Weltwirtschaft

Finanzmarkt-Einbruch, Branchen-Sterben: Europa droht durch zweite Corona-Welle schwere Rezession

Lesezeit: 6 min
27.10.2020 16:11  Aktualisiert: 27.10.2020 16:11
DWN-Konjunkturexperte Michael Bernegger sieht die europäische Wirtschaft durch eine zweite Corona-Welle massiv gefährdet.
Finanzmarkt-Einbruch, Branchen-Sterben: Europa droht durch zweite Corona-Welle schwere Rezession
Der erste Lockdown brachte viele Gastronomie-Betriebe an den Rand der Insolvenz - eine erneute Stilllegung ihres Geschäfts würden die meisten der angeschlagenen Lokalitäten wohl nicht überleben. (Foto: dpa)

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Die Corona-Pandemie breitet sich in Europa mit ihrer zweiten Welle explosiv und exponentiell aus. Europa, die Europäische Union und die Währungsunion stehen vor einer Zerreißprobe - die Finanzmärkte vor einer brutalen Korrektur.

Größter Einschnitt der Nachkriegszeit

Die Pandemie ist der größte wirtschaftliche und gesellschaftliche Einschnitt der Nachkriegszeit. Was mit einer ersten Welle im März/ April 2020 begann, schlägt sich nicht nur in der schwersten Rezession, sondern auch in der größten Einkommens- und Vermögensumverteilung der Nachkriegszeit nieder. Wenige Branchen und Unternehmen konnten profitieren, während die Geschäftsmodelle ganzer Branchen zerschlagen wurden. Aktien einiger Unternehmen erfuhren unglaubliche Wertzuwächse, während viele Selbständige und Kleinunternehmer um Einkommen und Vermögen und in existentielle Nöte gebracht werden.

Die Pandemie ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern ein tiefgreifender, viele Bereiche umfassender gesellschaftlicher Einschnitt, der bis ins alltägliche persönliche Leben der Bürger reicht oder dieses sogar bestimmt. Vor allem Ältere und Risikogruppen sind mit Angstzuständen konfrontiert, während jüngere Erwachsene sich teilweise so verhalten, als gäbe es kein Morgen. Hart getroffen sind auch Heranwachsende, für die die Situation nur schwer zu erfassen ist. Nun ist die zweite Welle in Europa in den letzten Wochen mit einer verheerenden Wucht eingebrochen.

Ein Desaster

Das statistische Bild ist desaströs. Nach einer ersten Welle im März bis Mai, die in Europa durch Lockdowns – aber um den Preis schwerer Konjunktureinbrüche – erfolgreich unter Kontrolle gebracht werden konnte, ist nun eine explosive, exponentielle zweite Welle im Gang. Die Fallzahlen haben in Spanien und Kroatien seit Juli, in den meisten anderen Länder seit Ende August bis Mitte September zunächst leicht, aber doch sichtbar, und im Oktober dann geradezu explosionsartig zugenommen. Die registrierten Fallzahlen liegen in vielen Ländern deutlich und zum Teil um ein Vielfaches höher als im März/April, was nichts über die effektiven Fallzahlen aussagen soll.

Die registrierten Fallzahlen ergeben sich als Produkt der Anzahl durchgeführter Tests und der sogenannten Positivitätsrate. Die Anzahl durchgeführter Tests ist von Beginn der Pandemie an stetig gestiegen. Effektiv hat sich die Anzahl durchgeführter Tests in den meisten Ländern gegenüber den ersten Wochen der Pandemie um den Faktor 4 bis 20 multipliziert. Insofern ist es irreführend, die jetzigen Zahlen der registrierten Neuinfektionen mit denjenigen der ersten Welle gleichzusetzen oder ohne Berücksichtigung dieser Tatsache zu vergleichen.

Die Positivitätsrate, definiert als Anteil positiver Befunde an der Gesamtzahl der durchgeführten Tests, war in der ersten Welle der Pandemie am höchsten. Sie erreichte in nicht wenigen Ländern Europas sowie in den Vereinigten Staaten Werte von 20 bis 30 Prozent. In Deutschland erreichte sie nur in einer einzigen Woche fast zehn Prozent, lag also immer viel tiefer. Wegen der Knappheit der Tests, die erst frisch entwickelt und industriell erst sehr begrenzt produziert waren, wurden damals hauptsächlich Personen mit deutlich sichtbaren Symptomen getestet. Eine so hohe Positivitätsrate von zehn Prozent und erst recht von 20 bis 30 Prozent impliziert, dass die effektiven Fallzahlen viel höher liegen als die statistisch erfassten Fallzahlen.

In praktisch allen Ländern Europas ist die Positivitätsrate in den letzten Wochen gegenüber den Sommermonaten steil angestiegen ist und liegt heute so hoch oder noch höher als in der ersten Welle. Nach dem Abflauen der ersten Welle war die Positivitätsrate der Tests extrem eingebrochen. In vielen Ländern sank sie auf 0,5 Prozent bis zwei Prozent. Weil gleichzeitig die Tests massiv ausgeweitet wurden, war noch bis vor Kurzem die Verbreitung des Coronavirus mit Sicherheit gering. Das gilt ganz speziell für Deutschland, wo häufig getestet wurde, mit sehr niedrigen Positivitätsraten.

In nicht wenigen Ländern sind die Positivitätsraten von 0,5 Prozent bis zwei Prozent in den Sommermonaten Juni/Juli wieder über zehn Prozent angestiegen, in einigen sogar wieder auf 20 bis 30 Prozent und inzwischen noch mehr, was ein untrügliches Anzeichen für eine noch viel breitere Welle ist. Die explosiv ansteigenden Positivitätsraten sind in Europa der hauptsächliche Faktor hinter dem Anstieg der registrierten Neuinfektionen in den letzten Wochen und Monaten. Nur in wenigen Ländern sind die Testzahlen massiv gesteigert worden, doch auch dort erklären sie nur einen kleineren Teil des Anstiegs der registrierten Neuinfektionen.

Die europäische Statistik weist die Positivitätsraten jeweils für einen Wochendurchschnitt aus, entsprechend ist sie etwas verzögert. Die hier zuletzt gezeigten Daten reflektieren die Werte der Woche 42, der Woche vom 12. bis 18. Oktober. Bereits damals lagen sie in den Niederlanden und der Tschechischen Republik bei 26 (!!!) Prozent, in vielen anderen Ländern bei knapp über zehn Prozent: Frankreich, Spanien, Belgien, Schweiz, Bulgarien, Kroatien, Ungarn, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien.

In der Woche W43 (19.-25. Oktober) und der Woche W44 (26. Oktober bis 2. November) haben sich die Fallzahlen je grob verdoppelt, praktisch in all diesen Ländern und auch in Deutschland. Die Testzahlen sind gegenüber der Vorwoche W42 nicht wesentlich angestiegen, so dass die Schlussfolgerung zulässig ist, dass jetzt in der Mehrzahl der EU-Länder die Positivitätsrate der durchgeführten Tests gegen 20 Prozent und in einigen Ländern weit darüber sein dürfte. Beispiele: In Frankreich und Belgien, wo tägliche Daten publiziert werden, liegen sie jetzt bei knapp 20 Prozent, in der Schweiz bei über 25 Prozent.

Das sind die Niveaus der ersten Welle. Auch in anderen großen Ländern wie Italien oder im Vereinigten Königreich dürften sie jetzt über zehn Prozent angestiegen sein, in Deutschland auf 5 bis 6 Prozent. Die Entwicklung in Deutschland macht den Anschein, als ob sie zwei Wochen hinter derjenigen in den anderen Ländern hinterherhinkt, dass aber die Dynamik nicht fundamental verschieden ist.

Flächendeckend betroffen

Hatte sich das Geschehen in der ersten Welle auf einige Länder mit sehr hohen Fallzahlen konzentriert (Italien, Spanien, Frankreich, Vereinigtes Königreich, daneben Belgien), so ist es heute breit basiert. Praktisch alle Länder Europas sind betroffen, es gibt nur wenige Ausnahmen. Besonders hervorstechend:

  • Die Länder Ostmitteleuropas inklusive der bevölkerungsmäßig großen Ukraine und Russland sind diesmal ebenso hart getroffen, nachdem außer Russland die meisten von der ersten Welle weitgehend verschont geblieben waren. Ja, einige der ostmitteleuropäischen Länder gehören heute zu den am härtesten getroffenen Ländern. Dies gilt vor allem für die Tschechische Republik, die mit weitem Abstand herausragt, aber auch für Slowenien, die Slowakei, Ungarn, Kroatien sowie für Polen und Rumänien. Letztere sind die beiden bevölkerungsmäßig großen Länder. Praktisch nur noch das kleine Estland zeigt ein günstiges Bild.
  • Auch in Westeuropa hat sich das Bild etwas verschoben. Besonders zwei Länder, die in der ersten Welle gut abgeschnitten haben, stecken in einer akuten Krise, nämlich die Niederlande und die Schweiz. Wiederum wie in der ersten Welle an der Spitze liegt mit großem Abstand Belgien. Unter den großen Ländern ist das Bild in Frankreich und in Spanien nach wie vor miserabel, ebenso im Vereinigten Königreich. Deutschland liegt wie in der ersten Welle weit unten in der Tabelle der betroffenen Länder, schneidet auf relativer Basis mit anderen Worten bisher sehr gut ab. Einzig bevölkerungsmäßig kleine Länder wie Finnland, Zypern oder Malta scheinen sich absolut gesehen einigermaßen gut zu schlagen.

Innerhalb der meisten Länder ist die regionale Verteilung breit basiert und keineswegs mehr auf einige große Hotspots wie urbane Zentren und Groß-Agglomerationen konzentriert. Viele kleinere Städte, regionale Neben-Zentren und Regionen sind nun auch betroffen. Vor allem sind auch ländliche Gebiete teilweise voll erfasst. Das ist insofern bedeutend, als dort in vielen Ländern die medizinische Versorgung im Zuge von Privatisierungen und Sparpolitik heruntergefahren worden sind.

Alle Altersgruppen

Auch innerhalb der Altersgruppen ist die Verteilung viel breiter, ja es lässt sich formulieren, dass vor allem die Gruppe der 20-40-Jährigen eine eigentliche Vorreiterrolle bei der Verbreitung des Virus gespielt haben. In der ersten Welle waren vor allem Ältere und Senioren über 70 oder sogar 80 Jahren erkrankt und/oder gestorben. Die geringe Zahl der Todesfälle in den Sommermonaten ist darauf zurückzuführen, dass vor allem junge Menschen neu infiziert wurden, mit ihren statistisch niedrigen Sterberisiken. Doch jetzt diffundieren die Ansteckungsziffern auch in die höheren Altersgruppen und erfassen wie in der ersten Pandemiewelle auch die über 65-Jährigen.

Die Ausbreitung scheint vor allem innerfamilär zu erfolgen, durch den Kontakt von Jüngeren mit den Senioren. Dies hat Auswirkungen auf die Hospitalisationen - die Einlieferung in Spitäler und in die Intensivstationen. In einigen Ländern sind die Spital-Kapazitäten, die Bettenzahl in Intensivstationen und vor allem die Ressourcen des medizinischen Personals bereits wieder am Anschlag. Die Betreuung in Spitälern, vor allem in Intensivstationen, ist sehr arbeitsintensiv. Auf breiter Ebene zeichnet sich ab, dass die technischen und personellen Kapazitäten innerhalb kurzer Zeit ausgereizt sein könnten. Wichtig ist nämlich, dass es eine zeitliche Verzögerung von zwei bis vier Wochen zwischen den Neuansteckungen und der Einlieferung in Spitäler und vor allem in die Intensivstationen mit den Beatmungsgeräten gibt. Bei den Patienten auf Intensivstationen ist die Todesfallrate scharf angestiegen. Was sich bei Überschreitung der schweren Verläufe über die Kapazitäten des Gesundheitssystems abzeichnen würde, wäre ein dramatischer Anstieg der Todesfallrate, weit über die bisher genannten Ziffern hinaus. Damit verbunden wäre wohl ein Zusammenbruch des Vertrauens, mit allen ökonomischen Folgeeffekten. Der Lockdown würde von der Bevölkerung in Panik vorweggenommen.

Lesen Sie morgen den zweiten Teil der großen Corona-Konjunktur-Analyse von Michael Bernegger:

  • Wie Europas Entscheidungsträger sich über Trump mokieren - aber selbst kein Konzept haben
  • Warum die Zeit drängt
  • Welcher Umstand Hoffnung macht


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