Weltwirtschaft

Keine Demokratie, sondern ein Sumpf: Wie Lobbyisten und die Elite des US-Kongresses das Stimulus-Gesetz heimlich aushandelten

Lesezeit: 5 min
27.12.2020 12:45
Im zweiten Teil seiner großen Analyse des billionenschweren US-Konjunkturprogramms zeigt DWN-Kolumnist Michael Bernegger, mit welchen Methoden in Amerika Politik gemacht wird.
Keine Demokratie, sondern ein Sumpf: Wie Lobbyisten und die Elite des US-Kongresses das Stimulus-Gesetz heimlich aushandelten
Die US-Demokratie ähnelt in Teilen einem Sumpf. (Foto: dpa)

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Genauso wie das Stimulus-Gesetz ist auch das parallel verabschiedete Budget für das Finanzjahr 2021 eine absolute Wundertüte. Die Bürger werden eh völlig im Dunklen gelassen – und sogar die überwiegende Zahl der Abgeordneten hat keinen Einblick.

Dass so eine weitreichende Entscheidung einfach so durchgeht, hat auch mit der Organisation des gesetzgeberischen Prozesses in den USA zu tun: Die ganze Ausarbeitung des Gesetzes-Vorschlages und des Budgets lag exklusiv bei den Spitzen im Kongress und ihren Stäben, also bei Nancy Pelosi, Mitch McConnell sowie bei Finanzminister Steven Mnuchin. Die Parlamentarier inklusive der zuständigen Komitee-Mitglieder waren kaum oder nur ungenügend involviert. Sie erhielten erst wenige Stunden vor der aus zeitlichen Gründen sehr kurzfristig angesetzten Abstimmung die finalen Dokumente zum Studium, nicht weniger als 5.500 Seiten. Zudem waren die zugeschickten Dateien noch beschädigt, so dass die Parlamentarier, abgesehen von den Überschriften, praktisch ohne Kenntnis der Inhalte abzustimmen hatten. Nach über halbjährigen Verhandlungen hatten sie nur noch die Wahl, entweder mit „ja“ zu stimmen oder das ganze Paket komplett abzuschmettern. Letzteres war politisch unmöglich. Die Parlamentarier werden erst in ein paar Wochen alle Details dessen herausgefunden haben, was sie da überstürzt abgesegnet haben. Das ganze Prozedere hat in beiden Parteien zu wutschäumenden Reaktionen geführt.

Amerikas Demokratie: Ein einziger Sumpf

Die Episode zeigt, wie Demokratie in den USA effektiv funktioniert. Sie wird von einer hoch hierarchisierten Organisation in beiden Häusern und in den Parteien dominiert, welche Informationen und Entscheidungen extrem zentralisiert und gegenüber Dritten unter Verschluss hält, und andere Parlamentarier in einen Fraktionszwang versetzt. Effektiv ist es eine extrem mächtige und gleichzeitig verfeindete Gerontokratie, welche die Szene beherrscht. Lobbyisten müssen sich ihr Zugang verschaffen, Fachexpertise spielt praktisch keine Rolle, nur „Politik“ und „spezielle Interessen“. Das setzt sich im Übrigen in der Regierung fort. Die Trump-Administration war, wie andere vor ihr, durchsetzt von solchen „Experten“.

Für ein makroökonomisch höchst problematisches Konjunkturpaket von maximal drei Monaten zeitlicher Dauer und mit falschem Fokus - Stimulus für China - werden phantastische Summen aufgeworfen. Sie sind ineffizient ausgegeben und werden die unkontrollierte Schuldenlawine der USA weiter befeuern. Jedem Amerikaner und jeder Amerikanerin (inklusive zwei Kindern) wird ein Scheck von 600 Dollar ausgehändigt, auch denjenigen, welche diesen gar nicht nötig haben, weil sie voll beschäftigt und von der Pandemie insofern nicht betroffen sind. Lediglich bei hohen und sehr hohen Einkommen wird dieser Betrag reduziert oder entfällt vollständig. Die wirklich hart getroffenen Unternehmer, Selbständigen und Beschäftigten von Krisensektoren werden für weitere 11 bzw. 8 Wochen abgefedert, aber nur teilweise, nicht entschädigt für die vergangenen Monate und ohne längerfristige Perspektive. Das dürfte zukünftig für einen Lohn- und Preisdruck im Inland sorgen. Die Arbeitslosengelder werden nicht strukturell, sondern nur vorübergehend angehoben, das Moratorium für Zwangsräumungen von Häusern bzw. Wohnungen um genau zwei Monate bis Ende Februar 2021 verlängert. Die letztere Frist ist wohl von den Republikanern so kurz wie möglich nach der Machtübergabe zum neugewählten Präsidenten gesetzt. Die tickende soziale Bombe der Massen-Zwangsräumungen fällt so voll in die Präsidentschaft des Demokraten Joe Biden und nicht mehr des Republikaners Trump, der sie eigentlich verursacht hat.

Exodus der Milliardäre

Nicht nur zwischen wirtschaftlichen Sektoren, Branchen sowie Einkommens- und Vermögens-Kategorien, auch regional entsteht ein riesiges Gefälle. Aus den demokratischen Hochburgen New York, Kalifornien, Illinois oder New Jersey, um nur die bekanntesten zu nennen, hat ein wahrer Exodus von Milliardären, Multi-Millionären und Unternehmen eingesetzt, welche nach den Bundesstaaten ohne Einkommenssteuern wie Texas oder Florida Reißaus nehmen. Angeführt wird das Ganze etwa von Elon Musk, der während eines Jahrzehnts riesige Subventionen vom Bundesstaat Kalifornien für den Absatz seiner Verlustbringer-Autos bezogen hat und jetzt, wo er unter anderem dank dieser Subventionen zum zweitreichsten Menschen auf dem Planeten geworden ist, diesem Bundesstaat den Stinkfinger zeigt. Das Ganze hat gravierende Wirkungen, denn diese Bundesstaaten, effektiv die bevölkerungsmäßig größten und vor allem die wirtschaftlich stärksten der USA, werden nicht um gewaltige Budget-Streichungen von öffentlichen Diensten, Steuererhöhungen und Massenentlassungen von öffentlichen Beschäftigten herumkommen, mit sekundären Verstärker-Effekten auf die Abwanderung. Vor allem auch deshalb, weil die Pandemie inzwischen in Kalifornien und in New York wieder extrem hart zuschlägt, mit weitgehenden neuen Lockdowns.

Alles in allem ist klar, dass dieses Programm wieder nur eine Zwischenfinanzierung darstellt und keineswegs einen nachhaltigen Konjunkturschub auslösen wird. Es ist nicht nur viel kleiner dimensioniert als der CARES-Act, es ist auch zeitlich weniger weitreichend und kompensiert nicht für die aufgelaufenen Einkommensverluste der Arbeitslosen bzw. den teilweise enormen Umsatzeinbrüchen der Kleinunternehmen seit Beginn der Pandemie bzw. dem Ende der außerordentlichen Unterstützung aus dem CARES-Gesetz.

Dazu ist auch das Umfeld wichtig. Die USA sind, ähnlich wie Europa, im vierten Quartal 2020 in eine zweite oder sogar dritte, jedenfalls massiv größere Welle der Coronavirus-Pandemie geraten. In Europa scheint in einigen Ländern die Spitze gebrochen, in den USA ist sie es definitiv nicht. Die Pandemie wird nicht verschwinden, sondern angesichts voll ausgelasteter Spitäler, Intensivstationen und medizinischem Personal in den nächsten Wochen weitere Einschränkungen mit gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen unvermeidlich machen. Das Programm ist eigentlich zu geringfügig, kommt zu spät und angesichts veränderter Bedingungen nicht vorausschauend.

Bloß nicht Trump helfen

Der Hintergrund für diese legislative Missgeburt ist rein politisch. Einen ungefähr gleichartigen Deal hätte die demokratische Kongressführung vom Republikaner Mitch McConnell schon viel früher haben können, einen finanziell erheblich größeren (ungefähr 1.6 Billionen Dollar) noch vor den Präsidentschaftswahlen. Das wurde damals theatralisch verworfen, weil … ein solcher Deal dem amtierenden und jetzt abgewählten Präsidenten Trump Munition im Wahlkampf verschafft hätte. Umgekehrt haben die Republikaner im Senat jetzt gebremst, nachdem sie bei den Kongresswahlen überraschend erfolgreich abgeschnitten haben. Sie wetzen die Messer, um dem neuen Präsidenten Biden schon im Voraus konjunkturellen Wind aus den Segeln zu nehmen. Erst nach den Nachwahlen in Georgia anfangs Januar wird klar sein, wer die Mehrheit im Senat innehat.

Dieses dysfunktionale und den gesamtwirtschaftlichen Interessen und den Interessen der Bevölkerung total entgegengesetzte System der Pfründe ist - genauso wie die in den Medien allein angeprangerte Unfähigkeit von Präsident Trump oder früheren Präsidenten - für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere in den Vereinigten Staaten mitverantwortlich. Das „Fait accompli“ der Kongressführung hat eine lange Vorgeschichte. Dazu gehören etwa angebliche „Glanzleistungen“ wie Obamacare, ein Selbstbedienungsladen für den medizinisch-industriellen Komplex und für die Krankenversicherungen, oder der CARES-Act. Statt eines durchdachten, kohärenten mittel- und langfristig ausgerichteten Planes wird ein ad-hoc Minimalkonsens für wenige Monate zusammengezimmert und mit irrsinnigen Zahlungen, Steuervergünstigungen und der Einräumung regulatorischer Arbitrage-Möglichkeiten an Spezialinteressen überfrachtet. Der Kongress hat effektiv überhaupt nichts zu sagen, die gewählten Volksvertreter dürfen lediglich absegnen, was die Kongressführung abgeschottet ausgearbeitet hat. Da die präsentierte Lösung oder der Kompromiss effektiv nichts taugen, kommt die nächste Notlage unweigerlich, im Falle des CARES-Act schon wenige Monate später, genug um begleitet von Medienspektakel den nächsten Hinterzimmer-Deal aufzugleisen und dann in Extremis einzutüten. Ändert sich nichts an dieser Konstellation, darf man sich auf eine Wiederholung per Mitte März 2021 einstellen, notfalls verzögert um einige Monate.

Wer unter den Parlamentariern den letzten Rest von Selbstachtung, Selbstvertrauen und Achtung vor dem Volkswillen noch nicht eingebüßt hat, kann kein Interesse daran haben, dass Mitch McConnell und Nancy Pelosi noch für eine weitere Legislaturperiode die Führerschaft im Kongress übertragen wird. Beide repräsentieren persönlich die Inkarnation des „Sumpfes“. Zuviel steht für Gesamtwirtschaft und Gesellschaft und für den Rest der Welt auf dem Spiel, als dass das korrupte Geschacher mit wiederholten klatschenden Ohrfeigen an die Kongressabgeordneten und die Bevölkerung fortgesetzt und wiederholt wird.

Addendum: Der Deal ist noch nicht in trockenen Tüchern

Überraschend meldete sich Präsident Trump zurück. Er stellte am Dienstag, den 22. Dezember Forderungen für die Verschlankung und die Aufstockung des Programms. So verlangte er die Befreiung von allen Positionen, die nichts mit der Pandemie-Hilfe zu tun haben, etwa die Auslandshilfen. Und wollte umgekehrt die monatliche Unterstützung der Haushalte von 600 Dollar auf 2000 Dollar (4000 Dollar pro Familie) aufgestockt haben. Auch die Hilfen für die Kleinunternehmen wollte er erhöht sehen. Falls der Kongress nicht nachkäme, würde er ein Veto einlegen.

Der Kongress könnte mit Zweidrittel-Mehrheit ein Veto des Präsidenten überstimmen. Unklar ist, ob Demokraten und Republikaner die Forderungen des Präsidenten aufnehmen, oder ob eine Zusatzschlaufe hinzukommt, oder ob die Position des Präsidenten den mühsam zusammen gezimmerten Kompromiss wieder hinfällig macht.


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