Technologie

Wie WHO und Industrie die Gefahren des Mobilfunks herunterspielen - und die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel setzen

Lesezeit: 3 min
06.06.2021 09:21  Aktualisiert: 06.06.2021 09:21
DWN-Gastautor Werner Thiede analysiert im Detail, wie ein Kartell aus Industrie und Lobbyisten, unterstützt von der WHO, den Mobilfunk forciert - und damit unser aller Gesundheit aufs Spiel setzt.
Wie WHO und Industrie die Gefahren des Mobilfunks herunterspielen - und die Gesundheit der Bevölkerung aufs Spiel setzen
Er leuchtet wunderschön, der 240,5 Meter hohe "Rheinturm" in Düsseldorf". Doch Mobilfunkstrahlen stellen ein gesundheitliches Problem dar. (Foto: dpa)
Foto: David Young

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Jahrzehntelang herrschte beim Thema Mobilfunk in Politik und Wissenschaft das Dogma vor, die umstrittene Strahlung habe lediglich thermische Effekte und keine biologischen. Sie schade also gesundheitlich nicht, sofern gewisse, wegen der Fixierung auf den Wärmeaspekt großzügig zu definierende Grenzwerte eingehalten würden. Verantwortlich für diese einsei­tige Sichtweise war und ist ein in München eingetragener, nicht regierungsamtli­cher Verein: die Internationale Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP), die laut dem einstigen Europa-Parlamentarier Jean Huss „sehr enge Verbindungen zu den Bran­chen hat, deren technische Neuentwicklungen von möglichst hoch angesetzten, zulässigen Grenzwerten in allen Frequenzbereichen elektromagnetischer Felder profitieren.“ Deren Richtlinien sind von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) förmlich anerkannt und vor über zwei Jahrzehnten auch von der EU übernommen worden und bilden ein scheinbar un­umstößliches Bollwerk, unter dessen Vorgaben immer neuere, schnellere Mobilfunk-Standards eingeführt werden konnten.

Sofern international Studien und ärztliche Appelle auftauchten, die ein krankmachendes Potenzial der elektromagnetischen, künstlich gepulsten Hochfrequenz-Felder (EMF) namhaft machten, wurden

schlagkräftige Gegenargumente oder Gegenstudien ins Feld geführt, die sich als Resultate des wissenschaftlichen Mainstreams darstellten. Diese industriefreundliche Praxis wurde auch noch beibehalten, als 2018 die Ergebnisse der größten Handystrahlen-Studie der Welt, nämlich des regierungsamtlichen National Toxicology Program (NTP) in den USA darauf hindeuteten, dass die bisherigen Richtlinien zum Schutz der menschlichen Gesundheit bei Hochfrequenz-Exposition unzureichend sein dürften. 2019 stellten Harald Schumann und Elisa Simantke vom Journalistenteam Investigate Europe im Berliner „Tages­spiegel“ fest: „Eine wachsende Zahl von Studien deutet darauf hin, dass die für den Mobil­funk genutzte elektromagnetische Hochfrequenzstrahlung die menschliche Gesund­heit schä­digen kann… Die zuständigen Institutionen von der Weltgesundheitsorganisation über die EU-Kommission bis zum deutschen Bundesamt für Strahlenschutz überlassen es jedoch einem kleinen Kreis von Insidern, die Grenzwerte zum Schutz der Bevölkerung festzulegen. Doch dessen Mitglieder blenden viele unbequeme neue Erkenntnisse aus.“

Seit April 2021 aber können biologische Effekte der Mobilfunkstrahlung als wissenschaftlich bewiesen gelten: Im International Journal of Molecular Science legten David Schuermann und Meike Mevissen eine groß angelegte Überblicksstudie für die Schweizer Regierung vor, die unzweideutig aufzeigt, dass Strahlen-Exposition sogar schon im niedrigen Dosisbereich zu biologischen und gesundheitlich bedenklichen Effekten führen kann. Dank diesem vom Schweizer Umweltbundesamt finanzierten Review lässt sich nicht länger

intellektuell redlich bestreiten, dass die nun bald flächendeckend installierte, invasive Mobilfunk­strahlung Ursa­che so mancher körperlicher und nervöser Beschwerden durch die Auslösung von oxida­tivem Zellstress ist. Die umfassende Aufarbeitung von 223 Arbeiten lässt erkennen: „Die Pro­duktion von reaktiven Sauerstoffspezies (ROS), die möglicherweise zu zellulärem oder systemischem oxidativem Stress führen kann, wurde häufig durch EMF-Exposition in Tieren und Zellen beeinflusst.“ Deutlich zeichnet sich im Gesamtüberblick unge­achtet der einen oder anderen schwächeren Studie als klarer Trend ab, dass die umstrittene Strahlung tatsächlich weit unterhalb der geltenden Grenzwerte „zu Veränderungen im zellulä­ren oxidativen Gleich­gewicht führen kann.“ Wie die Autoren erklären, sind nament­lich Personen mit Vorerkran­kungen anfällig für gesundheitliche Auswirkungen.

Dieses Resultat lässt übrigens auch das Phänomen der sogenannten Elektrhypersensibilität (EHS), unter dem bis zu zehn Prozent der Bevölkerung leiden, in anderem Licht erscheinen. Oft als „Aluhut-Träger“ diskriminiert und damit doppelt gestraft, erfahren Betroffene offenbar oxidativen Stress in ihren Körperzellen; ihre Beschwerden lassen regelmäßig spürbar nach oder verschwinden, wenn die EMF-Exposition verlassen oder durch Abschirmung aufgeho­ben wird. Dass die Ursache für EHS lediglich psychischer Natur sei, ist eine bislang ver­breitete, reduktionistische Auffassung, die sich künftig verbietet.

Es ist also höchste Zeit, dass Politik, Industrie, Wirtschaft, Justiz, Behörden und auch die Kirchen das gesundheitsschädigende Potenzial von Mobilfunkstrahlung anerkennen und gebührend berücksichtigen. Hier ist ein folgenreiches Umdenken in der Gesellschaft gefor­dert, das wegen der grundrechtlich geforderten körperlichen Unversehrtheit Vorrang vor anderweitigen Rücksichtnahmen hat. Insbesondere Mobilfunk-Anlagen auf Kirchentürmen erweisen sich als keineswegs segensreiche Installationen.

Dr. theol. habil. Werner Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Er­lan­gen-Nürnberg, Pfarrer i.R. und Publizist (www.werner-thiede.de). Zuletzt erschien von ihm „Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage“ (2. Auflage, Berlin 2022); im Druck befindet sich das Büchlein „Himmlisch wohnen. Auferstanden zu neuem Leben“ (Leipzig 2023).


Mehr zum Thema:  

DWN
Politik
Politik Iranisches Atomprogramm: Teheran will mehr Uran anreichern
22.11.2024

Droht der Iran dem Westen mit neuen Atomwaffen? Die IAEA warnt, Teheran wehrt sich – und eskaliert die Urananreicherung. Jetzt könnten...

DWN
Politik
Politik Dauerbaustelle Autobahn: Sie stehen hier im Stau, weil sich Verkehrsminister Volker Wissing verrechnet hat
22.11.2024

Wenn man im Sommer entspannt durch Frankreich oder Italien über die Autobahnen gleitet, fragt man sich jedesmal aufs Neue: Warum müssen...

DWN
Politik
Politik Krankenhausreform kommt: Lauterbachs Reform passiert den Bundesrat
22.11.2024

Karl Lauterbach freut sich: Der Bundesrat hat das sogenannte "Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz" gebilligt, das Herzensprojekt des...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Rezession droht im Winter, Euro ist im Sinkflug: Was sind die Gründe?
22.11.2024

Stagnation der deutschen Wirtschaft, ein schwächelnder Euro, miese Stimmung in den Unternehmen: Ökonomen befürchten eine...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoins-Prognose: Kryptowährung mit Rekordhoch nahe 100.000 Dollar - wie geht's weiter?
22.11.2024

Ein Bitcoin-Rekordhoch nach dem anderen - am Freitagmorgen kletterte der Bitcoin-Kurs erstmals über 99.000 US-Dollar. Seit dem Sieg von...

DWN
Panorama
Panorama Merkel-Memoiren „Freiheit“: Wie die Ex-Kanzlerin ihre politischen Erinnerungen schönschreibt
22.11.2024

Biden geht, Trump kommt! Wer auf Scholz folgt, ist zwar noch unklar. Dafür steht das Polit-Comeback des Jahres auf der Tagesordnung: Ab...

DWN
Politik
Politik Krankenhausreform: Entscheidung über Lauterbachs hoch umstrittenes Projekt heute im Bundesrat
22.11.2024

Krankenhausreform: Kommt sie jetzt doch noch? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) steht mit seinem hochumstrittenen Projekt vor...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Insolvenz von HH2E: Rückschlag für Habecks Energiewende - Wasserstoffprojekte in Sachsen in Gefahr
22.11.2024

Der Wasserstoff-Spezialist HH2E hat Insolvenz angemeldet, die Finanzierung durch ein britisches Private-Equity-Unternehmen ist gestoppt....