Politik

Eine kurze Geschichte des Rechtsstaats

Der Begriff des Rechtsstaates steht am Ende einer über Jahrhunderte verlaufenen Entwicklung philosophischen Denkens.
26.12.2020 12:27
Aktualisiert: 26.12.2020 12:27
Lesezeit: 7 min
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Eine kurze Geschichte des Rechtsstaats
Ein Mann steht in einer Ausstellung zum Renaissance-Genie Leonardo da Vinci. (Foto: dpa)

Prof. Dirk Sauerland, Inhaber des Lehrstuhls für Institutionenökonomik und Gesundheitspolitik an der Universität Witten/Herdecke, definiert den Begriff Rechtsstaatlichkeit folgendermaßen:

„Als Rechtsstaat wird ein Staat bezeichnet, in dem politische Herrschaft nur aufgrund und im Rahmen des Rechts ausgeübt wird (Grimm). Hierbei werden an eine Anerkennung hoheitlichen Handelns als legitimes Recht formelle und inhaltliche Voraussetzungen geknüpft, die dazu dienen, den einzelnen vor Übergriffen des Staates in seine individuellen Freiheitsrechte zu schützen. Zwar kann der Gedanke eines rechtlich gebundenen Staates bis in den Beginn der Neuzeit zurückverfolgt werden, doch kennzeichnet Rechtsstaatlichkeit als anerkanntes Verfassungsprinzip erst die liberal-bürgerlichen Gesellschaften am Anfang des 19. Jahrhunderts. Wenn auch der Begriff des Rechtsstaates eng mit spezifisch dt. Rechtstraditionen verbunden ist, so weist er doch einige deutliche Entsprechungen mit Grundelementen des angelsächsischen Verständnisses von ‚Rule of Law‘ bzw. ‚Government under the Law‘ auf.“

1. Ursprünge in der griechischen Antike

Dass der Mensch von Natur aus über unabänderliche Rechte verfügt, dass diese im Staat verfassungsrechtlich verankert und von der Obrigkeit respektiert werden müssen und dass durch unabhängige Gerichte Rechtssicherheit gewährleistet werden solle – solche Ideen wurden erstmals in der griechischen Antike formuliert.

Schon ab dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert entwickelte sich im griechischen Denken die Vorstellung, dass jeder Mensch von Geburt an (von Natur aus) über ewige und von politischen und zeitlichen Einflüssen unabhängige Rechte verfügt. Diese unter anderem von Heraklit, Platon und Aristoteles formulierten Theorien wurden später als Naturrecht bezeichnet. Unter der Natur wird dabei das „Wesen“ des Menschen verstanden, aus dem sich die Bedingungen für ein gutes Zusammenleben unter Inanspruchnahme der Vernunft herleiten ließen. Das Naturrecht der Antike ist damit auch eng mit dem modernen Begriff der Menschrechte und des Rechtsstaats verbunden.

2. Rückgriff auf das Naturrecht im Zeitalter der Aufklärung

Den naturrechtlichen Idealen der Antike wurde im Mittelalter aufgrund der Fokussierung auf die Religion und das Jenseits weniger Beachtung geschenkt. Eine wichtige Ausnahme stellt die Philosophie Thomas von Aquins dar, deren zentrale Synthese aus göttlichem Geist und menschlicher Vernunft erstmals im christlichen Theologieverständnis die Vernunft ins Zentrum der menschlichen Natur rückte. Zu Thomas von Aquins Philosophie schrieb der Rechtshistoriker Uwe Wesel: „Kraft seiner Vernunft vermag der Mensch, die lex aeterna lediglich in groben Zügen zu erkennen, versteht es aber in einer dritten Ordnungssphäre, der lex humana, Recht selbst zu setzen und in Kirche und Staat danach zu leben. Widersprüche, die sich im Verhältnis zwischen Staat und Kirche ergaben, waren zugunsten des Vorrangs des kirchlichen Rechtsanspruchs zu lösen, da gesatztes Recht am göttlichen Schöpfungsplan lediglich partizipierte. Zum Naturrecht gehörten etwa der alttestamentarische Dekalog, der Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb, Geselligkeit und Gotteserkenntnis.“

Mit der Rückwendung zu philosophischen Traditionen der Antike während des Zeitalters der Renaissance (ab etwa 1450) setzte die schrittweise Rückkehr des antiken Naturrechts ins europäische Denken ein. Besondere Bedeutung kam hierbei der Reformation zu: Weil nun mehrere christliche Glaubensgruppen und Kirchen in Europa existierten und theologische Fragen deshalb auch immer einen sozialen und politischen Sprengstoff bargen, begab man sich auf die Suche nach überkonfessionellen Elementen, welche anstatt des verminten Feldes der Theologie als Basis für staats- und verfassungsrechtliche Philosophien dienen konnten. Das Naturrecht wurde in der Folge tendenziell von religiösen Inhalten abgetrennt.

Noch stärker fand dies im sich an die Renaissance anschließenden Zeitalter der Aufklärung (etwa ab 1650) statt. Hervorzuheben sind etwa der britische Philosoph Thomas Hobbes und sein niederländischer Zeitgenosse Hugo Grotius. Die Verfechter der Idee von Gleichbehandlung und Gerechtigkeit für alle Menschen waren nicht selten auch Verfechter einer Emanzipation der Bürger gegen die feudalen Aristokraten. Auch dem kritischen Verstand des Menschen kam bei der Suche nach Freiheit, Gleichbehandlung sowie dem Recht auf Eigentum wieder eine größere Bedeutung zu.

Wichtig ist, dass auch die während der Aufklärung aufgestellten Theorien kein einheitliches System darstellten. So gab es beispielsweise große Unterschiede zwischen den Ansätzen von Grotius und Hobbes. Der erstgenannte betonte den gemeinsamen Willen, aus dem ein unverbrüchlicher Vertrag hervorgehen sollte. Dieser Vertrag sei das einzig gültige einigende Band zwischen unterschiedlichen Parteien und bedürfe auch keines Staates, um zu gelten. Hobbes hingegen vertrat die Auffassung, dass nur der Staat die Anwendung des Rechts garantieren könne, dessen Legitimation sich aus der Natur des Menschen ableite. Beiden Männern wird von der heutigen Forschung eine wichtige Vordenkerrolle bei der Entwicklung des Begriffs der „Menschenrechte“ zugewiesen. Die Menschenrechte wiederum nehmen – vor allem für den deutschen – Rechtsstaatsbegriff eine zentrale Funktion ein.

Gott und die Theologie konnten sich aber trotz der unverkennbaren Abnabelung von verfassungsrechtlichen Fragen und juristischen Philosophien im Zeitalter der Aufklärung weiterhin in manchen Denkgebäuden behaupten. So stimmte beispielsweise für Samuel von Pufendorf, welcher die unterschiedlichen Ansätze Grotius‘ und Hobbes‘ später in seinen Ideen miteinander verschmolz, das Naturrecht mit der christlichen Offenbarung überein, da beide ihren Ursprung in Gott hätten.

3. Die Entwicklung des Rechtsstaates in Deutschland

Befruchtet vom Entstehen der parlamentarischen Demokratie in England im 18. Jahrhundert sowie von den Idealen der französischen Revolution ab 1789 setzten sich in den deutschen Staaten im 19. Jahrhundert zunehmend Ideen eines liberalen Rechtstaates durch, welche insbesondere von den oberen Schichten des Bürgertums in der Zeit des Vormärz (1815 bis 1848) propagiert wurden. Auch die Erfahrungen mit den in zahlreichen deutschen Ländern ab etwa 1806 unter Napoleon erlassenen Verwaltungs- und Rechtsreformen dürften dazu beigetragen haben.

Wesentliche Inhalte des deutschen Rechtstaatsgedanken – welchen es in dieser Form so in Großbritannien oder Frankreich nicht gibt (dort spricht man schlicht von Demokratie oder Verfassung) – umfassen das Recht auf Freiheit vor Übergriffen monarchistischer oder feudaler Bevormundung, die Bindung des staatlichen Handelns an Gesetze, Gleichheit vor dem Gesetz, Rechtsschutz durch unparteiische Gerichte sowie freier Handel, Gewerbefreiheit, Vertragsfreiheit sowie Recht auf Privateigentum und Garantie desselben in der Wirtschaft.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde der Rechtsstaatsgedanke in den deutschen Staaten und ab 1871 im Deutschen Reich dann weiterentwickelt und ausgeformt. Die verheerenden Auswirkungen des ungeregelten Kapitalismus auf breite Bevölkerungsschichten machten beispielsweise die Anreicherung des Systems mit sozialstaatlichen Maßnahmen wie Umverteilung zu den Ärmsten oder die Gründung von Versicherung für die Arbeiterschaft unter Bismarck notwendig.

Die katastrophalen Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus initiierten nach 1945 zudem die Anreicherung des bislang rein formalen Rechtsstaates mit höherrangigen Werten wie etwa die „Würde des Menschen“, welche nicht zufällig den ersten Artikel des im Jahr 1949 geschaffenen Grundgesetzes einnimmt. Denn nach 1933 musste man erkennen, dass der NS-Staat seine zerstörerischen Taten formal mit Gesetzen legitimierte und deshalb gar nicht gezwungen war, das juristische System der Weimarer Republik grundlegend zu verändern. Die Anbindung des formalen Rechtsstaates mit seinen Gesetzen und Verfahrensordnungen an übergeordnete materielle Werte sollte einen solchen Missbrauch in Zukunft verhindern helfen.

Der Rechtsstaat im Grundgesetz

Der Begriff „Rechtsstaat“ kommt im Grundgesetz nur einmal vor, in Art. 28 als verbindliche Verfassungsordnung für die Länder – für den Bund wird er damit vorausgesetzt, schreibt der Politologe Horst Pötzsch. Der Rechtsstaat findet seinen Ausdruck vor allem in der Garantie der Grundrechte und in der Unabhängigkeit der Rechtsprechung. Darüber hinaus wird er in vielen Artikeln des Grundgesetzes näher beschrieben. Zu den wichtigsten gehören:



Artikel 20

(Absatz 3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.

„Als erste deutsche Verfassung hat das Grundgesetz den Vorrang der Verfassung vor der Gesetzgebung eingeführt. Damit sollte verhindert werden, dass – wie in der Weimarer Republik – mit verfassungsändernden Mehrheiten Gesetze beschlossen werden, die gegen die Verfassung verstoßen (Verfassungsdurchbrechung). Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bindet die Verwaltung an die Gesetze. Er schließt beispielsweise Ermessensentscheidungen aus, die gegen ein Gesetz oder eine andere Rechtsvorschrift verstoßen“, schreibt Pötzsch dazu.

(Absatz 4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Pötzsch schreibt hierzu: „Das Widerstandsrecht wurde erst im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung von 1968 in das Grundgesetz aufgenommen. Widerstand ist nur zulässig gegen den Versuch, ‚diese Ordnung‘ zu beseitigen, das bedeutet die Verfassungsordnung, wie sie in den vorausgehenden Abs. 1–3 des Art. 20 festgelegt ist: Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat, Sozialstaat. Widerstand kann sich gegen ‚jeden‘ richten, sowohl gegen die Staatsgewalt, einen ‚Staatsstreich von oben‘, als auch gegen revolutionäre Kräfte, einen ‚Staatsstreich von unten‘. Widerstand ist nur erlaubt, wenn ‚andere Abhilfe nicht möglich ist‘. Es ist das letzte Mittel, wenn die Institutionen des Rechtsstaates, insbesondere die unabhängigen Gerichte, nicht mehr handlungsfähig sind. Auf das Widerstandsrecht kann sich nicht berufen, wer einzelne staatliche Handlungen, zum Beispiel die friedliche Nutzung der Kernenergie, aus Gewissensgründen ablehnt.“

Artikel 19

(Absatz 4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben.

Pötzsch: „Diese Rechtsweggarantie beseitigt die ‚Selbstherrlichkeit der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger‘ (Bundesverfassungsgericht), der Einzelne steht nicht als ‚Untertan‘ einer nach Belieben handelnden ‚Obrigkeit‘ gegenüber. In der Regel sind Verwaltungsgerichte für Klagen gegen die Verwaltung zuständig. Glaubt ein Bürger, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein, so kann er nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde einlegen.“

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