Der Virologe Klaus Stöhr sieht derzeit keine dramatischen Auswirkungen der Delta-Variante auf die Corona-Pandemie. „Zum Glück sehen wir jetzt, und das sind die Zahlen aus England, dass sich die Delta-Variante höchstwahrscheinlich etwas leichter übertragen lässt, aber die Erkrankungsschwere scheint vierfach geringer zu sein“, sagt Stöhr dem Sender MDR. Der Anteil der Delta-Variante an den Infektionen in Deutschland verdoppele sich etwa alle zehn Tage. Trotzdem gebe es einen „Sinkflug der Zahlen“.
Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts (RKI) wächst in Deutschland der Anteil der Delta-Variante deutlich - bei insgesamt weiter rückläufiger Sieben-Tage-Inzidenz. Er verdoppelte sich in einer Stichprobe vergangene Woche im Vergleich zur Vorwoche fast auf 15,1 Prozent, wie aus einem RKI-Bericht vom vergangenen Mittwochabend hervorgeht. Die Angabe bezieht sich auf die Woche vom 7. bis 13. Juni.
Zahlen aus England zeigen sehr geringe Mortalität
Die von Stöhr angesprochenen Zahlen aus England zeigen tatsächlich eine sehr geringe Sterblichkeitsrate bei der Delta-Variante. Diese liegt demnach durchschnittlich bei 0,1 Prozent - gegenüber 2,7 Prozent bei der Eta-Variante, 1,9 Prozent bei der Alpha-Variante, 1,4 Prozent bei der Beta-Variante, 0,2 Prozent bei der Kappa-Variante und 0 Prozent bei der Gamma-Variante.
Die Delta-Variante (lila Farbe) macht seit Mitte Mai etwa 75 Prozent aller Ansteckungen in England aus - trotzdem, oder eben gerade deswegen, nimmt die Zahl der Krankenhauseinweisungen deutlich ab:
Stöhr fordert breitere wissenschaftliche Beratung der Politiker
Stöhr fordert eine breitere wissenschaftliche Beratung im Vorfeld von politischen Entscheidungen über die Pandemiebekämpfung. „Das sollten interdisziplinäre Teams sein, mit konträren Positionen und alternativen Herangehensweisen“, sagte Stöhr dem Nachrichtenmagazin Spiegel. Auch Gesundheitsökonomen, Soziologen, Psychologen, Infektiologen, Ethiker und andere Wissenschaftler sollten zu Wort kommen.
Aus dieser Vielzahl der Perspektiven sollte die Politik Entscheidungen ableiten. Stöhr hat gemeinsam mit Fachleuten verschiedener Disziplinen ein Positionspapier geschrieben, das dem Spiegel vorliegt. Die Experten plädieren darin für einen Stufenplan, der Deutschland „ohne stetig neue Grundsatzdiskussionen bis zum Pandemieende bringt“. Er solle mit einer „Positivagenda“ gegen die Pandemiemüdigkeit der Bevölkerung anarbeiten. Zu den Erfolgskriterien sollten zählen: der R-Wert-Trend, eine risikogruppen-spezifische Inzidenz, die Belastung des Gesundheitssystems und die Belegung der Intensivstationen.
Intensivstationen leeren sich
Derweil werden auf den Covid-Intensivstationen der deutschen Kliniken fast nur noch Langzeitpatienten behandelt, Neueinweisungen gibt es landesweit so gut wie keine mehr. "Die allermeisten der rund 600 Covid-Patienten auf den Intensivstationen sind Langzeitpatienten", sagt Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) den Zeitungen der Funke Mediengruppe. In "Einzelfällen" komme es auch noch zu Neuaufnahmen, doch viele der Patienten in den Krankenhäusern seien bereits seit Monaten in intensivmedizinischer Behandlung. Die meisten Covid-Intensivpatienten seien zwischen 50 und 70 Jahre alt.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn geht davon aus, dass die Delta-Variante des Coronavirus in Deutschland noch im Juli 70 bis 80 Prozent der Neuansteckungen ausmacht. Daher sei es wichtig, das Impftempo aufrechtzuerhalten, sagt Spahn in Berlin. Bislang seien in Deutschland zwei Drittel aller Erwachsenen mindestens einmal geimpft. Generell hätten mittlerweile 55 Prozent eine Erstimpfung erhalten, doppelt geimpft seien 37,3 Prozent. Spahn betont, nur eine vollständige Impfung schütze vor Delta.