Die Kosten des Brexit
Formal fand der Brexit am 31. Januar 2020 statt. Jedoch müssen beide Seiten – Großbritannien und die EU – die Regeln für ihre neue Beziehung noch ausarbeiten. Dies umfasst alles von Handel, Einwanderung, Luftfahrt, Sicherheit, Grenzkontrollen bis hin zu Fischgewässern. Für die Verhandlungen ist eine Übergangsphase bis November 2020 vorgesehen. Während dieser Zeit befolgt das Vereinigte Königreich immer noch die EU-Vorschriften, und der Handel zwischen beiden Seiten ist der gleiche wie zuvor. Die Übergangsfrist endet am 31. Dezember 2020, ab dem der Brexit de facto in Kraft tritt.
Wenn bis Mitte Oktober 2020 keine Einigung über das weitere Format der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen London und Brüssel erzielt wird, wird ein sogenannter „harter Brexit“ stattfinden, was bedeutet, dass Großbritannien die Zollunion und den Binnenmarkt der EU verlassen, wobei beide Parteien gegenseitig wieder Zölle sowie verschiedene nichttarifäre Hindernisse wieder einführen werden. Großbritannien wird auch nicht mehr von den europäischen Freihandelsabkommen mit Drittstaaten profitieren können.
Ökonomen sind sich einig: Ein harter Brexit würde für beide Seiten zu einem erheblichen Wohlfahrtsverlust führen. Nach verschiedenen Simulationsstudien des Münchner ifo-Instituts liegt der BIP-Verlust in Großbritannien zwischen 3,5 und 1,5 Prozent und der durchschnittliche Verlust in der EU27 zwischen 0,6 und 0,25 Prozent. Je nach Brexit-Szenario wird der Austritt Großbritanniens aus der EU das deutsche Nationaleinkommen um 0,5 bis 0,8 Prozent verringern.
Deutsche Exporte nach Großbritannien können um mehr als 50 Prozent (in absoluten Zahlen: rund 40 Milliarden Euro) schrumpfen. Arzneimittel und Straßenfahrzeugen sind mit einem Rückgang von etwa 700 Millionen und 5,3 Milliarden Euro – je nach Ergebnis der Verhandlungen – die an den stärksten betroffenen Branchen.
Im Rahmen des Brexits wird Großbritannien auch seine Beitragszahlungen an den EU-Haushalt einstellen. Nach Schätzungen des Centrums für Europäische Politik (CEP) zahlte das Vereinigte Königreich trotz des „britischen Rabatts“ durchschnittlich 6,4 Milliarden Euro pro Jahr mehr in den EU-Haushalt ein als es erhielt. Laut dem „Europäischen Netzwerk für wirtschaftliche und fiskalische Politikforschung“ (EconPol) waren Londons Bruttotransfers doppelt so hoch - 14 Milliarden Euro.
Diese Lücke muss jetzt geschlossen werden – und, wie üblich, zum größten Teil von Deutschland. Laut Schätzung der Bundesregierung wird der jährliche deutsche Beitrag im EU-Haushaltsplan für den Zeitraum von 2021 bis 2027 um eben diese 14 Milliarden Euro im Jahr auf 42 Milliarden im Jahr steigen.
Mit Großbritannien verliert die EU ihre zweitgrößte Wirtschaft und einen wichtigen Handelspartner. Im Jahr 2019 entsprach das britische Bruttoinlandsprodukt (BIP) 15 Prozent (in aktuellen Euro) bis 18 Prozent (nach Kaufkraftparität) des europäischen Bruttoinlandseinkommens. Gemessen an der Wirtschaftskraft ist der Brexit gleichbedeutend mit dem simultanen Austritt von 19 der 28 EU-Länder. Die EU verliert damit an internationalem wirtschaftspolitischem Einfluss.
Der Brexit als Chance
Dem Brexit wohnen aber nicht nur Nachteile inne. Er könnte eine Chance sein, die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zum Osten wieder zu verbessern. Denn mit Großbritannien verlässt die EU eins der leidenschaftlichsten Befürworter der transatlantischen Eingliederung Europas und eins der Russland-kritischsten Länder. Dem gegenüber könnte mit dem Austritt Großbritanniens diejenige Staatengruppe in der EU deutlich an politischem Gewicht gewinnen, welche nach Untersuchungen des Europäischen Rates für Auswärtige Beziehungen (ECFR) die Aushandlung eines Kompromisses mit Russland bezüglich der Ukraine befürworten (Karte 1). Damit könnte Berlin – dessen politische Maßnahmen stark von transatlantischen Denkfabriken beeinflusst werden – künftig bei vielen EU-Beschlüssen, die es in der Vor-Brexit-Zeit zusammen mit anderen Nordländern mit einer Sperrminorität von 35 Prozent im Ministerrat verhindern konnte – überstimmt werden.
Eine solche Machtverschiebung im Europäischen Rat, zusammen mit der Notwendigkeit, den durch den Brexit verursachten wirtschaftlichen und geopolitischen Schaden zu kompensieren, könnte die Möglichkeit einer engeren handelspolitischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) unter dem sogenannten "Größerem Europa von Lissabon nach Wladiwostok"–Konzept wieder eröffnen.
Aber aufgrund der Ukraine-Krise und der Spannungen zwischen Russland und dem Westen hatten die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Eurasischen Wirtschaftsunion nie eine Chance, sich zu entwickeln. Obwohl die Eurasische Wirtschaftskommission wiederholt ihr Interesse an einer vertieften Zusammenarbeit mit der EU bekräftigt hat, hat die Europäische Kommission – auch unter Druck Londons – mit der EAWU keine offiziellen Gespräche geführt und ihre internationale Rechtspersönlichkeit noch nicht öffentlich anerkannt.
Kann die EAWU Großbritannien ersetzen?
Die Eurasische Wirtschaftsunion, im Jahr 2015 von den fünf postsowjetischen Ländern Armenien, Weißrussland, Kasachstan, Kirgisistan und Russland gegründet, ist ein supranationaler Handels- und Wirtschaftsblock mit dem Ziel, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen, der auf dem freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital beruht. 2019 belief sich das BIP der fünf Staaten zusammen grob gerechnet auf die Hälfte des BIP der Bundesrepublik.
Gemessen an der Wirtschaftskraft beträgt die EAWU demnach, je nach Zählmethode, zwischen 12,6 (in aktuellen Euro) und 24,3 Prozent (nach Kaufkraftparität) des Bruttoinlandprodukts der Europäischen Union. Somit würde die handelspolitische Anbindung der Eurasischen Union an die EU den Austritt Großbritanniens entweder teilweise oder sogar überkompensieren.
Gleichzeitig ist die Bevölkerung des östlichen Wirtschaftsbundes (184 Millionen Menschen) fast dreimal so groß wie die Großbritanniens (67 Millionen Menschen). Dafür ist aber das britische Pro-Kopf-Einkommen mit durchschnittlich 40.500 Euro fast doppelt so hoch wie das der EAWU-Bürger mit 23.000.
Dank seiner größeren Kaufkraft machte 2018 das Vereinigte Königreich 5,8 Prozent der gesamten EU-Exporte aus, die EAWU nur 1,8 Prozent; während der Anteil beider an den gesamten EU-Importen mit 3,4 Prozent ungefähr gleich war.
Dementsprechend waren die europäischen Exporte nach Großbritannien (knapp 296 Milliarden Euro) dreimal so hoch wie in die EAWU-Länder (95,4 Milliarden Euro), obwohl die Exporte nach Osten einen etwas größeren Anteil an Hightech- und Mehrwertprodukten enthielten (Abb. 1.).
Dafür waren die europäischen Einfuhren aus dem Vereinigten Königreich und der Eurasischen Union mit jeweils etwas mehr als 170 Milliarden Euro ungefähr gleich. Gleichzeitig bestanden die eurasischen Exporte hauptsächlich aus Basisressourcen für das europäische Industrie-, Transport- und Energiewesen. Die britischen Ausfuhren ans europäische Festland waren dem gegenüber viel diversifizierter (Abb. 2.).
Nach Untersuchungen des Russischen Instituts für Wirtschaftsforschung besteht aufgrund von Sanktionen und Handelsbeschränkungen ein großes, jedoch nicht realisiertes gegenseitiges Handelspotenzial zwischen der EU und der EAWU. Unter Verwendung eines Schwerkraft- und Produktraum-Modells schätzen die Ökonomen, dass das zusätzliche EU-Exportpotenzial auf den EAWU-Märkten mittelfristig circa 45 Milliarden Euro beträgt. Zu den Waren mit starkem Exportpotenzial zählen hauptsächlich Produkte mit hoher Wertschöpfung: Chemikalien, Arzneimittel und Impfstoffe, Kosmetika, elektronische Geräte, Pkws und Lkws, Flugzeuge und Hubschrauber sowie medizinische Geräte und Instrumente.
Mit anderen Worten, trotz der Tatsache, dass die EAWU ein kleinerer Absatzmarkt für die EU ist, besteht eine größere Faktorenkompatibilität zwischen beiden, was eine wichtige Grundlage für die Gewährleistung der wirtschaftlichen Souveränität Europas werden kann, von der in Brüssel und Berlin so geträumt wird.
Bereits jetzt besteht eine wichtige technische Grundlage für die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums zwischen dem Atlantik und dem Pazifik, nämlich die Tatsache, dass die Eurasische Wirtschaftskommission unabhängig beschlossen hat, 90 Prozent der europäischen technischen Vorschriften und Standards für den Güterverkehr anzuwenden.
Ein Freihandelsabkommen zwischen der EAWU und der EU, welches Kapitel über Waren, Dienstleistungen und ausländische Direktinvestitionen enthält, würde das europäische BIP je nach Tiefe des Abkommens um 0,1 bis 0,3 Prozent (17 bis 51 Milliarden Euro) erhöhen.
Nach meinen eigenen Berechnungen würden allein die gesteigerten Warenexporte aus der EU in die EAWU um fast 30 Prozent (26,1 Milliarden Euro) steigen, was der EU einen Wohlfahrtsbonus von 0,1 Prozent (14,7 Milliarden Euro) einbringen würde.
Laut einer Studie des ifo-Instituts würde solch eine "Lissabon nach Wladiwostok"-Freihandelszone die deutschen Exporte auf die eurasischen Märkte um 60 Prozent (31 Milliarden Euro) steigern. Infolgedessen würde ein solches Freihandelsabkommen das Bruttoinlandseinkommen Deutschlands um 0,1 bis 0,2 Prozent erhöhen.
Der deutsche Sektor mit den höchsten Wertschöpfungswachstumsraten von 3,4 Prozent (EUR 2,4 Milliarden Euro) wäre die Automobil-Branche. Dieser Sektor macht rund ein Drittel der gesamten Steigerung der Nettowertschöpfung in Deutschland aus. Relativ hohe Zuwächse werden auch für Metallprodukte (1,8 Prozent) und Maschinen (0,5 prozent) erwartet. Interessanterweise würden auch Dienstleistungssektoren wie öffentliche Dienstleistungen und Immobilien davon profitieren. Diese Branchen sind kaum jemals direkt von Freihandelsabkommen betroffen. Sie profitieren eher indirekt von einem Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und von billigeren Zwischenprodukten (zum Beispiel würde ein Freihandelsabkommen die Preise für Baumaterialien senken).
Die obigen ökonomischen Berechnungen zeigen, dass die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums von Lissabon nach Wladiwostok den wirtschaftlichen und handelspolitischen Kosten des Brexit für die Europäische Union sowie für Deutschland zumindest einigermaßen abfedern könnte.
Zum Autor: Jurij Kofner ist Junior-Ökonom am MIWI (Institut für Marktintegration und Wirtschaftspolitik) in München.