ist die Ungleichverteilung noch stärker. Ein Prozent der Erdbevölkerung besitzen gut die Hälfte des globalen Vermögens, den oberen 10 Prozent gehören 85 Prozent. Es findet also im täglichen Leben ständig eine verdeckte Umverteilung durch leistungslose Zahlungsströme statt, die von allen Menschen zu vergleichsweise wenigen Menschen fließen, sozusagen eine Umverteilung „von fleißig nach reich“.
Wer hat, dem wird gegeben
Mit anderen Worten: Wir haben in Deutschland (genauso wie in praktisch allen anderen Ländern) eine perfekt, geräuschlos und höchst effizient arbeitende Reichensteuer. Nur ist sie das genaue Gegenteil von dem, was gemeinhin unter diesem Begriff verstanden wird. Die Reichensteuer funktioniert nämlich so: Alle zahlen ständig an die Reichen. Jedes Mal, fließen etwa zehn Prozent der Kaufsumme an die reichsten ein Prozent der Bevölkerung und knapp zwanzig Prozent an das obere Bevölkerungsdrittel. Weltweit betrachtet ist der Anteil sogar noch etwas höher. Ob wir es wollen oder nicht, ob wir es wissen oder nicht, spielt dabei keine Rolle.
Durch diese täglichen verdeckten Geldströme von allen zu wenigen werden die wenigen langsam, aber sicher, immer reicher, wenn eine Regierung nichts dagegen unternimmt, sondern eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt, also beispielsweise relativ niedrige oder keine Kapital-, Vermögens-, Erbschafts- und Bodensteuern erhebt oder die Einkommenssteuern senkt. Eine politisch gewollte Laissez-Faire-Marktwirtschaft führt automatisch zu zunehmender Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen. Und genau dieses Phänomen können wir fast weltweit seit den 1980-er Jahren beobachten. Dadurch werden die Milliardäre automatisch immer mehr und bekommen immer höhere Anteile am Gesamtvermögen. Beispielsweise haben heute die zehn reichsten US-Amerikaner einen ebenso hohen Anteil am Gesamtvermögen (knapp ein Prozent) wie 1982 die reichsten 400. Der Konzentrationsprozess hat also enorm zugenommen, hat sich ver-40-facht.
Wie die Milliardäre unsere Demokratie aushöhlen
Umverteilung von unten nach oben bedeutet aber nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine politische und gesellschaftliche Machtverschiebung. Multimilliardäre wie Elon Musk werden bei ihrem Besuch in Deutschland Anfang September 2020 geradezu wie Staatsoberhäupter empfangen, obwohl sie niemand demokratisch gewählt hat. Das Gleiche gilt für Bill Gates, der in ungeheurem Maße mediale Aufmerksamkeit für seine weltanschaulichen oder politischen Ansichten und damit enormen Einfluss auf politische Weichenstellungen bekommt. Aber niemand hat Bill Gates jemals demokratisch gewählt. Was ihn oder Elon Musk einzig und allein legitimiert ist seine riesige ökonomische Kapitalmacht. Das gilt für praktisch alle Multimilliardäre, ob Jeff Bezos, Warren Buffet, Larry Fink (der Chef von Blackrock), und so weiter: Ökonomische Geldmacht kann jederzeit in massive politische Einflussnahme überführt werden von Menschen, die nie und von niemand demokratisch gewählt wurden. Das sind gefährliche, antidemokratische Prozesse. Das hebelt eine freiheitliche Demokratie aus.
Der Soziologe Hans Jürgen Krysmanski brachte die politische und gesellschaftliche Einflussnahme durch große Geldsummen bereits in seinem 2012 erschienenen Buch „0,1 Prozent - Das Imperium der Milliardäre“ gut auf den Punkt: „Milliardäre bestimmen – mittels eines Geflechts von Stiftungen und Organisationen und durch die Informations-Industrie – das Bildungswesen ganzer Länder; ihnen gehören Privatuniversitäten, große Teile des Gesundheitswesens, die wichtigsten Zeitungs-, Fernseh- und Filmkonzerne. Sie verfügen über Privatarmeen. Wissenschaftliche Berater, Kunst- und Kultur-Strategen, Politiker werden ohne große Unterschiede ´eingekauft´.“ Auch der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz sieht durch den enormen Einfluss von Milliardären auf verschiedene Lebensbereiche, insbesondere jedoch auf die Medien, die Demokratie in Gefahr. Ein ganzes Kapitel seines 2012 erschienenen Buches „Der Preis der Ungleichheit“ nennt er „Demokratie in Gefahr“.
Zwischen 2009 und 2016 sollen Stiftungen in den USA über eine Milliarde Dollar in journalistische Projekte gesteckt haben. Allein die „Bill and Melinda Gates Foundation“ soll 250 Millionen Dollar an führende Zeitschriften und Medienhäuser weltweit überwiesen haben. Dazu kommt: Ein Großteil der Medienhäuser in Deutschland (sowie in den allermeisten anderen Ländern) ist in Händen von einigen wenigen Familien, die in der Regel Multimillionäre oder Milliardäre sind. Die Eigentümer bestellen die Chefredakteure und legen damit weitgehend die weltanschaulichen Inhalte ihrer Zeitungen und Sender fest. Außerdem gibt es Parteispenden und Zuwendungen an Abgeordnete, die nur sehr lückenhaft offengelegt werden, interessante Postenangebote für Politiker in der Industrie vor oder nach ihrer Amtszeit, mehr Lobbyisten als Abgeordnete im Bundestag und so weiter. Es finden ständig massive Eingriffe in demokratische Entscheidungsprozesse statt und damit eine Unterminierung unserer freiheitlichen Demokratie. Echte Demokratie steht diesen Machtinteressen schlichtweg im Weg. Es geht nur eines von beiden: Demokratie oder Oligarchie.
Kurz: Gegen die Interessen der Milliardäre ist in den allermeisten Ländern nur sehr schwer zu regieren. Das hat häufig nicht mehr viel mit Demokratie zu tun. Laissez-Faire-Marktwirtschaft wird und muss auf Dauer unsere freiheitliche Demokratie nicht nur unterminieren, sondern wird sie mehr und mehr auflösen, denn sie widerspricht den Interessen der Reichen. Es geht nur eines von beiden: Neoliberalismus oder freiheitliche Demokratie.
Demokratie unter Beschuss
Die weltweiten Corona-Maßnahmen haben dieses Dilemma anschaulich auf den Punkt gebracht. In sehr vielen Ländern der Erde gab es Einschränkungen demokratischer Grundrechte. Kleine und mittelständische Unternehmen wurden und werden massenweise in den Ruin getrieben. Die großen Nutznießer dieser Politik sind die Milliardäre und Großaktionäre, deren Vermögen seit den Corona-Lockdowns dramatisch gestiegen sind.
Unsere freiheitliche Demokratie ist in Gefahr, auch in Deutschland. Wir sehen seit Jahrzehnten, im Hintergrund ablaufend, immer stärkere Machtkonzentration bei sehr wenigen, sehr reichen Menschen, eine Bündelung von Macht bei Menschen, die nie demokratisch gewählt wurden. Wenn wir diese gefährlichen Prozesse nicht durchschauen und nichts dagegen tun, kann unsere freiheitliche Demokratie zuletzt zerstört werden. Es geht nur eines von beiden: Freiheitliche Demokratie oder unregulierter Kapitalismus. Wir müssen uns entscheiden.
Zum Autor: Prof. Dr. Christian Kreiß lehrt seit 2002 Finanzierung und Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Aalen. Er ist Autor von sieben Büchern, unter anderem „Gekaufte Wissenschaft“ (2020); „Gekaufte Forschung“ (2015) sowie „Geplanter Verschleiß“ (2014). Dreimal hat er als unabhängiger Experte vor dem Bundestag gesprochen.