Politik

„Corona“ – Unser geistiges Gefängnis namens „Angst“ wird erschüttert

Lesezeit: 6 min
17.10.2020 09:14  Aktualisiert: 17.10.2020 09:14
Eine Vielzahl von Vorschriften, Gesetzen und technischer Sicherungen sorgt dafür, dass unsere unterschwelligen und diffusen Ängste im Alltag besänftigt werden – um dann weiter gepflegt werden zu können. Die Corona-Pandemie hat die Mauern unseres selbstgebauten Angst-Gefängnisses aber nun eingerissen, schreibt Ronald Barazon.
„Corona“ – Unser geistiges Gefängnis namens „Angst“ wird erschüttert
Ein Auge der Sandskulptur "Friedrich der Erste, König von Württemberg", aufgenommen am 10.07.2017 in der Gartenschau Blühendes Barock in Ludwigsburg (Baden-Württemberg). (Foto: dpa)

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Die Corona-Krise hat ein erschreckendes Phänomen zutage gefördert: Die meisten Menschen leben mit einer enormen Angst. Das Ausmaß ist den Betroffenen nicht bewusst. Die Angst ist auch im Alltag nicht spürbar. Wenn allerdings eine diffuse, nicht fassbare Bedrohung wie das Virus auftritt, dann bricht die unter der Oberfläche schlummernde Angst mit einer unglaublichen Stärke aus und wird zu einem Massenphänomen. Dies, obwohl doch in den Wohlstandsgesellschaften der entwickelten Staaten systematisch jede Bedrohung beseitigt wird. Von der Alters- und Krankenvorsorge bis zur Lebensmittelkontrolle oder zur Absicherung jedes technischen Geräts erstreckt sich die nicht endende Reihe der Vorsichtsmaßnahmen.

Obwohl ist vielleicht das falsche Wort. Offenkundig ist das Angstpotenzial in den Menschen enorm und muss befriedigt werden. Also muss es vermutlich heißen: Weil durch die umfassenden Sicherungsmaßnahmen in allen Bereichen selten Gefahren zu bewältigen sind, die ständig vorhandene Angst also kaum je gefordert wird, kommt es wie zu einer Explosion angesichts von großen, übermächtigen Bedrohungen. Gäbe es diese enorme Angst nicht, wären die Lock-Downs und sonstigen Einschränkungen nicht durchsetzbar.

Man ist in der Angst gefangen und entwickelt eine Lust an dem Gefängnis

Die Corona-Krise ist nicht die erste Erscheinung, bei der die latente Angst aktiv wird, sie hat aber eine bisher ungeahnte Dimension angenommen. Allerdings war das Verhalten in der Finanzkrise durchaus vergleichbar, auch die Klimakrise oder die Flüchtlingswelle sprechen die Angst in den Menschen an. Angst schaltet das logische Denken aus. Man mag sich wundern, dass bei den genannten Themen eine sachliche Darstellung der Probleme kein Echo findet, dass zwischen tatsächlichen und nur vermeintlichen Gefahren nicht unterschieden wird, dass konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der Bedrohungen nicht ergriffen werden.

Offensichtlich besteht gar kein Interesse an einer wirksamen Beseitigung der drohenden Belastungen, man ist in der Angst gefangen und entwickelt sogar eine Art masochistischer Lust in diesem Gefängnis. Die psychischen Mauern, die die Angst errichtet, lassen bei vielen Menschen erstaunlicher Weise ein Gefühl der Geborgenheit entstehen, das in der Freiheit und Unbekümmertheit einer abgesicherten Wohlstandsgesellschaft vielfach fehlt.

Wer hingegen täglich ums Überleben kämpfen muss, hat ständig Angst vor dem Scheitern und braucht keine übermächtigen Bedrohungen, um seine Angst zu befriedigen. Mehr noch: Der Existenzkampf setzt Grenzen, die zwar ständig beklagt werden, aber paradoxer Weise vielfach mehr Geborgenheit geben als die Gewissheit, dass auch der morgige Tag keine besonderen Herausforderungen bringen wird.

Die Politik der totalen Absicherung wird auch gegen Corona betrieben

Angesichts der explodierenden Arbeitslosigkeit und der drohenden Pleitewelle im Gefolge der Lock-Downs werden viele in Kürze ihr Angstpotenzial mit den Sorgen des Alltags ausreichend beschäftigen müssen. Da wird der Ruf nach Arbeitsplätzen lauter sein als alles andere. So weit ist es aber noch nicht. Noch dominiert die Stimmung der Wohlstandsgesellschaft und die von den Regierungen und Notenbanken organisierte Geldverteilung sorgt für eine Scheinwelt.

Auch wird weiterhin Sicherheitspolitik betrieben. Alle werden getestet, alle werden in den vermeintlich schützenden Wohnungen festgehalten, alle werden versorgt: Wir Politiker schützen Euch, wir lassen das Virus verschwinden, alle sind sicher. Wie bei den Renten, wie bei den Vorschriften für jeden Spielplatz, für jedes Stück Kuchen, für jedes Gerät.

Mit der Darstellung von Daten wird eifrig manipuliert und die Angst geschürt

Die Inszenierung der totalen Versorgung wird durch Furcht erregende Parolen unterstützt. Und diese Parolen müssen die Politiker keineswegs alle selbst erfinden. Da helfen Experten aus der Wissenschaft und der Wirtschaft durch die trickreiche Darstellung von Daten eifrig mit.

Ist nicht die Botschaft, 50 von 100.000 haben Covid-19, erschreckend? Ohne Zweifel. Und wie klingt die Mitteilung gleichen Inhalts 5 von 10.000? Schon harmloser. Oder gar 0,5 von 1.000. Oder 0,05 Prozent. Das Motto lautet: Wie manipuliere ich die Bevölkerung, die ohnehin ein latentes Angstpotenzial hat? Und: Man ist als Experte mit Schreckensmeldungen mehr gefragt als mit sachlichen Darstellungen.

Die Technik funktioniert immer wieder: Sind nicht 400 ppm CO2 in der Luft ein bedrohlicher Wert? Sicher. Und gar die Gefahr, dass der Wert auf 500 ppm bis zum Ende des Jahrhunderts steigt? Zum Fürchten. Wen kann man aber mit dem gleichen Wert schrecken, wenn die Aussage lautet, dass der CO2-Gehalt in der Luft 0,04 Prozent beträgt? Und vielleicht auf 0,05 Prozent steigt?

Die Horrormeldungen werden vom Publikum gerne aufgenommen, man kann sich ungestört dem Fürchten hingeben

Tatsachen und Lösungen interessieren nicht. Die Angst ist stärker.

Wie mühsam wäre es doch mit den Krisen sachlich umzugehen und die Maßnahmen auf die Bewältigung der Probleme abzustellen.

  • Gefährdet sind vor allem Personen mit Vorerkrankungen, welche die Abwehrkräfte verringern.
  • Logisch wäre also, dass man sich in erster Linie um die Älteren kümmert, die meist schon Rentner sind und die man daher leichter erreichen und betreuen kann.
  • Logisch wäre die Konzentration der Aktivitäten auf die Behandlung von Personen, die Diabetes, Adipositas, Herzprobleme oder Krebs haben, also weniger widerstandsfähig sind.
  • Nicht nachvollziehbar ist, dass man die Gesamtbevölkerung unter Druck setzt und zwischen Risikogruppen und Gesunden nicht unterscheidet. Gesunde überstehen Covid-19 in den meisten Fällen nach wenigen Tagen.
  • Nicht nachvollziehbar ist, dass man sich nicht bemüht, die tatsächlich Erkrankten möglichst rasch in medizinische Behandlung zu bringen, sondern sie noch tagelang auf Tests und dann auf die Ergebnisse der Tests warten lässt.
  • Wie mühsam wäre es doch, die tatsächliche, bereits eingetretene Klimakrise zur Kenntnis zu nehmen und konkrete Maßnahmen zu ergreifen. Katastrophale Stürme, Überschwemmungen, das Ansteigen des Meeresspiegels, dramatische Klimaschwankungen finden jetzt statt, hier und heute. Was sollen da die Ankündigungen, dass man bis 2030 oder 2040 oder bis zum Sankt-Nimmerleinstag den CO2-Ausstoß senken werde. Das Klima tobt, obwohl der CO2-Wert mit 0,04 Prozent im historischen Vergleich derzeit nicht sehr hoch ist. Mehr noch: Ein Absinken unter 0,02 Prozent wäre sogar gefährlich, weil dann die Photosynthese nicht mehr funktioniert und der Sauerstoff zum Atmen fehlen würde.

Alle diese Hinweise haben keine Wirkung. Man fühlt sich in den eigenen vier Wänden sicher, obwohl gerade in den Haushalten die mit Abstand größte Gefahr einer Ansteckung besteht und dort tatsächlich die aktuell stattfindende Zunahme der Erkrankungen erfolgt. Und man geht demonstrieren gegen den Klimawandel, womit kein einziges Hagelkörnchen verhindert wird.

Die zentrale Frage lautet wohl: Was kann man gegen die Massenerscheinung Angst unternehmen? Vermutlich wenig bis nichts. Dieser Schluss liegt nahe, wenn man die bereits eingangs erwähnten ständigen und umfassenden Bemühungen um Sicherheit berücksichtigt, die ein plötzliches Ausbrechen der Massenangst nicht verhindern, sogar allem Anschein nach sogar fördern. Tatsachen werden nicht zur Kenntnis genommen, rationale Argumente verhallen ungehört, also bleibt offenbar keine Alternative als zu warten, ob und wann die Welle der Angst abebbt. Man muss allerdings zur Kenntnis nehmen, dass bei der nächsten Gelegenheit eine neue Welle entstehen wird. Somit ist „nach der Corona-Krise“ nur „vor der nächsten Corona-Krise“, was auch immer der künftige Auslöser sein wird. Es kann sogar wieder das aktuelle oder ein mutiertes Virus sein, schließlich überdauern Viren Jahre in Menschen und Tieren und werden irgendwann plötzlich aktiv.

Der „Lock-Down“ ist die Krönung einer schon länger dauernden Entwicklung

Der Umgang mit der Corona-Krise steht unter dem Motto „Wie kommen möglichst viele Menschen gesund durch die Krise, die ohnehin bald zu Ende ist.“ Im Sinne der allgemeinen Bemühungen, jedes Risiko zu vermeiden, entstand die Idee des „Lock-Downs“, der einem Verstecken vor dem Virus entspricht. In dem überall zu beobachtenden Sicherheitsstreben ist mit den „Lock-Downs“ der vermutlich nur vorläufige Höhepunkt erreicht. Diese Maßnahmen haben Vorläufer, die man in Erinnerung rufen muss:

  • Wenn die Kinderbetreuung darauf hinausläuft, dass die Kleinen nicht mehr frech und unbekümmert spielen dürfen, weil sie sich wehtun könnten, weil ein aufgeschundenes Knie die Eltern in Alarm versetzt,
  • wenn Banken keine Kredite mehr geben dürfen, weil der Schuldner das geborgte Geld nicht zurückzahlen könnte,
  • wenn Versicherungen möglichst kein Risiko eingehen sollen, damit sie keine Schäden zu begleichen haben,
  • wenn fast jede wohlschmeckende Speise zurückzuweisen ist, weil sie vielleicht eine schädliche Nebenwirkung auslösen könnte,
  • und so weiter und so weiter,

wenn also jede Gefahr, jedes Risiko übertrieben wird, dann landet die Gesellschaft unweigerlich in der Erstarrung eines Lock-Downs, der nicht vor der Gefahr schützt, aber alles Leben lähmt.

Die „mentale Einheit der Masse“ in neuer Erscheinungsform. Ohne Führer.

Das Phänomen erinnert an die von Gustave Le Bon 1895 erkannte „Mentale Einheit der Masse“. Sein epochales Buch „Psychologie der Massen“ stellt aber besonders die geradezu magische Wirkung einer Führerfigur in den Vordergrund. So war es nicht verwunderlich, dass im Nationalsozialismus Le Bons Erkenntnisse missbraucht wurden, um die Massen noch erfolgreicher in Bewegung zu bringen. Und die Literatur nach 1945 befasste sich vor allem mit der Frage, wieso Millionen einem Führer in die Katastrophe gefolgt sind.

Die aktuellen Massen-Ängste sind eine neue Erscheinung: Eine tatsächliche oder vermeintliche Gefahr wird festgestellt, die aber nicht präzise definiert werden kann wie etwa der Brand eines Hauses. Durch die modernen Nachrichtensysteme wird die Bedrohung weltweit bekannt und die Angst breitet sich aus. Da ist kein Führer am Werk, der die Massen aufwiegelt.

In gewissem Umfang kann man auch bei Corona, beim Klimawandel, bei der Finanzkrise oder bei der Flüchtlingsproblematik die Politik ansprechen: Politiker, Experten und Medien bemächtigen sich der Angst-Themen und schüren durch Meldungen, Analysen, sorgenvolle Reden, sowie manipulierte Statistiken die Wirkung. Die Politiker gewinnen an Macht, weil man von ihnen Maßnahmen verlangt und auch problematische Einschränkungen akzeptiert, die Medien steigern ihre Reichweite. Diese Erscheinungen unterscheiden sich aber grundlegend von der Gefolgschaft, die man einer magischen Persönlichkeit leistet. Das von Le Bon beschriebene Phänomen kann man immer wieder beobachten, nicht nur in der Politik, auch bei der ekstatischen Reaktion des Publikums auf manche Popstars, bei der Begeisterung für Sportler oder Schauspieler.

Die Corona-Angst ist das Ergebnis einer seit Jahrmillionen dauernden Prägung

Die Corona-Angst ist also eine neue Angst. Oder ist sie in Wahrheit gar nicht so neu, sondern vielmehr die späte Wirkung einer über Jahrmillionen erlebten und geschürten Angst? Schließlich mussten sich die Menschen über extrem lange Perioden vor Natur-Ereignissen und Krankheiten fürchten, die sie nicht beherrschen konnten. Dazu kamen immer wieder Herrscher, die sie mit unglaublicher Brutalität unterdrückt und so ständig in Angst und Schrecken versetzt haben, sowie Überfälle von Nachbarstämmen. Nicht zuletzt sorgten die Religionen für Angst vor dem Fegefeuer, vor strafenden Gottheiten. Diese Mischung hat jedenfalls zum Entstehen des nun aktiv gewordenen Angst-Potenzials entscheidend beigetragen. Und letztlich ist die Klima-Krise wieder ein Naturphänomen, das Virus ein unbekannter Krankheitserreger, die Flüchtlinge ein anderer Volksstamm und die Finanzkrise eine Strafe, die der beleidigte Gott Mammon den Menschen für das falsche Verhalten mit Geld auferlegt hat.

Also doch keine neue Angst. Nur ein Atavismus, eine uralte Prägung des Unbewussten in neuer Erscheinungsform.

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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