Finanzen

Größte Krise seit hundert Jahren: Jetzt hilft nur noch ein radikaler Schuldenschnitt

Weder unser Geld noch unsere Forderungen sind noch durch reale Wirtschaftsleistungen gedeckt - ein Nährboden für gesellschaftliche Unruhen. Um den Frieden zu wahren, bedarf es einer radikalen Maßnahme: Eines radikalen Schuldenschnitts.
27.09.2020 08:11
Lesezeit: 5 min
Größte Krise seit hundert Jahren: Jetzt hilft nur noch ein radikaler Schuldenschnitt
Berlin, Juni 1931: Tausende Menschen stehen vor dem Postscheckamt, um ihre Guthaben abzuheben. (Foto: dpa)

Vor zwei Wochen erschien eine interessante Studie der OECD mit dem Titel „Coronavirus: Leben mit Unsicherheit“. Sie beschäftigt sich damit, wie es nun – nachdem im zweiten Quartal 2020 die weltweit stärkste Rezession der Neuzeit stattfand – weitergehen könnte. Laut dieser Untersuchung schrumpfte die Weltwirtschaft in den Monaten April bis Juni 2020 gegenüber Ende 2019 um über zehn Prozent. Die Wirtschaftsleistung lag damit im zweiten Quartal 2020 um etwa zwölf Prozentpunkte niedriger als Ende 2019 von der OECD prognostiziert worden war. Zwölf Prozent – das ist eine ganze Menge. Stellen wir uns vor, wir hätten von einer Woche auf die andere fast ein Achtel weniger Geld in der Haushaltskasse – das würde sich bei den meisten Menschen im Alltagsleben doch ziemlich bemerkbar machen.

OECD: Alles nicht so schlimm

Der Wirtschaftseinbruch wird nach Ansicht der OECD-Ökonomen nicht so schnell aufgeholt werden. Sie rechnen damit, dass noch Ende 2021 die Weltwirtschaftskraft um gut fünf Prozent schwächer sein wird als ohne Corona und die von dem Virus ausgelösten Maßnahmen. Allerdings gilt das nur für den Durchschnitt aller Länder. Einzelne Staaten, vor allem China mit etwa minus einem Prozent und Deutschland mit etwa minus zwei Prozent, sollen die Produktionslücke bereits bis Ende 2021 weitgehend aufgeholt haben, während andere Länder auch noch Ende 2021 stark unter dem Einbruch leiden werden, beispielsweise Indien mit minus zwölf Prozent, Mexiko mit minus neun, Brasilien und Türkei mit je minus sechs Prozent.

Insgesamt gehen die Autoren der OECD-Studie davon aus, dass sich die Industrieländer deutlich schneller von dem Einbruch erholen werden als die Schwellen- und Entwicklungsländer. Der Grund dafür ist im Wesentlichen, dass die Industrieländer über sehr viel mehr Kapital und finanzielle Kraft verfügen als die armen Länder und daher auch leichter geeignete wirtschaftliche Gegenmaßnahmen ergreifen können.

Die Wahrheit: Die Welt befindet sich in der Schuldenfalle

Ich gehe davon aus, dass die Ökonomen der OECD in ihren Prognosen – wie so oft – falsch liegen. Dieses Ökonomie-Modell unterstellt eine graduelle Rückkehr auf den früheren Wachstumspfad in Form einer gedehnten V-Kurve. Was das Modell meiner Einschätzung nach nicht oder viel zu wenig berücksichtigt, sind die großen Schulden- und Geldberge, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind.

Die weltweiten Schulden betragen derzeit gut 350 Prozent vom globalen Weltsozialprodukt. Sie haben sich in den letzten 50 Jahren, gemessen an der Weltwirtschaftskraft, etwa verdoppelt. 350 Prozent sind ein so hoher Schuldenberg, dass er real unmöglich zurückgezahlt werden kann. Dazu kommt: Die Zentralbankgeldmenge in den USA liegt momentan grob bei 7.000 Milliarden Dollar. Vor der Finanzkrise 2007 lag sie bei etwa 800 Milliarden. Die Zahl der Zentralbank-Dollars hat sich also in den letzten 13 Jahren beinahe verneunfacht. Umgangssprachlich nennt man das ganz treffend „die Geldpresse anwerfen“. Die Zentralbank-Geldmenge der EZB beträgt momentan etwa 6.500 Milliarden Euro und hat sich damit in den letzten rund 15 Jahren circa versechsfacht. Diese Ausweitung der ZentralbankGeldmenge lief unter der Bezeichnung „Quantitative Easing“, Ausdehnung der Geldmenge. Die Wirtschaftskraft ist im selben Zeitraum aber nicht annähernd so stark gewachsen wie die Geldmenge.

Der Schulden- und Geld-Berg ist in den letzten Jahrzehnten also um ein Vielfaches schneller gewachsen als die reale Wirtschaftskraft. Das bedeutet, die Gläubiger, also diejenigen Menschen, die die Schuld- oder Geldscheine in Händen halten, glauben heute ebenso wie vor 50 Jahren, dass der Betrag, der auf den Scheinen steht, einen realen Wert hat, nämlich den Wert, der eben auf den Papieren angegeben ist. Das jedoch ist ein großer Irrtum, ja, eine Illusion.

Ich spreche hier nicht von Inflation, also schleichender Geldentwertung, wie wir sie in der Nachkriegszeit praktisch immer gesehen haben, sondern von der Schuld- und Gelddeckung, ganz unabhängig von der Inflation. Konkret: Einem Laib Brot, einem Haarschnitt, einem Auto standen vor einer Generation nur halb so viele Schulden gegenüber und nur ein Fünftel bis ein Zehntel so viel Bar- oder Giralgeld wie heute.

Anders ausgedrückt: Ein Kontoauszug, der anzeigt, dass im Wertpapierdepot eine Million Euro oder Dollar in Form von Anleihen und Sichtguthaben liegen ist heute, anders als vor einer Generation, nicht mehr annähernd so stark durch reale Gegenleistungen gedeckt wie damals. Wenn heute alle Schuld- und Geldscheininhaber versuchen würden, ihre Papiere in reale Güter und Dienstleistungen umzusetzen, so würden sie, anders als vor einer Generation, merken, dass es so viele Güter und Dienstleistungen gar nicht gibt.

Die große Illusion

Kurz: Wir leben trotz der Schulden- und Geldexplosion heute in dem Glauben, dass unsere Geld- und Schuldscheine, so wie früher, noch immer durch reale Wirtschaftsleistungen gedeckt sind. Das sind sie aber schon lange nicht mehr in vollem Umfang. Wenn wir aus dieser süßen Illusion aufgeweckt werden, dürften wir einige unangenehme Überraschungen erleben.

Wie können wir aus der Illusion aufgeweckt werden?

  1. Es könnte zu einem Crash an den internationalen Anleihemärkten kommen, weil zu viele Schwellen- und Entwicklungsländer ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Das führt häufig zu Währungsturbulenzen und Verwerfungen bei den internationalen Handelsströmen, beeinträchtigt damit unsere Exporte und kann an den westlichen Finanzmärkten einen Absturz auslösen.
  2. Oder es könnte zu einem Crash an den Unternehmensanleihen-Märkten kommen, weil zu viele Unternehmen in den Industrieländern wegen der Lockdowns pleitegehen und daher ihre Schulden nicht zurückzahlen können. Viele Unternehmen haben in den zurückliegenden zehn Jahren hohe Schulden aufgenommen und konnten diese wegen der Nullzinspolitik der Notenbanken auch bedienen. Bei „normalen“ Zinsen hätten einige dieser Unternehmen schon längst Insolvenz anmelden müssen, Stichwort „Zombieunternehmen“.
  3. Die Aktienbörsen stürzen ab, wenn das erwartete und prognostizierte Wirtschaftswachstum und damit das an den Börsen eingepreiste Gewinnwachstum nicht kommt.

Die einzige Lösung

Wie wird sich das Ungleichgewicht zwischen Papier- und Güter-Berg bereinigen? Ich sehe dafür hauptsächlich vier Möglichkeiten:

1. Entweder gibt es einen offiziellen Schuldenschnitt. Das bedeutet aber gleichzeitig einen Vermögensschnitt bei den Gläubigern, das heißt den Inhabern der Schuldpapiere. Das halte ich für unwahrscheinlich, weil sich die Multimillionäre und Milliardäre, die den allergrößten Teil dieser Forderungen halten, gegen diesen Vermögensschnitt wehren werden. Und ihr Einfluss auf die Politik ist sehr, sehr groß, vorsichtig ausgedrückt.

2. Die Notenbanken versuchen, über einen Zeitraum von vielleicht zehn Jahren, eine Preisverdoppelung oder -verdreifachung herbeizuführen, also einige Jahre lang eine mittelstarke Inflation von vielleicht 5 bis 20 Prozent pro Jahr im Dollar- und Euroraum zu erzeugen. Das entspräche einem (realen) Schuldenschnitt von 50 bis 66 Prozent, weil die Inflation einfach die Geldpapiere real teilentwertet. Angesichts der perspektivisch hohen Arbeitslosigkeit und der damit einhergehenden sinkenden Massenkaufkraft, dürfte es für die Notenbanken aber sehr schwer werden, eine Inflation loszutreten.

3. Wenn beides nicht klappt, kommen vermutlich eine Pleitewelle, eine Finanzkrise, Bankenpleiten, Staatsinsolvenzen, Massenarbeitslosigkeit, Chaos und Unruhen. Unternehmens-, Staats- und Bankenpleiten sind auch ein Schuldenschnitt, aber ein ungeordneter, chaotischer, der einen Abwärtsstrudel auslösen dürfte mit schlimmen, teilweise unkalkulierbaren gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen.

4. Natürlich sind auch noch schlimmere Szenarien denkbar, zum Beispiel der Ausweg Krieg. Sowohl der erste wie der zweite Weltkrieg waren, rein ökonomisch gesehen, Ventile für kaum haltbare ökonomische Zustände vor 1914 beziehungsweise 1939.

Ich halte einen geordneten Schuldenschnitt für die beste Lösung; eine Inflation, auch wenn sie für eine Volkswirtschaft mit harten Konsequenzen verbunden ist, für die Zweitbeste. Vor Lösung drei graut mir, vor Lösung vier noch mehr. Ich hoffe, dass wir den Schuldenschnitt mit Vernunft oder mit Inflation lösen werden. So oder so: Das sanft wachsende V-geformte Prognose-Modell der OECD-Ökonomen ist meiner Einschätzung nach eine Illusion.

Kein Zurück mehr

Ich fürchte, es wird kein Zurück zu den Jahren vor 2020 geben. Die staatlichen Lockdowns waren und sind ein so gravierender Einschnitt nicht nur in unsere Freiheitsrechte und die demokratische Verfasstheit unseres Staates, sondern auch in unser Wirtschaftsleben, dass eine Rückkehr zu den vergleichsweise guten Jahre vor 2020 meiner Einschätzung nach ausgeschlossen ist. Wir stehen vor ganz erheblichen gesellschaftlichen Umwälzungen und vermutlich vor sehr starken ökonomischen und vor allem sozialen Spannungen. Es ist höchste Zeit, umzusteuern - bevor es zu spät ist.

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                                                                            ***

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de

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