Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Man hört immer wieder, dass Frust und Unzufriedenheit bei der Berliner Polizei besonders stark ausgeprägt seien. Stimmt das?
Benjamin Jendro: Zunächst einmal möchte ich betonen, dass die Moral, trotz aller widrigen Umstände, ausgesprochen hoch ist. Auch wenn sich immer wieder Kollegen in andere Bundesländer beziehungsweise zum Bund versetzen lassen oder sogar den Dienst quittieren, kenne ich wenige, die sich nicht noch einmal für die Polizei entscheiden würden. Sie sind bei der Berufswahl einem Ethos gefolgt, nämlich Menschen zu helfen und Kriminalität zu bekämpfen, und dieses Bestreben ist inhärenter Teil ihrer Persönlichkeit.
Aber natürlich werden sie durch die Rahmenbedingungen, unter denen sie ihren Dienst versehen, nicht immer in dieser Entscheidung bestärkt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie das erläutern?
Benjamin Jendro: Natürlich. Prinzipiell gibt es zwei Gründe dafür.
Zum einen ist die Einsatzbelastung ungemein hoch, höher als in allen anderen deutschen Bundesländern, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht.
Quantitativ heißt, dass die Kollegen extrem viel arbeiten – sie schleppen im Durchschnitt pro Mann, pro Frau 80 Überstunden mit sich herum, also zehn ganze Arbeitstage. Insgesamt sind es mehr als zwei Millionen Überstunden. Das allein mag im Vergleich zur freien Wirtschaft nicht viel sein, aber dahinter verbergen sich auch kurzfristige Alarmierungen. Sie erfahren beispielsweise abends um 20 Uhr, dass Sie am nächsten Tag um 4 Uhr morgens zum Dienst antreten dürfen. Das macht ein Sozialleben so gut wie unmöglich.
Qualitativ bedeutet, dass die Bandbreite der Einsätze äußerst groß ist. In Berlin finden mehr Demos statt als irgendwo sonst in Deutschland; dazu kommt, dass es zwei Fußball-Bundesligisten gibt. Als Touristenstadt haben wir überdurchschnittlich viele Taschendiebstähle, das Problem mit der Drogenkriminalität ist virulent, und das ist nur ein Teil der organisierten Kriminalität. Prinzipiell kann man sagen, dass kaum eine Ausprägung von Kriminalität existiert, die man in unserer Stadt nicht findet. Mir hat mal jemand gesagt, er kenne eine Art von Delikt, die es hier nicht gäbe: Viehdiebstahl. Da habe ich ihn gefragt: Und wo haben die Leute, die am Wochenende im Park grillen, wohl die Lämmer her?
Der zweite Grund ist die besondere politische Situation, die man in Berlin vorfindet …
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Da muss ich einharken. Die Polizei setzt doch das Gesetz durch, und das ist festgelegt durchs Strafgesetzbuch. Und letzteres gilt bundesweit – was soll in Berlin also anders sein als in den übrigen Teilen Deutschlands?
Benjamin Jendro: Glauben Sie mir, hier ist eine ganze Menge anders. Die Politik setzt die Rahmenbedingungen, und die Politik in Berlin ist nun mal grundsätzlich linksgerichtet, was an sich, gerade mit Blick auf unsere Historie, ja gut ist. Daraus ergibt sich aber, dass das Misstrauen gegenüber staatlichem Handeln in unserer Stadt stärker ausgeprägt ist als anderenorts. Ich möchte das anhand einer Reihe von konkreten Beispielen aufzeigen.
Wenn sich beispielsweise der Senat mit einem Einsatz befasst, der in den Augen einiger seiner Mitglieder der Aufbereitung bedarf, dann heißt es ganz offiziell: „Untersuchung des polizeilichen Fehlverhaltens bei … beispielsweise der Demo XY.“ Das bedeutet, es wird von vornherein davon ausgegangen, dass die Polizei etwas falsch gemacht hat.
Weiterhin gibt es zwei Gesetze, die in erster Linie von Linken und Grünen auf den Weg gebracht wurden, die wir äußerst kritisch sehen.
Zum einen das Versammlungsfreiheitsgesetz, das die polizeiliche Arbeit massiv erschwert. Es kippt das bis vor kurzem noch allgemeingültige Vermummungsverbot, indem es vorsieht, dass die Versammlungsbehörde jetzt vor jeder Demonstration jedwede verbotene Vermummung explizit benennen muss, was natürlich in der Realität nicht möglich ist. Wenn sich also alle Demo-Teilnehmer eine Faschings-Maske aufsetzen und die – was ja wahrscheinlich ist – nicht ausdrücklich untersagt wurde, dann hat die Polizei keine Handhabe. Die Grünen haben hierfür übrigens folgende Begründung geliefert: Es könne doch nicht sein, dass sich jemand auf einer Agrar-Demo nicht als Mohrrübe verkleiden darf. So eine Argumentation ist perfide, ich kenne niemanden, der wegen eines Möhrenkostüms von der Polizei zu Boden gedrückt wurde.
Aber die Versammlungsbehörde muss nicht nur die verbotenen Vermummungsarten explizit benennen, sondern auch die auf der Demo verbotenen Gegenstände. Das ist natürlich wieder absolut unmöglich – und führt dazu, dass man beispielsweise eine Wurfkeule aus Borneo mitbringen darf. Denn dass die von der Versammlungsbehörde im Vorfeld untersagt wurde, ist ziemlich unwahrscheinlich.
Und schließlich kann jetzt jeder, und ich betone jeder, eine Demo anmelden. Das heißt, man kann ein dreijähriges Kind vorschicken oder jemanden, der auf Grönland lebt oder auf Madagaskar. Das erschwert die Einsätze ungemein. Es gibt ein Deeskalationsgebot für die Polizei, aber das wesentliche Mittel dazu ist Kommunikation. Wenn ich keinen Ansprechpartner habe, mit dem ich kommunizieren kann, bleiben bei Fehlentwicklungen auf einer Demo relativ wenige Optionen.
Jetzt zum Antidiskriminierungsgesetz. Es stellt eine Umkehr der Beweislast dar, weil nicht der Beschwerdeführer beweisen muss, dass er diskriminiert wurde, sondern der Beamte, dass er nicht diskriminiert hat. Für die Polizei - und genau genommen den gesamten öffentlichen Dienst - bedeutet das Gesetz ein Mehr an bürokratischem Aufwand, weil man vorbeugend Einsätze genauestens dokumentiert – nur für den Fall, dass eine Beschwerde erfolgt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ich kann Ihre Vorbehalte nachvollziehen. Aber neigt die Polizei nicht auch dazu, sehr dünnhäutig zu sein und sich reflexartig jedwede Kritik – auch berechtigte – zu verbitten?
Benjamin Jendro: Natürlich macht auch die Polizei Fehler, das ist so, es sind Menschen, die diesen Job machen. Die Polizei ist zu weiten Teilen ein Spiegelbild der Gesellschaft, in positiver, aber auch in negativer Hinsicht und mit allen gesellschaftlichen Problemen.
Das heißt, es gibt auch unter Polizisten Drogenmissbrauch, zu hohen Alkoholkonsum, Straftaten, rechtsextremes Gedankengut. Das muss selbstverständlich bekämpft werden, denn wir müssen ein Stückweit besser als die Gesellschaft sein, weil es in der Polizei keinen Platz für Extremisten und andere Kriminelle gibt. Genau die aber werden auch intern bekämpft, was von den Kritikern der Polizei nur allzu gerne übersehen wird. Und wenn ich Kritiker sage, dann meine ich Leute, die der Polizei grundsätzlich feindlich gegenüberstehen. Das sind Leute, die kein Interesse an einem sachlichen Diskurs haben, sondern vor allem Ideologie-getrieben sind. Das erleben wir bei einzelnen Debatten im Innenausschuss immer wieder aufs Neue. In Berlin gibt es überdurchschnittlich viele Politiker, die noch immer den Geist von 68 atmen, beziehungsweise die Erfahrungen mit der Stasi gemacht haben und zwischen dem Staatssicherheitsdienst der DDR und der Berliner Polizei von heute nicht differenzieren können oder wollen. Ebenso wenig wie zwischen der Berliner Polizei im Jahr 2021 und der Gestapo. Dabei hat sich unglaublich viel verändert. Wir haben heute eine vielfältige Bürgerpolizei, die selbst mit der Polizei der späten 80er nicht mehr zu vergleichen ist, weil man dazugelernt hat.
Es gibt darüber hinaus leider auch Politiker, die bestimmten Auswüchsen nicht ablehnend gegenüberstehen, ja, die sie vielleicht sogar begrüßen. Nehmen wir beispielsweise die Rigaer 94 (ein besetztes Haus in der Rigaer Straße 94 im Ortsteil Friedrichshain, dessen Bewohner immer wieder durch Straftaten auffallen, und das als Stützpunkt Linksradikaler gilt – Anm. d. Red.). Aus deren Umfeld erfolgen immer wieder Aufrufe, Polizisten zu töten oder zumindest schwer zu verletzen. Eine einzelne Streifenwagen-Besatzung würde niemals in das Haus hinein gehen, aus Eigenschutz vermutlich selbst nicht bei Gefahr im Verzug – sie würde immer erst auf Unterstützung warten. Können Sie sich vorstellen, dass so ein Haus noch nicht geräumt wäre, wenn es sich um ein Nazi-Projekt handeln würde?
In diesem Zusammenhang möchte ich auf den Slogan hinweisen, den man immer wieder auf Demos zu hören bekommt: „Ganz Berlin hasst die Polizei“. Das ist natürlich vollkommener Quatsch. Der Großteil der Berliner Bürger hat kein Problem mit der Polizei, im Gegenteil.
Mir ist auch unverständlich, warum die Polizei immer zum Feindbild hochstilisiert wird. Es gibt auch Polizisten, die lieber mit dem Rad als mit dem Auto fahren, und von den hohen Mieten in der Stadt sind sie genauso betroffen wie andere Bürger auch. Es ist auch nicht so, dass die Polizei konservativen Politikern grundsätzlich positiver gegenüberstehen als solchen, die in der Mitte stehen oder sogar links der Mitte. Mit dem amtierenden Innensenator Andreas Geisel, einem Sozialdemokraten, konnten wir wesentlich mehr erreichen und verbessern als mit seinem Vorgänger Frank Henkel, der der CDU angehörte – also einer Partei, für die die innere Sicherheit Teil ihrer politischen DNA ist.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wir haben jetzt viel über Demonstrationen gesprochen, zumeist über solche, die vom linken politischen Spektrum veranstaltet werden. Können Sie uns etwas über die Erfahrungen der Polizei mit den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen berichten?
Benjamin Jendro: Für die Polizei war das eine ganz neue Erfahrung. Bei linksextremen Demos, beispielsweise der 18-Uhr-Demo, die jedes Jahr am 1. Mai in Berlin stattfindet, weiß man ja in etwa, was passieren wird. Beispielsweise ist klar, dass die Hauptgefahr von den circa 500 bis 1.000 Mitgliedern des Schwarzen Blocks ausgeht, während der Rest der Demonstranten weitestgehend friedlich bleibt.
Bei den Demos in Zusammenhang mit Corona konnte man auf solche Erfahrungen nicht zurückgreifen. Was die Einsätze zusätzlich erschwerte, war die Tatsache, dass ein so breites Sammelsurium an unterschiedlichsten Gruppierungen vertreten war, vom Selbständigen, der sich um seine Existenz sorgt, bis zum beinharten Extremisten, vom beschwipsten Esoteriker bis zum Reichsbürger – das war teilweise richtig surreal. Zumal auch diejenigen, die Widerstand gegen polizeiliche Maßnahmen leisteten, ganz unterschiedlichen Gruppen angehörten. Erwähnen möchte ich noch, dass sich unter denjenigen, die ganz vorne standen, auch Senioren und Kinder befanden. Letztere wurden regelrecht als Schutzschilde missbraucht.
Deutlich wurde auch, dass es zu Inszenierungen kam, das heißt, es wurde polizeiliches Eingreifen provoziert, um dieses zu filmen und die Bilder anschließend im Internet zu verbreiten. Da war beziehungsweise ist zu sehen, wie mehrere Beamte gegen einen Rentner vorgehen – das, was die polizeiliche Aktion auslöste, wird in dem Video jedoch selbstverständlich nicht gezeigt.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wenden wir uns einem anderen Thema zu: der organisierten Kriminalität, die in Berlin zu großen Teilen von sogenannten Familien-Clans beherrscht wird, die aus dem türkischen oder arabischen Kulturkreis stammen. Oftmals ertönt der Vorwurf, die Politik sei auf diesem Auge blind und werfe der Polizei bei der Bekämpfung dieser Strukturen Knüppel zwischen die Beine. Stimmt das?
Benjamin Jendro: Sicherlich ist das Problem von der Politik lange Zeit vernachlässigt worden, nicht zuletzt aus Angst, sich dem Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit auszusetzen. Aber mittlerweile hat ein Umdenken stattgefunden. Notwendig dafür war, dass ein stadtbekannter Intensivstraftäter an einem Sonntagnachmittag im September 2018 am Tempelhofer Feld hingerichtet wurde (ein beliebtes Erholungsgebiet und Freizeit-Gelände in Berlin – Anm. d. Red.). Er wurde am helllichten Tag vor den Augen seiner Familie und vielen Parkbesuchern, darunter Eis essenden Kindern, erschossen. Bis dahin herrschte in gewisser Weise die Meinung vor, dass die Clans sich zwar gegenseitig bekämpfen, Unbeteiligte von diesen Aktivitäten aber nicht berührt werden beziehungsweise gar nichts von ihnen mitbekommen, außer aus der Presse – die Tat bewies, dass dem nicht so ist.
Mittlerweile hat Innensenator Geisel jedoch ganz klar gesagt, dass die Clan-Kriminalität mit aller Macht bekämpft werden muss – die Polizei hat nicht den Eindruck, sie habe dabei zu wenig Rückendeckung, also genau das, was Jahrzehnte gefehlt hat. Jetzt wird sie nicht mehr allein gelassen, das Problem wird behördenübergreifend angegangen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Im internationalen Maßstab ist die deutsche Polizei eher zurückhaltend, vor allem wenn man sie mit fast schon militärisch organisierten Polizeikorps vergleicht, wie man sie beispielsweise in Südamerika findet. Aber auch in vielen westlichen Ländern agiert die Polizei kompromissloser, beispielsweise in den USA. Wünschen Sie sich manchmal ein bisschen mehr amerikanische Verhältnisse bei der deutschen Polizei?
Benjamin Jendro: Nein, das tun wir nicht, unter keinen Umständen. Wir möchten weiter eine bürgerfreundliche Polizei haben, wollen keine Angst erzeugen. Die Polizei, dein Freund und Helfer – dieses Motto klingt zwar altmodisch, ist aber dennoch eine passende Beschreibung unserer Zielsetzung sowie des Bildes, für das wir als GdP stehen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ganz zu Anfang unseres Gesprächs sprachen Sie von schwierigen Rahmenbedingungen, unter denen die Berliner Polizei agiert. Was sind die dringendst notwendigen Maßnahmen?
Benjamin Jendro: Wir benötigen mehr Personal – jahrelang wurden im Rahmen der Sparmaßnahmen, die die Politik der Stadt verordnet hatte, keine Neueinstellungen vorgenommen. Derzeit verfügen wir über die gleiche Personalstärke wie vor 20 Jahren – damals hatte die Stadt aber fast 400.000 Einwohner weniger. Das zusätzliche Personal würde der Polizei auch ermöglichen, nicht mehr nur zu verwalten, sondern auch zu gestalten. Das heißt, wird würden wieder mehr Zeit haben, nach Einbrüchen zu ermitteln, Schulwegsicherung zu betreiben, Fußstreife zu laufen – ein Beamter, der Präsenz zeigt, den die Bürger direkt ansprechen können, trägt zum Sicherheitsgefühl und tatsächlich auch zur Sicherheit bei.
Darüber hinaus muss zum Beispiel der finale Rettungsschuss endlich geregelt werden – so wie es bereits in den anderen Bundesländern passiert ist. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der jemand mit einen Sprengstoffgürtel um den Leib durch die dicht bevölkerte Innenstadt läuft und „Allahu akbar“ ruft. Soll der Kollege jetzt schießen oder nicht? Wenn er die Frage mit „ja“ beantwortet und sich hinterher herausstellt, dass es sich um eine Attrappe handelte und der vermeintliche Terrorist ein psychisch Kranker war, sieht er (der Kollege) sich Konsequenzen gegenüber – wird vielleicht noch Jahre später von den Hinterbliebenen des Toten auf Schadensersatz verklagt.
Außerdem würde es auch nicht schaden, wenn wir grundsätzlich eine veränderte Sicht auf polizeiliches Handeln hätten. Warum heißt es nach dem Schusswaffengebrauch sinngemäß fast immer „Polizei schießt auf Person“. Warum heißt es nicht „Bewaffneter Randalierer sorgt für Schusswaffengebrauch der Polizei“?
Benjamin Jendro ist Pressesprecher der „Gewerkschaft der Polizei“ (GdP), Landesbezirk Berlin. Die GdP Berlin hat rund 13.000 Mitglieder, zu denen neben Polizisten auch Feuerwehrleute sowie Angehörige einer Reihe von kleineren öffentlichen Einrichtungen (zum Beispiel die Ordnungsämter) zählen. Insgesamt tun in Berlin rund 26.000 Polizisten Dienst, von denen circa 40 Prozent Mitglied der GdP sind.