Politik

Merkel fordert neue Durchgriffsrechte für EU-Kommissare

Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert neue Durchgriffsrechte für EU-Kommissare in mehreren Bereichen. Die Pandemie habe gezeigt, dass ein „längerer und tiefergehender“ Prozess angestoßen werden müsse.
24.06.2021 12:08
Aktualisiert: 24.06.2021 12:08
Lesezeit: 4 min
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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat in einer Regierungserklärung eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der EU-Organe angemahnt. Im ersten Schock der Corona-Pandemie hätten nationale Anstrengungen das Handeln bestimmt, bevor europäisch abgestimmt vorgegangen worden sei, sagte die Kanzlerin am Donnerstag im Bundestag.

„Wir wissen heute, dass wir das besser können und das auch in Zukunft besser machen werden“, sagte sie. „Deshalb sehe ich insbesondere in der Krisenreaktion, im Gesundheitsschutz, bei Schengen und im Binnenmarkt die Bereiche, in denen wir über eine Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit diskutieren müssen.“ Es sei wichtig, dass das Gespräch darüber beim Europäischen Rat begonnen werde.

Was Merkel nicht sagte: In einigen Bereichen war es gerade die Verlagerung der Zuständigkeiten auf die EU-Ebene, die zu Schwierigkeiten in der Pandemie geführt hatte. So versuchte man vergangenes Jahr anfangs, alle Impfstoffe für die EU-Mitgliedsstaaten zentral über die EU einzukaufen und zu verteilen, was scheiterte. Im Gegenteil - Länder wie China und Russland waren viel schneller zur Stelle, um in Bedrängnis geratenen EU-Staaten mit Impf-Lieferungen zu helfen.

Erst Anfang eines tiefergehenden Prozesses?

„Die Koordinierung der ebenso einschneidenden wie im Wortsinne notwendigen freizügigkeitsbeschränkenden Maßnahmen kam viel zu zögerlich in Gang. Das muss im Falle eines Falles in Zukunft schneller gehen“, forderte Merkel. Auch jetzt noch gelinge es nicht ausreichend, Einreisen aus Drittstaaten zu koordinieren, insbesondere aus Virusvariantengebieten.

„Solange die Pandemie nicht überwunden ist, kann eine Debatte über Lehren aus der Krise nur ein erster Schritt eines längeren und tiefergehenden Prozesses sein“, sagte Merkel. „Aber dieser Prozess ist wichtig, denn die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu werden darüber entscheiden, wie die Europäische Union künftige Herausforderungen dieser Größenordnung meistern wird.“

Mehrere Bruchlinien durchziehen die EU

Corona, Russland, Ungarn, Polen, Türkei, Migration: Beim heute beginnenden EU-Gipfel suchen Merkel und ihre Kollegen in zentralen politischen Fragen eine gemeinsame Linie. Überschattet wird das zweitägige Treffen nicht nur vom Streit mit Ungarn über ein neues Gesetz zur Beschränkung von Informationen über sexuelle Minderheiten. Etwas mehr als die Hälfte der 27 EU-Staaten halten es für diskriminierend und verlangen Gegenmaßnahmen - auch Deutschland - die anderen Staaten wollen keine Strafmaßnahmen gegen die ungarische Regierung.

UNGARNS GESETZ: Der vorige Woche verabschiedete Entwurf sieht ein Verbot von Publikationen vor, die Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 18 Jahren zugänglich sind und in denen Sexualitätsformen dargestellt werden, die von der heterosexuellen abweicht. Darüber hinaus soll Werbung verboten werden, in der Homosexuelle oder Transsexuelle als Teil des normalen gesellschaftlichen Lebens erscheinen. Die Kritiker verlangen rechtliche Schritte der EU-Kommission gegen Ungarn. Ministerpräsident Viktor Orban weist alle Vorwürfe der Diskriminierung zurück. Beim Gipfel sollen sie sich „Auge in Auge“ aussprechen, wie ein EU-Vertreter sagte. Ergebnis ungewiss.

CORONA: Die Pandemielage entwickelt sich fast überall günstig, immer mehr Europäer sind geimpft. Das digitale Covid-Zertifikat für Geimpfte, Genesene und Getestete ist ab 1. Juli EU-weit am Start. Merkel fordert unter anderem eine bessere Abstimmung im Umgang mit Reisenden aus Mutationsgebieten. Ein einheitliches Vorgehen sei noch nicht ganz gelungen, hatte Merkel am Dienstag gesagt. Zudem wollen die 27 Staaten beraten, wie sie sich schon jetzt auf künftige Pandemien besser vorbereiten können.

RUSSLAND: Muss die EU ihre Strategie im Umgang mit Russland ändern? Für Donnerstagabend ist eine Grundsatzdebatte vorgesehen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat eine dreigleisige Strategie vorgeschlagen: Russland bei Rechtsverstößen in die Schranken weisen; die EU widerstandsfähiger machen; Zusammenarbeit da ausloten, wo es möglich erscheint, etwa bei Klimapolitik oder internationaler Terrorbekämpfung. Deutschland und Frankreich starteten kurz vor dem Gipfel eine eigene Initiative zur Annäherung. Unter anderem brachten sie eine Rückkehr zu Spitzentreffen der EU und Russlands ins Gespräch, die es seit Beginn der Krim-Krise 2014 nicht mehr gibt.

TÜRKEI: Die EU will die Regierung in Ankara zu einer weniger konfrontativen Politik im MIttelmeer und zur Einhaltung des Flüchtlingspakts von 2016 bewegen. Deshalb stellt sie der Türkei weitere Unterstützung zur Versorgung syrischer Flüchtlinge und Gespräche über den Ausbau der Zollunion in Aussicht - und zementiert dadurch die Abhängigkeit von der türkischen Regierung. Die EU-Kommission soll demnächst einen konkreten Vorschlag für neue Flüchtlingshilfen vorlegen. Ein erster Entwurf sieht vor, der Türkei bis 2024 weitere 3,5 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt zukommen zu lassen. Umstritten ist unter den EU-Staaten, wie schnell es bei den Gesprächen über einen möglichen Ausbau der Zollunion vorangehen soll.

MIGRATION: Der italienische Ministerpräsident Mario Draghi will Länder wie Deutschland und Frankreich dazu bewegen, seinem Land einen Teil der über das Mittelmeer ankommenden Migranten abzunehmen. Großes Entgegenkommen kann er allerdings nicht erwarten. Insgesamt geht in der Asyl- und Migrationspolitik innerhalb der EU so gut wie nichts voran. Deshalb wendet man sich erneut den äußeren Aspekten zu: Im Entwurf der Gipfelerklärung ist die Rede von Vereinbarungen mit Herkunfts- und Transitländern. Ziel ist, Menschen von der oft gefährlichen Flucht nach Europa abzuhalten. Zugleich gibt es eine konkrete neue Sorge: Der Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan könnte die Lage dort noch unsicherer machen und noch mehr Menschen in die Flucht nach Europa treiben.

POLEN: Die EU-Kommission drängt Polen, den Vorrang von EU-Recht vor nationalen Vorschriften anzuerkennen - und trifft damit auf heftigen Widerspruch in Warschau. „Die polnische Verfassung ist dem EU-Recht übergeordnet“, sagte Regierungschef Mateusz Morawiecki Anfang Juni. Damit stellte er sich offen gegen Brüssel.

EU-Justizkommissar Didier Reynders hatte zuvor an Polens Europaminister Konrad Szymanski geschrieben. Konkret forderte Reynders, die Regierung solle ihre Vorlage beim polnischen Verfassungsgericht vom 29. März zurückziehen. Das Gericht soll klären, welches Recht vorgeht. Morawiecki erteilte Reynders' Anliegen eine Absage: Dies werde er nicht tun, sagte der Regierungschef.

Morawiecki habe das polnische Verfassungsgericht gebeten, ein Urteil des EuGH vom 2. März 2021 zu überprüfen, heißt es in dem Schreiben des EU-Justizkommissars, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. In dem Urteil hatten die obersten EU-Richter festgestellt, dass EU-Recht Mitgliedsstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im nationalen Recht außer Acht zu lassen, selbst wenn es sich um Verfassungsrecht handelt.

Die Vorlage Morawieckis an das polnische Verfassungsgericht „scheint fundamentale Prinzipien des EU-Rechts in Frage zu stellen, insbesondere das Prinzip, dass EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht hat und dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle nationalen Gerichte und andere staatliche Stellen in Mitgliedsstaaten bindend sind“, schrieb Reynders. Die Vorlage verstoße auch gegen das Prinzip der treuen Zusammenarbeit in der EU. Reynders forderte eine Antwort Szymanskis binnen eines Monats. Man behalte sich vor, nötigenfalls die in den EU-Verträgen vorgesehenen Schritte einzuleiten, heißt es weiter.

Die EU-Kommission liegt seit Jahren mit der national-konservativen Regierung in Polen im Streit wegen des dort eingeleiteten Umbaus der Justiz. Unter anderem hat die Brüsseler Behörde Zweifel an der Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts.

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