Die US-Entscheidung über einen bedingungslosen Abzug aller Truppen aus Afghanistan bis zum 11. September hat in dem geschundenen Land Enttäuschung und Resignation ausgelöst. Ein Mitglied des Verhandlungsteams der Regierung bei den Friedensgesprächen in Doha, das namentlich nicht genannt werden wollte, nannte den Beschluss am Mittwoch das «Verantwortungsloseste und Egoistischste», was Amerika seinen afghanischen Partnern zufügen könne. Die militant-islamistischen Taliban bestehen hingegen auf dem ursprünglich vereinbarten Termin für einen Rückzug bis zum 1. Mai.
Mit der Entscheidung von US-Präsident Joe Biden, alle amerikanischen Soldaten bis zum 20. Jahrestag der Terroranschläge in den USA von 2001 heimzuholen, geht auch der Einsatz der Bundeswehr zu Ende. Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte am Mittwoch im ARD-«Morgenmagazin»: «Wir haben immer gesagt: Wir gehen gemeinsam rein, wir gehen gemeinsam raus.» Der neue Termin bedeute, «dass wir unsere Planungen auch in der Nato mit den Planungen der USA synchronisieren.»
Die USA wollen nun am 1. Mai mit dem Abzug beginnen und ihn bis zum 11. September abgeschlossen haben. Das Ende des Nato-Ausbildungseinsatzes sollte noch am Mittwoch bei einer Videokonferenz der Außen- und Verteidigungsminister der 30 Nato-Staaten besiegelt werden. Unter dem früheren US-Präsidenten Donald Trump war mit den Taliban noch vereinbart worden, dass der Abzug schon bis zum 1. Mai abgeschlossen ist. Der Termin stand jedoch schon seit längerer Zeit in Frage.
Mit der Entscheidung steht für die Bundeswehr der verlustreichste Einsatz ihrer Geschichte vor dem Ende. 59 deutsche Soldaten ließen in Afghanistan ihr Leben. Davon wurden 35 in Gefechten oder bei Anschlägen getötet. Afghanistan ist zudem der zweitlängste Auslandseinsatz der Bundeswehr nach der Kosovo-Mission, die bereits 1999 begann. Aktuell sind noch 1100 deutsche Soldaten im Land. Die Gesamtzahl der internationalen Truppen beträgt etwa 10 000.
Mit Spannung wird nun erwartet, welche Konsequenzen die Entscheidung für die laufenden Friedensverhandlungen zwischen afghanischer Regierung und Taliban hat. Als Risiko gilt, dass die Taliban kurz nach einem Truppenabzug mit Waffengewalt die Macht übernehmen könnten. Für die junge Demokratie in Afghanistan und Fortschritte bei Frauenrechten oder Medienfreiheit wäre dies wohl der Todesstoß.
Aus dem Verhandlungsteam der afghanischen Regierung hieß es, der Abzug möge das Ende des Krieges für die USA sein, aber die afghanischen Partner würden den Preis dafür zahlen. Die USA hätten den Krieg mit etwas mehr Geduld auf «verantwortungsvolle Weise» beenden können. Der Abzug der internationalen Truppen war die Hauptforderung der Taliban. Nun bleiben der Regierung kaum mehr Druckmittel in den seit September laufenden Friedensverhandlungen mit den Extremisten.
Zugleich wurden die US-Ankündigungen auch von den Taliban kritisiert, weil die bis Januar amtierende Regierung von Donald Trump über das sogenannte Doha-Abkommen eigentlich einen Abzug bis Ende April in Aussicht gestellt hatte. Taliban-Sprecher Sabiullah Mudschahid erklärte, falls die Vereinbarung gebrochen werde, würden sich die «Probleme verschärfen». Mit Blick auf die USA und andere Truppensteller fügte er hinzu, jene, die sie nicht einhielten, würden dafür haftbar gemacht. Wenn das Abkommen eingehalten werde, gebe es einen Weg, um die verbleibenden Probleme anzugehen.
Damit spielte er auf den laufenden innerafghanischen Friedensprozess an. Die Friedensverhandlungen waren zuletzt ins Stocken geraten. Auch an einer US-initiierten Friedenskonferenz Ende April in der Türkei wollen die Taliban nun nicht mehr teilnehmen. Die laufenden Gespräche in Doha allerdings wolle man weiterführen, sagte Mudschahid der Deutschen Presse-Agentur.
Weitere Reaktionen in Afghanistan fielen emotionaler aus als üblich. Der Vorsitzende des Hohen Rats für Nationale Aussöhnung, Abdullah Abdullah, sagte er denke nicht, dass die Unterstützung der Welt mit der Abzugsankündigung aufhöre. Er hoffe, dass die Taliban nun anders kalkulierten. Bisher hatten die Islamisten immer die Präsenz der US-Truppen als Grund für Gewalt angeführt. Internationale Truppen hin oder her, sagte Abdullah, «der Weg zur Lösung des Problems ist Frieden». Eine offizielle Reaktion des Präsidentenpalasts stand noch aus.
Manche Afghanen begrüßten den Abzug und sagten, die USA hätten ohnehin nicht ewig bleiben können. Nicht wenige äußerten Angst vor einer möglichen gewaltsamen Machtübernahme durch die Taliban. Die Gewalt im Land ist weiter hoch. Einem am Mittwoch von der UN-Mission in Afghanistan (Unama) veröffentlichten Bericht zufolge nahm die Zahl der zivilen Opfer in dem Konflikt im ersten Quartal deutlich zun.
US-Außenminister Antony Blinken verteidigte unterdessen die Abzugsentscheidung. Man habe gemeinsam mit den Verbündeten die Ziele erreicht, die man sich gesteckt habe, sagte er bei einem Gespräch mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Nun sei es an der Zeit, die Truppen nach Hause zu bringen. Als Hauptziel des Nato-Einsatzes galt, dass Afghanistan nie wieder ein Rückzugsort für Terroristen wird, die Nato-Länder angreifen können.