Finanzen

Die Finanz-Jongleure der EU üben neue Tricks - besser wäre es, wenn sie den Banken die Arbeit nicht erschweren würden

Lesezeit: 6 min
05.12.2020 08:59  Aktualisiert: 05.12.2020 08:59
Plötzlich taucht der Krisenfonds ESM aus der medialen Versenkung wieder in der öffentlichen Debatte auf. Doch was genau ist der ESM, was kann er leisten? Statt ständig neue Tricks zur Verhinderung von Finanzkrisen aus dem Ärmel zu zaubern, sollten Europas Aufseher lieber den Banken erlauben, ungestört ihre Arbeit zu machen, kommentiert Ronald Barazon.
Die Finanz-Jongleure der EU üben neue Tricks - besser wäre es, wenn sie den Banken die Arbeit nicht erschweren würden
Ein Jongleur im Gegenlicht. (Foto: dpa)

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Jongleure ernten den größten Applaus, wenn nicht nur die Hände mit besonders vielen Bällen und Ringen spielen, sondern auch die Füße zum Einsatz kommen. Die Finanzkünstler der EU haben diese Woche ihre Kunststücke durch eine zusätzliche Variante ergänzt. Der Jubelschrei lautet: „Der ESM hat doch noch die Möglichkeit, 400 Milliarden Euro bereitzustellen, da eröffnen sich spannende Perspektiven.“ Doch halt, wer oder was ist der ESM, wieso schlummert da unbemerkt eine Finanzierungskapazität von 400 Milliarden? Und wieso wird dieser Schatz gerade jetzt gehoben?

Der ESM ist keine Institution der EU, sondern ein Konstrukt der Euro-Staaten

Fragen über Fragen. Nicht einmal die Fragen selbst stimmen. Der Schatz wird nicht jetzt gehoben, sondern soll ab 2022 genützt werden. Worin besteht also der aktuelle Wert dieser Nachricht? In der aufregenden Mitteilung, dass ursprünglich von 2024 die Rede war.

Auch die Bemerkung, dass die „Finanzkünstler der EU“ eine neue Jongliervariante ausprobieren, stimmt zwar, aber nur bedingt. Hinter dem Kürzel ESM versteckt sich der „Europäische Stabilitätsmechanismus“. Das ist eine in Luxemburg ansässige, bankähnliche Einrichtung der 19 Euro-Staaten und somit keine Institution der EU. Der ESM soll Euro-Staaten in Not, die keine und nur mehr extrem teure Mittel auf den Märkten bekommen, mit günstigen Finanzierungen aushelfen.

Bisher wurden seit der Finanzkrise 295 Milliarden Kredite vergeben, derzeit sind noch knapp 90 Mrd. ausständig, 60 von Griechenland, 24 von Spanien und 6 von Zypern. Der Fonds hat von den 19 Mitgliedstaaten einen Rahmen für die Vergabe von Ausleihungen in der Höhe von 500 Mrd. Euro genehmigt bekommen, also sind nicht nur 400, sondern sogar 410 Mrd. verfügbar. Die erforderlichen Mittel beschafft sich der ESM über den Kapitalmarkt, wobei die 19 Euro-Staaten für die Schulden haften.

Am Ende zahlt der Steuerzahler doch bei jeder Bankenpleite

Die gefeierte Neuerung besteht im Beschluss, dass der ESM ab 2022 einspringen kann, wenn eine andere Institution in Not gerät: Sollte der SRF zahlungsunfähig werden, kommt künftig Hilfe vom ESM! Wieder ein geheimnisvolles Kürzel, SRF steht für den „Single Resolution Fund“, der die Abwicklung von bankrotten Großbanken besorgen soll. Dafür wird ein eigener Fonds von den Banken dotiert, damit das Geld im Ernstfall zur Verfügung steht und nicht die Steuerzahler einspringen müssen. Bislang konnte man aber nur rund 40 Mrd. Euro zusammentragen, womit im Ernstfall nicht einmal eine Großbank gerettet werden kann. Also braucht man den ESM als Rückversicherung.

Kleine Ironie am Rande: Der SRF sollte mit eigenen Mitteln aus den Beiträgen der Banken die Abwicklungen besorgen, damit die Staaten und somit die Steuerzahler nicht belastet werden. Und jetzt: Der ESM ist nur für die Vergabe von Krediten zuständig, also würden über den SRF rückzahlbare Finanzierungen an die zur Debatte stehenden Krisen-Banken fließen. Ob diese tatsächlich die Hilfsgelder zurückzahlen werden, ist äußerst fraglich. Für Verluste des ESM haften aber die 19-Euro-Staaten, sodass man letztlich mit der Bankenrettung wieder beim Steuerzahler landet.

Der ESM stellte schon im April ein Milliarden-Programm für das Gesundheitswesen bereit, das bisher niemand genützt hat

Der ESM mit seiner gigantischen Finanzierungskapazität hatte schon im Frühjahr die Aufmerksamkeit der Politik erregt. Im Anfangsstadium der Corona-Krise war davon die Rede, dass der ESM den Staaten 240 Milliarden-Euro Darlehen zur Verfügung stellen würde. Das Angebot erschien den Finanzministern nicht attraktiv, weil sie das Geld auf dem Markt zu gleichen oder noch günstigeren Bedingungen bekommen.

Dabei hatte man im ESM von sich aus gar nicht die Absicht geäußert, einen Geldregen über die Staaten auszugießen. Der ESM bot vielmehr bereits im April ein spezielles Programm zur Finanzierung von Investitionen im Gesundheitswesen an. Man hatte also den entscheidenden Punkt getroffen und wollte genau bei der Schwachstelle ansetzen, der die Corona-Krise so groß werden ließ. Von diesem Konzept war dann in den politischen Diskussionen nicht die Rede, man feierte eine generelle Hilfe, die Rede war von 240 Milliarden, die man in der Folge nicht in Anspruch nahm.

Das Gesundheitswesen ist in den meisten europäischen Staaten immer noch unzureichend ausgestattet und vor allem den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen. Vor wenigen Tagen, im achten Monat der Krise, erinnerte man sich in der italienischen Regierung, dass man doch Milliarden für das krisengeschüttelte Gesundheitswesen vom ESM bekommen könnte.

Der ESM ist wegen der strengen Auflagen nicht sehr beliebt. Das könnte sich jetzt ändern.

Der ESM war und ist immer noch seinem Gründungsauftrag verpflichtet und hat maroden Staaten in Krisen zu helfen. Allerdings darf der ESM nur zahlen, wenn die Staaten glaubwürdige Sanierungsprogramme umsetzen. Diese Einschränkung lässt Finanzminister zögern, wenn ein Besuch in Luxemburg zur Debatte steht. Da klingt das Förderungsprogramm der EU-Kommission „Next Generation EU“ über 750 Mrd. Euro schon freundlicher. Diese Mittel will man ohne strenge Auflagen vergeben, wie man sie etwa aus der missglückten Sanierung von Griechenland kennt.

Nun hat sich aber die EU eine Falle gestellt, aus der sich vorerst kein Ausweg abzeichnet. Die EU-Gremien haben beschlossen, dass Geld aus Brüssel gestrichen wird, wenn ein Mitgliedstaat die Menschenrechte verletzt. Die Adressaten dieser Bestimmung haben prompt reagiert: Ungarn und Polen blockieren die Zustimmung zum 750-Milliarden-Paket. Da sich aber die anderen Staaten die Blamage einer Rücknahme der Menschenrechte-Bedingung ersparen wollen, sinnt man auf Alternativen.

Und da ist natürlich der ESM besonders attraktiv, weil er keine Institution der EU, sondern eine Einrichtung der Euro-Staaten ist und weder Polen noch Ungarn den Euro als Währung haben. Man muss aber nicht unbedingt den ESM einschalten. Der derzeit als Verfassungsersatz geltende „Lissabonner Vertrag“ sieht vor, dass eine Gruppe von EU-Staaten sich bei einem zu definierenden Projekt für einen eigenen Weg unabhängig von den übrigen Mitgliedern entscheiden können, sei es im militärischen, im wirtschaftlichen oder einem anderen Bereich. Also könnte man einen Fonds „Next Generation EU“ ohne Polen und Ungarn gründen. Womit allerdings die viel beschworene und immer wieder verratene Solidarität innerhalb der EU eine neue gewaltige Schramme bekäme.

Der 750-Mrd.-Fonds mag vielleicht auf diese Weise gerettet werden. Doch geht es nicht nur um das Corona-Wiederaufbau-Programm. Zur Debatte steht auch das Basis-Budget der EU-Kommission, aus dem die Landwirtschaft, die Regionalentwicklung, die Forschung und andere Sparten dotiert werden. Ohne die Zustimmung der Mitglieder zu dem 1.100 Milliarden umfassenden Budget für 2021 bis 2027 ist die Kommission ab kommendem Jänner zahlungsunfähig. Und die EU-Kommission kann man nicht nur durch einen Teil der EU finanzieren, da müssen alle Mitgliedstaaten zustimmen und zahlen. Ungarn und Polen blockieren derzeit die gesamte EU. Diese Woche gab es allerdings einen untauglichen, aber immerhin gestarteten Versuch aus Warschau, einen Kompromiss zu finden.

Das Bankwesen wird durch unsinnige Regulierungen gelähmt

Die Jongleure verlieren auf diese Weise ständig Bälle und blamieren sich. Zu allem Überfluss ist die dargebotene Veranstaltung über weite Strecken nicht nur peinlich, sondern auch fehl am Platz. Beim Beschluss, den ESM als Retter des Bankenpleitenfonds zu installieren, feierten die Finanzminister den vermeintlichen Umstand, dass sie nun eine weitere Absicherung des Bankwesens und eine Ergänzung der Bankenunion zustande gebracht hätten. Schließlich, so lautete die staatstragende Erklärung, sei der Bankensektor für eine funktionierende Volkswirtschaft von essentieller Bedeutung. Interessant, dass man diesen Umstand doch kennt. Die Praxis der Bankenpolitik weist nämlich in die gegenteilige Richtung: Dominant ist die Behinderung der Banken durch unsinnige Vorschriften, wodurch sie genau ihre volkswirtschaftliche Rolle nur beschränkt wahrnehmen können.

Seit der Finanzkrise 2008 wird am Bankwesen herumgedoktert und stets mit den falschen Konzepten. Und vor allem mit einem fundamentalen Fehler: Mit dem Bemühen, jedes Risiko auszuschalten, ein Phänomen, das aktuell auch in zahlreichen anderen Bereichen zu beobachten ist. Risiko ist Teil des Lebens, es gibt kein Leben ohne Risiko. Im Bankgeschäft gilt dieser Grundsatz in besonderer Weise. Jeder Kredit birgt das Risiko des Ausfalls in sich. Eine Politik, die das Risiko in den Banken bekämpft, bekämpft die Banken.

Dies wird gerade in der aktuellen Krise überdeutlich. Die Aufsichtsbehörden agieren in panischer Angst vor Bankenpleiten und sorgen dafür, dass möglichst nur staatlich garantierte Kredite vergeben werden. Dass man im Eifer, jedes Risiko zu verhindern, Milliarden-Luftschlösser von Großbetrügern nicht erkennt, ist nicht weiter verwunderlich. Man muss schließlich kontrollieren, ob Kleinbanken ihre Melde-Formulare richtig und pünktlich ausfüllen.

Bankenpleiten wird es immer geben. Daran ändert die Regulierungswut nichts.

Risiko muss gemanagt werden: Kreditausfälle dürfen eine Bank nicht ruinieren. Daraus resultiert die Notwendigkeit einer breiten Streuung der Finanzierungen und der Einhaltung einer von der Bank verkraftbaren Obergrenze bei den einzelnen Risiken. Das sind die zwei wichtigsten Kriterien, die eingehalten werden müssen und die auch Gegenstand einer staatlichen Aufsicht sein sollen.

Aus den übertriebenen und oft unsinnigen Vorschriften resultieren die bekannten Grotesken: Eine gefährliche Milliarden-Spekulation kann ungehindert gefahren werden, ein 30.000-Euro-Kredit an einem Gewerbetreibenden wird als vermeintlich gigantisches Risiko nicht gegeben. In den Aufsichtsbehörden stapeln sich in analoger und digitaler Form unzählige Informationen, die durch die schiere Zahl die Aufseher überfordern. In diesem vor allem seit der Finanzkrise 2008 entstandenen Wust sollte die Politik aufräumen, statt mit Hilfe des ESM eine weitere Kulisse aufzustellen, um Pleite-Banken vielleicht doch noch retten zu können.

Bankenpleiten wird es immer geben, das kann auch die strengste Aufsicht nicht verhindern. Und wenn viele Kunden, die schließlich Wähler sind, Gefahr laufen, ihr Geld zu verlieren, wird immer der Staat einspringen und so die Steuerzahler, die nebenbei auch Wähler sind, belasten. Der entscheidende Beitrag, den die öffentliche Hand leisten könnte, ist die Definition weniger, aber klarer Rahmenbedingungen, damit die Institute bestmöglich arbeiten können. Die Kombination von detailverliebten Aufsehern, die wochenlang die Bankmitarbeiter quälen, und tollpatschigen Jongleuren auf dem politischen Parkett ergibt die klägliche Realität der Bankenpolitik.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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